Dass die Welt nachlesbar sei … @imtunnel #systemtheorie #kritik
Auszug aus einem Gespräch mit Dirk Baecker und Sebastian Kirsch über den Phasenübergang zur nächsten Gesellschaft:
(Herkunft) Dirk Baecker: … Wir sind im Moment Zeugen des Phasenübergangs von der modernen zu einer nächsten Gesellschaft. Wir verdoppeln unsere Bemühungen, die Moderne zu verstehen, um überhaupt beobachten zu können, was es mit dieser nächsten Gesellschaft auf sich hat. Und wir stellen fest, dass die moderne Gesellschaft vor allem als eine Gesellschaft zu verstehen ist, in der wir es gelernt haben, mit massenhaft auftretender Kritik umzugehen, seit die Möglichkeiten zur Kritik durch massenhaft verbreitete Bücher, Zeitungen und Flugschriften immens gesteigert worden sind. Moderne heißt, sich in der Illusion zu bewegen, dass die Welt nachlesbar ist. Die Illusion wird produktiv, sobald wir anfangen – wir nennen das “Aufklärung”, “Vernunft” und “Fortschritt” –, die Welt nach dem Vorbild dessen zu gestalten, was wir gelesen haben. Die Voraussetzung dafür ist jedoch, dass wir keinen Zustand der Welt als das hinnehmen, was er ist, sondern ihn grundsätzlich für kritikwürdig, weil verbesserbar halten. Die optimierungs-optimistischen Betriebswirte unter unseren Zeitgenossen stehen in dieser Hinsicht in einer langen Aufklärungstradition, die wir ihnen nicht vorwerfen können. So oder so haben wir uns seit dem 16. und 17. Jahrhundert eher mühsam daran gewöhnt, dieser allgegenwärtigen Kritik gleichsam ihr Tummelfeld zu geben, indem wir die Demokratie, die Marktwirtschaft, die autonome Kunst, den Schulzwang für alle, die Bibellektüre und die positivistische Wissenschaft erfunden haben, die allesamt darauf spezialisiert sind, Kritik zu ermutigen und aufzufangen zugleich. Wir sind alle Beobachter zweiter Ordnung geworden, die laufend bereit sind, andere Beobachter zu korrigieren und selbst, eher unwillig, aber immerhin, korrigiert zu werden. Die nächste Gesellschaft konfrontiert uns jedoch mit einer ganz anderen Herausforderung. Auf der Grundlage elektronisch instantaner Verknüpfungsfähigkeiten beteiligen sich die vernetzten Computer an unserer Kommunikation, wie dies zuvor nur Menschen konnten, seit wir Pflanzen und Tiere, Geister und Götter aus dieser Kommunikation ausgeschlossen haben.
„Moderne heißt, sich in der Illusion zu bewegen, dass die Welt nachlesbar ist“ – Wodurch wird diese Illusion erzeugt, wodurch wird wirkmächtig und wie kann man heraus finden, dass es sich um eine Illusion handelt? Und: auch wenn es eine Illusion ist, wie kommt sie zustande? Wie ist die Illusion möglich? Was Baecker hier andeutet und in diesem Gespräch natürlich nur verkürzt argumentieren kann ist, dass es eine Erklärung dafür geben müsste, wie die Gesellschaft lernte sich als eine zu beschreiben, die aus Menschen besteht und von Menschen gemacht wird; eine Gesellschaft und Kultur, die Menschenwerk sei. Denn wenn man mit Luhmann das Gegenteil behaupten, begründen und erklären will, reicht es nicht aus, die Systemtheorie in allen Varianten und Begriffen und Zusammenhängen ständig durchzukauen und zu zitieren. Denn seit man auch die Luhmannsche Theorie nachlesen kann, ist sie zu einem Element derjenigen Verstehensprozesse geworden, durch die die Welt als nachlesbar in Erscheinung tritt.
Und wie man bei einigen Managern, Beratern und Therapeuten feststellen kann, arbeiten sie schon daran, ihr systemtheoretisches Verständnis in eine von Baecker beschriebene Illusion umzuwandeln. Nennen würde ich dies: Umänderung einer Theorie der Erklärung in eine Theorie der Rechtfertigung. Eine Erklärungstheorie konnte die Luhmannsche Theorie sein, solange sie schwer kommunizierbar war, solange sich kein soziales System schließen konnte, dass sich durch eigene Differenzen gegen die Umwelt absondert.
Das ändert sich, sobald dieses Hindernis überwunden und literarisch durch inflationäres Zitieren verfügbar geworden ist. In dem Augenblick wird feststellbar, dass sie genauso einfach zitierbar, weil nachlesbar ist wie alles andere auch. Damit gewinnt die Kommunikabilität der Theorie einen anderen Charakter. Denn jetzt wird sie zu einer Rechtfertigungstheorie umgebaut. Gerechtfertigt werden damit Karrieren, Honorare, Exkludierungen, Besatzung von Ressourcen, Machtpositionen, Entscheidungen aller Art.
Oder man nimmt an, dass dies für die Luhmannsche Theorie nicht mehr gilt, dass sie also nicht mehr nachlesbar ist. Man könnte also sagen: die zitierten Texte beweisen nicht ihre Nachlesbarkeit, was ich für eine interessante Betrachtungsweise halten würde. Aber das dürfte für die Wissenschaftler an den Universitäten zu unüberwindbaren Selbstwidersprüchen führen, die vor allem deshalb nicht akzeptabel sind, weil in Organisationen immer auch Rechtfertigung von Entscheidungen gelingen muss. Eine Regelbildung, die auch Selbstwidersprüche für Rechtfertigungen im Konkurrenzgeschehen akzeptiert, dürfte unter der Bedingungen knapper Ressourcen und sehr begrenzter Kapazitäten zu einer ausichtslosen „Borderline-Kritik“ führen.
Aber auch in dieser Hinsicht könnten man einen anderen Standpunkten ernst nehmen und überlegen, dass es hinsichtlich einer „nächsten Gesellschaft“ diese knappen Ressourcen und begrenzten Kapazitäten, also die Limitierungen, wie sie die moderne Gesellschaft erzeugt hat, für Kritik gar nicht mehr gibt. Voraussetzung dafür wäre dann aber auch der Verzicht auf Konkurrenz. Erst dann werden Rechtfertigungen überflüssig und man könnte den provokativen Charakter von Erklärungstheorien wieder nutzen, weil Kritik, die auf eine enorme Erweiterung von Ressourcen und Kapazitäten trifft, etwa durch Beteiligung von Automaten, sich selbst in Verwahrlosung überführt.
Eine an eine staatliche Bürokratie fest gekoppelte Wissenschaft dürfte jedoch wenig Chancen haben, die Bedingungen einer „nächsten Gesellschaft“ zu nutzen, weil Wissenschaftlichkeit unter Bedingungen bürokratischer Verfahrensweisen immer auch Wahrheitsreferenzen berücksichtigen muss. Eine selbstwidersprüchliche Rechtfertigungsposition hat unter diesen Voraussetzungen nur einen Ausnahmecharakter und lässt sich nur selten durchhalten.