Die Konstruktion des Konstruktivismus #philosophie #soziologie
Bei der beiläufigen Lektüre des Buches von Finn Collin „Konstruktivismus für Einsteiger“ ist mir wie so oft bei Einführungen aller Art mal wieder der Gedanke gekommen, dass diese Art von Literatur für Einsteiger eigentlich gar nicht geeignet ist. Der Grund dafür ist, dass nicht ansatzweise die Frage ernstgenommen wird, warum es überhaupt einen Grund gibt sich damit zu beschäftigen, da aus den Erklärungen des Textes hervorgeht, dass es sich beim Konstruktivismus um das Ergebnis einer philosophischen Ideengeschichte handelt, insbesondere ist damit bei Finn Collin die ganze Entwicklung der modernen Philosophie gemeint, angefangen mit dem deutschen Idealismus und alles nachfolgende.
Aber wenn doch die ganze moderne Philosophiegeschichte angeblich Beiträge für einen Konstruktivismus geliefert hat, dann müsste man eine Einführung in die moderne Philosophie lesen. Aber: liest man eine solche Einführung, dann bekommt darin das selbe Problem serviert, weil dort dann geschrieben steht, dass die antike und asiatische Philosophiegeschichte wichtige Beiträge zur Entwicklung der modernen Philosophie geliefert hat. Also müsste man entsprechende Einführungen lesen und bekommt dann wieder eine ähnlich gelagerte Betrachtungsweise vorgelegt.
Eigentlich wird in solchen Einführungen gar nichts erklärt, nichts erläutert, nichts plausibel gemacht, sondern es wird nur zitiert, was schon zitiert wurde. Dann könnte man genauso gut alte Bücher neu auflegen. Das jedoch geschieht nicht. Warum eigentlich nicht?
Was in dem Einführungsbuch von Finn Collin völlig unterschlagen wird ist vor allem eine Erklärung für die Konstruktion des Konstruktivismus. Warum wurde nicht schon im 19. oder 18. Jahrhundert ein Konstruktivismus erarbeitet? Der Grund ist doch nicht der, dass es den Zeitgenossen an Ideen mangelte. Denn aus der zeitgenössischen Literatur geht ja genau das Gegenteil hervor: Ideen hatten sie reichlich. Warum also wurde der Konstruktivismus erst im 20. Jahrhundert konstruiert?
Die Antwort könnte lauten, dass erst mit dem Konstruktivismus Antworten auf Fragen gegeben werden konnten, die in der Entwicklung der modernen Philosophie gar nicht gestellt wurden. Dass beobachtbare Phänomene wie und wodurch auch immer konstruiert sind, liefert eine Antwort auf die Frage, warum dies vorher nicht gesehen wurde. Dies wurde nicht gesehen, weil es bereits gesehen wurde, allerdings ganz anders. Die Konstruiertheit der Phänomene wurde nicht gesehen, weil sie bis ins 20. Jahrundert hinein, in manchen Diskursen sogar bis heute in ihrer Unhintergehbarkeit eines natürlichen Urspungs betrachtet wurden:
- die natürliche Freiheit bei Jean-Jacques Rousseau
- die natürliche Vernunft bei Immanuel Kant
- die Natur des Menschen bei Johann Gottfried Herder
- der natürliche Egoismus bei Adam Smith
- die Entdeckung und Betonung von Naturgesetzlichkeiten in den Naturwissenschaften
- die natürliche Gesellschaftsordnung bei Edmund Burke
- die Naturgesetze der Geschichte bei Friedrich Engels
- das Naturrecht
- die natürliche Wirtschaftsordnung bei Silvio Gesell
außerdem könnte man noch nennen
- natürliche Familienplanung bei Pro Familia
- natürliche Produkte im Bioladen
- natürliche Schönheit im Beauty-Shop
- usw.
Die Entdeckung und Betonung der Natürlichkeit konnte deshalb so bedeutsam werden, weil sie selbst eine Ersetzungsleistung darstellten, indem von Gott auf Natur als unhintergehbare Letztinstanz umgestellt wurde.
Interessant ist besonders, dass diese Zurückführung auf unhintergehbare Natürlichkeit der Phänomene auch da noch durchgehalten wurde, wo bereits ihre soziokulturelle Konstruiertheit andeutungsweise erklärt werden konnte. So z.B. bei Georg Lukacs (Gesellschaft als „zweite Natur“) und später in der Kritischen Theorie.
Ja, mehr noch: sogar bei Judith Butler, die die Unterscheidung von sex und gender selbst als Konstruktion beschreibt, wird daraus nur der Schluss gezogen, dass ethisches Handeln die unhintergehbare Letztinstanz sei, obgleich doch jederzeit auch hier nach den Bedingungen für die Möglichkeit einer solchen Konstruktion der Ethik gefragt werden kann, die keine Unhintergehbarkeit zulässt. Und übrigens scheint mit gerade dieser populäre Ausdruck der „Unhintergehbarkeit“ nur ein Ersatz für die nicht weiter erklärbare Natürlichkeit des Gemeinten zu sein.
Weil die Diskurse keine weitere Auflösung leisten können, werden irgendwelche Unhintergehbarkeiten konstruiert.
So könnte die Konstruktion des Konstruktivismus eine Reaktion auf die Möglichkeit sein, dass es Unhintergehbarkeiten gar nicht gibt, ohne gleichwohl erklären zu können und zu müssen, wie die „Hintergehung“ vor sich geht.
So kommt es, dass solche Einführungen wie die oben erwähnte geschrieben werden. Sie helfen eigentlich gar nicht, die Angelegenheit zu verstehen, sondern gehen ihr durch ihre Thematisierung, also durch Fremdreferenzierung aus dem Weg, wodurch die soziale Hintergehung wenn auch unverstanden überhaupt erst vor sich gehen kann.
Einführungen dieser Art zeigen ganz deutlich, was diese Wissenschaft nur noch leisten kann, nämlich ihr Nichtwissen erfolgreich zu rechtfertigen.