Über ordnende und geordnete Differenzierung

von Kusanowsky

In einem schon länger zurückliegenden Blogartikel hatte Jan-Hendrik Passoth darüber geschrieben, dass die verwirrende Vielzahl von soziologischen Gegenwartsdiagnosen eigentlich nicht den Schluss zu lassen, dass diese Diagnosen auf eine geordnete Differenzierung der Gesellschaft verweisen, sondern selbst ordnenden Charakter haben:

Viel zu spät entdeckt habe ich die Debatte zwischen Thomas Assheuer, Armin Nassehi und Hartmut Rosa und als ich sie heute endlich nachlas, kam mir eine Sache wirklich komisch vor. Sie alle trennen noch immer so klar zwischen Struktur/Semantik, Gesellschaft/Kultur, dass der Gedanke, dass die Vielzahl der aktuellen Gegenwartsdiagnosen ordnende Effekte haben können, statt Ausdruck einer bestimmten Gesellschaftsordnung zu sein, kaum in den Sinn kommt.

Spannend ist, dass in allen drei Varianten aber die implizite These steckt, dass diese Diagnosen dann, wenn sie relevant sind, auf eine veränderte gesellschaftliche Situation verweisen. Keinen der drei interessiert, ob die diversen Diagnosen nicht selbst ordnende Effekte haben können.

Diese Überlegung würde ich sehr ernst nehmen und die Unterscheidung von ordnender und geordneter Differenzierung vorschlagen, wie ich dies im Gespräch mit Moritz Klenk bei der #rp13 versucht hatte zu erklären: In dem Augenblick, in dem die Soziologie über eine Erklärung für die Differenzierungsform der modernen Gesellschaft verfügt, wie sie insbesondere durch die Theorie funktionaler Differenzierung geliefert wird, müsste man annehmen, dass sich die Ausgangssituation für eine Soziologie völlig verändert hat. Wenn funktionale Differenzierung aufgefasst wird als als eine Form geordneter Differenzierung, so fragt sich doch, durch welche Unterscheidung und durch welches Beobachtungsschema diese Theorie überhaupt entstehen konnte.
Meine Vermutung ist: durch die Unterscheidung von geordneter und ordnender Differenzierung. Und durch eine Vertauschungs- und Verwechselungsoperation hinsichtlich eines Verhältnisses von Medium und Form kann nun auf etwas Neues aufmerksam gemacht werden, das neuen Forschungsbedarf herstellt.

Durch Irritationsroutinen innerhalb einer systeminternen Umwelt, die provokativ-ordnenden Charakter hatten, konnte zurückliegend eine soziologische Beschreibungsweise und Diagnose der Gesellschaft gefunden werden, die vor allem eine Erklärung für das Zustandekommen eben dieser Differenzierungsform als geordnete Differenzierung im Ergebnis finden ließ. Ist nun eine solche Erklärung gefunden, so haben alle Anschlussversuche hinsichtlich dieser Differenzen nicht mehr den Charakter, die Ordnung dieser Differenzierungsform zu bestätigen, zu verifizieren oder zu rechtfertigen, sondern wirken entropiesteigernd und damit ihrerseits provokativ im Sinne der Ausbildung einer ordnenden Funktion. Diese ordnende Differenzierung würde ich „diskursive Differenzierung“ nennen, die selbst ein neues Medium konstruiert, welches sich insbesondere dadurch auszeichnet, dass es erfolgreiche Formenbildungen entkoppelt, zerfallen lässt und diese gleichsam in ein Ausgangsmaterial für neue und unbekannte Möglichkeiten der Formenbildung umändert.
Statt von einer Netzwerkdifferenzierung zu reden, wie dies Dirk Baecker versucht, scheint es mir sinnvoller, von einer ordnenden Differenierung auszugehen, die ihrerseits nicht direkt unterscheidungsmäßig zugänglich ist, sondern auf welche nur zurück geschlossen werden, wenn man die Vermutung zugrunde legt, dass sich Strukturänderungen im Fall ihrer beoachtungsstabilen Erklärbarkeit ergeben.

Entsprechend würde dann nicht die Frage lauten, wie man das Geänderte erfasst, weil das Geänderte aufgrund eines sich aktuell vollziehenden Änderungsprozesses empirisch nur unzureichend zugänglich ist, vielmehr wäre die Frage, wodurch sich Änderungen ergeben und wodurch diese Änderungen empirisch gemacht werden. Die Bezeichnung dafür wäre „diskursive Differenzierung“. Die semantischen Merkmale ordnender Differenzierung könnten sein: Ratslosigkeit, chaotisch, entropiesteigernd, paranoisch, traumatisierend, übertreibend, paralysierend, aber auch ironisierend, dionysisch, heteroclitisch.
Solche Semantiken würde entsprechend Indikatoren für Entkoppelungen sein, die unverzichtbar sind für diagnostizierbare Veränderungsstrukturen.

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