Die Meinungsfreiheit ist die message, nicht die Meinung
von Kusanowsky
Die ZEIT hatte in der Ausgabe vom 16. Mai 2013 auf Seite 2 und 3 einen längeren Artikel über die Debattenkultur des Internets veröffentlicht. Diesen Artikel hatte ich zum Anlass für eine ausführliche Replik genommen, die allerdings bei der ZEIT nicht erschienen ist.
Deshalb will ich diese Replik hier zum Lesen anbieten:
Die Meinungsfreiheit ist die Message, nicht die Meinung. Eine Replik von Klaus Kusanowsky zum Zeit-Artikel „Die große Vergiftung“ vom 16. Mai 2013
https://differentia.files.wordpress.com/2013/05/die-meinungsfreiheit-ist-die-message.pdf
Mir ist unklar, warum du dich so mit der Überlegung beschäftigst, ob das Internet wieder einmal Nichts-Neues-unter-der-Sonne sei oder nicht. Das ist ein Fragegegenstand, der sich mE vernünftig schwer klären lässt, weil ja für „neu“ die unterschiedlichsten Bestimmungsgründe festgelegt werden können. Und selbst wenn das Netz in vieler Hinsicht un-neu wäre, könnte es immer noch viel Neues bewirken.
Interessant finde ich den Gedanken, dass die Utopie der Freien Meinungsäußerung für alle sich endlich erfüllt hat oder auf dem Weg zu dieser Erfüllung dorthin sein könnte. Das scheint so zu sein, allerdings unterlag die Freie Meinung auch bisher schon diversen Beschränkungen – nicht einmal Gläubige dürfen im Schutze der Kirchenkanzel so ohne Weiteres jeden Unsinn verzapfen. ( http://is.gd/rQ79QU ) Offline ließ sich das „Schmähreden“ relativ gut in der _politischen_ Wirkung eingrenzen, weil die wenigen Fälle sich gut verfolgen und bestrafen ließen.
Online schlägt mal wieder Quantität in (eine neue) Qualität um: Der Schmähreden sind viel zu viele, so dass man darüber im Großen und Ganzen nur die Schulter zucken kann und eigentlich nur noch die Schmähredner zur Rede gestellt werden, die prominent sind: Die Gegner eines bestallten Politikers können z.B. sich massenhaft in ganz anderem Ton äußern, als dieser selbst. Wie wehrlos das machen kan, hat man z.B. bei Wulff gesehen, der nicht einmal den Springer Verlag laut verfluchen durfte. Man kann zwar aus prinzipiellen Gründen für die Gleichberechtigung von Volksverhetzung und Mobbing mit Friedensliebe und sachlicher Information eintreten, aber ob solche Gleichberechtigung nutzenstiftend ist?
Die andere Frage: Ist das gigantische Meinungschaos „überflüssig“, weil wirkungslos? Ich vermute, das Überflüssige ist nie überflüssig. Und so wie das Belanglose mitnichten immer belanglos ist, so ist auch das wiederholungsreiche Multiplizieren von mehr oder weniger gleichförmigen Meinungen ein Modus der gesellschaftlichen Verständigung, der keineswegs überflüssig ist. Das strömende Gequassel, der Meinungsregen, ist genau das Medium, in dem sich die Gesellschaft „überlegt“ was sie eigentlich glauben, meinen, hoffen und für wahrhalten will. Eine Art informeller Abstimmungsprozess. Das Internet mit seiner Unzahl von Meinungsäußerungen zu allem und jedem, zur Lehrern und Ärzten, zu Philosophie und Politik, zu Zeitungsartikeln und zu dem, was überhaupt Sache ist, ermöglicht den Menschen zum erstenmal, sehr schnell und massenhaft wahrzunehmen, was andere Menschen gerade beschäftigt und denken. Meine Vermutung ist, dass sich dadurch öffentliche Meinungsharmonisierungsprozesse manchmal abstrus beschleunigen können, es findet auch sehr viel „terrible simplification“ statt, wie zu allen Zeiten sind Meinungen DAS Terrain zum Durchsetzen krasser Denkfehler aller Art – und es ist genau das, wovor viele Autoritäten inzwischen Angst haben, weil sie selbst in diesem gesellschaftlichen Synchronisierungsprozess die „vorherrschende“ Meinung nicht mehr so leicht beeinflussen können. Und weil wir natürlich mit der abendländischen Muttermilch aufgesogen haben, dass die „Meinung der Menge“ und die Gründe der Vernunft geradezu ontisch kontrastieren 😉
Das LSR fand, bloße Vermutung meinerseits, auch deshalb bei den festangestellten Politikern so wenig Widerstand, weil sie insgeheim damit die Hoffnung verbinden, den Einfluss der Zentralmedien auf die Meinung der Menge sichern zu können – „Restauration“ ihrer eigenen Meinungskanäle.
Es wird spannend sein zu beobachten, ob die netzvermittelten Meinungsharmonisierungsprozesse im langfristigen Durchschnitt zu mehr Vernünftigkeit trenden oder der Diktatur des Blödsinns zum finalen Durchbruch verhelfen. Auf kurze Sicht von ein paar Jahren würde ich mir da keine Einschätzung erlauben. (Aus verschiedenen Gründen bin ich sogar guter Hoffnung, aber wer weiß, wer weiß … )
„Mir ist unklar, warum du dich so mit der Überlegung beschäftigst …“
Woran kann man erkennen, dass man etwas gelernt hat? Möglicherweise immer dann, wenn einem etwas unklar geworden ist.
LG Dorotyna
[…] Zivilisationsversprechen, jedermann das Recht auf öffentliche Meinungsäußerung einzuräumen, vollständig verwirklicht ist. Das lässt auf eine neue Verfasstheit der Gesellschaft schließen, da sie auf kommunikativer Ebene […]
Vor dem Internet gab es einen geordneten anarchistischen Konkurrenzkampf, bei dem die Regel galt: jeder hat das Recht, jeden anderen zu knebeln (Recht auf Störung) und niemand hat das Recht einem anderen die Ohren zu verstopfen (Recht auf Informationsfreiheit).
Seit es Internet gibt gilt die Regel: jeder hat die Möglichkeit zu reden und zu schreiben und jeder unterliegt der Notwendigkeit sich selbst die Ohren zu verstopfen …
Im Prinzip war das vor dem Internet auch schon so. Aber man konnte vor dem Internet nicht darüber reden, weil niemand hätte zuhören können. Jeder hätte hören können, aber niemand hätte über das Internet reden können. Jetzt: jeder redet darüber, aber kaum jemand kann alldem noch zuhören. Jeder kann schreiben, aber nicht jeder kann lesen.
Wohin führt das?
[…] die jetzt nicht mehr nur als unverbindliches Recht garantiert wird, sondern auch als verbindliche Möglichkeit. Und wie man feststellen kann: keiner jubelt, keiner freut sich, als wäre nichts gewesen. Man […]
[…] Erbloggtes von Klaus Kusanowsky: […]