Das social web ist überflüssig – ein Experiment

Twitter ist zwecklos und überflüssig. Twitter braucht niemand, es gibt kein bekanntes Problem, für das Twitter eine Lösung ist. Das gilt nicht nur für Twitter, sondern für das ganz Web 2.0, inkl. aller daraus resultierenden Meinungsdiskussionen, die das Web 2.0 betreffen, inbesondere auch diese Gespensterdiskussion um „Netzgemeinde“ und dergleichen.

Fast alle Nützlichkeiten, die sich aus dem Internet ergeben, sind keine Innovationen, sondern sind nur Optimierungen für bekannte Routinen: Amazon, ebay, Wikipedia, Vermittlungsagenturen, Verkauf von Werbeanzeigen, Briefverkehr, Fernsteuerung von Anlagen, Verbreitung von Texten, Bildern, Musik, Protestbriefe schreiben usw. All das ist nichts Neues, sondern wird durch das Internet aufgrund einer Transaktionskosteneinsparung nur optimiert. Auch waren alle Probleme schon immer bekannt: Datenschutz, Verbraucherschutz, Raubkopieren, Kinder- und Jugendschutz, Spionage, Überwachung, schöpferische Zerstörung usw.
Im Gegenteil gibt es nur Weniges, das durch das Internet neu aufgekommen ist, wie z.B. das Computerhacking.

Nüchtern betrachtet stellt man fest, dass es kaum etwas Neues gibt, das durch das Internet entstanden ist. Die meiste Aufmerksamkeit konzentriert sich daher auf Angelegenheiten, die lange bekannt sind. Entsprechend ist das Internet so innovativ nicht. Denn es gilt der Grundsatz, dass, wenn etwas Neues entstanden ist, man es mit etwas Unbekanntem zu tun hat. Unbekanntes kündigt sich mit Erscheinungen an, die rätselhaft sind, merkwürdig, ungewohnt, die skurril und bizarr sind; Erscheinungen, für die es keine Routinen gibt, keine Antworten, Erscheinungen, die vermehrt Ratlosigkeit hinterlassen. Tatsächlich findet man das aber eher selten.
Denn wenn sich Neues zeigt, so müsste man doch eigentlich damit rechnen, dass dies die Neugier stimuliert, die Lernbereitschaft steigert, den Sinn für das Skurrile und Unbekannte reizt. Natürlich geschieht das auch, aber mir scheint, dass die Selbstbeobachtung solcher kognitiven Strukturänderungen nicht gut gelingt. Es scheint noch nicht zum erwartbaren Normfall geworden zu sein, dass das, was durch das Web 2.0 zustande kommt, eigentlich eher seltsam ist, bzw. dass mit Nichtinformiertheit aller Beteiligten gerechnet werden müsste.
Stattdessen scheint es die Kommunikation eher dabei zu belassen, das Unbekannte gemäß bekannter Erfahrungen zu behandeln.

Mit diesem Tweet oben habe ich ein kleines Experiment gestartet. Ich schickte den Link einer jpeg-Datei herum und fragte meine Follower, was das ist. Die Antworten waren erstaunlich ähnlich:

https://twitter.com/thgiex/status/333330733177389058

Die statistische Auswertung der Aufrufe bei HootSuite hat ergeben, dass dieser Tweet im Laufe von 12 Stunden 30 mal aufgerufen wurde.

twitterexpDaraus leite ich die Überlegung ab, dass sich über die Frage dieses Tweets niemand wundern konnte. Diejenigen, die eine Antwort geschickt haben, haben sich auf das Offensichtliche bezogen, nämlich, dass nur eine weiße Fläche zu sehen ist; und diejenigen, die keine Antwort geschickt haben, haben dies aus dem selben Grund getan.

Man sieht also, wie überflüssig Twitter ist. Denn die Antwort auf die Frage hätten ja auch lauten können:

  • „Man sieht einen Ausschnitt der ostfriesischen Nationalfahne: weißer Adler auf weißem Hintergrund. Die Schwanzfedern sind oben rechts im Bild.“
  • „Es handelt sich um die Rückseite einer pornografischen Fotografie.“
  • „Es ist ein Leerzeichen zu sehen.“
  • „Das Bild informiert über einen Unterschied.“

Natürlich sind diese Antworten auch nicht weniger überflüssig als die Frage, aber wenigestens würden solche Antworten ein erratisch-paranoisches Beobachtungsschema anwenden, das zeigen will, dass die Kommunikation auch auf performativer Ebene anschlussfähig ist.
Denn wenn offentlich ist, was offensichtlich ist, dass es sich bei der Datei um ein weißes Bild handelt, warum dann in der Antwort das Offensichtliche thematisieren und nicht etwas, das weniger klar und deutlich ist? Also etwas, das den Fragensteller überraschen könnte.
So haben die Antworten nur klar gemacht, was nicht unklar war.
Aber warum nicht auch unklar machen, was offensichtlich klar ist? Natürlich funktionieren solche Versuche bei Twitter längst, aber niemand weiß, wozu das gut ist. Niemand weiß was das soll.

Darin besteht die Innovation. Twitter ist Kommunikation von Überfluss. Die Beschäftigung mit diesen Überlüssigkeiten bringt zustande, dass die Beschäftigung mit bekannten Problemerzeugungsstrukturen nach und nach abgelöst wird durch Einführung neuer Probleme, von denen kaum jemand etwas weiß und über die deshalb wenig bekannt sein kann.

Man könnte das auch so formulieren: das Web 2.0 ist eine bekannte Lösung für noch unbekannte Probleme. Die sich fortsetzende Twitterkommunikation könnte man erratisch-paranoisch auffassen als eine Kommunikation, die auf der Suche nach einem geeigneten Problem ist.

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