Differentia

Exzentrische Paradoxie

Rezension von Gabriele Althaus, Andreas Hellmann über: Bernd Ternes: Exzentrische Paradoxie. Sätze zum Jenseits von Differenz und Indifferenz.

Die Habilitationsschrift von Bernd Ternes, „Exzentrische Paradoxie. Sätze zum Jenseits von Differenz und Indifferenz“ ist ein Versuch, der gesellschaftlichen Wirklichkeit des beginnenden 21. Jahrhunderts, die in ihrer „neuen Unübersichtlichkeit“ (Habermas) weder durch poststrukturalistische und systemtheoretische Differenzphilosophie, noch durch die soziologische Systemtheorie oder die Anthropologie in ihren verschiedenen modernen Fassungen auf Begriffe gebracht, mithin verstanden werden kann, mit einer neuen Denkfigur zu begegnen.
Exzentrische Paradoxie, der zentrale Topos der Arbeit, steht dabei für den Versuch, „begrifflich ein zu Begreifendes einzuholen, das nicht mehr oder nicht mehr treffend“ in den traditionellen Unterscheidungen „Leben/Tod, innen/außen, integriert/exkludiert, reflektierbar/unreflektierbar“ erfasst werden kann und auch nicht mit „Begriffen wie Antagonismus, Inversion, Widerspruch, Differenz oder gar Kampf einzuholen ist“.
Nachdem der Prozess der Ausdifferenzierung funktionaler Systeme und damit verbunden das sich zur Verfügung Stellen für komplexere Inklusionen auf dem Höhepunkt der Kulturindustrie an ein Ende gekommen sind und während sich ein neues Arrangement von persönlich werdender Abstraktheit und abstrakter werdender Adressalität als Person herausgebildet hat, wird exzentrische Paradoxie erkennbar als letzte Gestalt einer technischen Existenz des Menschen vor dem Übergang zu einer Existenzform, die Ternes generative Exzellenz nennt, im Rahmen derer traditionelle Formen des Nachdenkens über das Verhältnis Mensch und Technik entlang des theoretischen und begrifflichen Arrangements von Mensch, Welt, Natur, Technik, Kunst überwunden sind. Die weitere Evolution der generativen Exzellenz hängt ab von einem möglichen Kontakt, von einem sich in Resonanzsetzen mit der Kreativität der lebendigen Physis selbst, was Ternes mit dem Kultursoziologen Hans Peter Weber Kreaturdenken resp. Physiskreativität nennt.
Das dabei zu „Begreifende“ ist die auf vielfältige Denkhemmungen stoßende Perspektive von einem „Tod der Gesellschaft“, ist die Einsicht, dass das im emphatischen Sinne „Soziale“ oder die „soziale Gesellschaft nicht nur ein spätes historisches Produkt sein könnte, sondern auch ein vorübergehendes, oder anders formuliert: Es könnte sich – exzentrisch paradox – die von Foucault mit Hinblick auf Kant so genannte „Geschossbahn der Frage nach dem Menschen … zu einer Geschossbahn der Frage nach der Gesellschaft“ wandeln …

(Vollständig hier)

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Naivität und Rarität

Naivität bezeichnet den harmlosen Fall der Verkürzung oder Verarmung eines reflektierbaren Voraussetzungsreichtums, durch den der Test auf Distanzlosigkeit, bzw. die Wirkung von Distanzverminderung beobachtbar werden kann. Eine Distanzverminderung ereignet sich durch Verknappung kontingenter Relationierung von Sinnelementen, die für einander relativ fest gekoppelt und daher wenig störanfällig sind, sofern Störungsversuche durch ähnliche voraussetzungsarme Beobachtungen auffallen. In einem solchen Fall bilden sich schnell regelhafte Muster von Wiederholungen, deren fortgesetzte Wiedererkennbarkeit sogar zur Unzerstörbarkeit solcher Formen führen können, sobald alle Störversuche immer die selben oder wenigstens ähnliche Muster auswerfen. Wenn Voraussetzungsarmut auf Voraussetzungarmut trifft, ist es nur sehr schwer möglich, diese so entstehende Verkoppelung auseinanderzuziehen, zumal Zufall bei solchen Formen beinahe ausgeschlossen ist. Denn die Wirkung von Zufall hat zur Folge, dass durch Asynchronizität der Operationen die Kontingenz ausgeweitet wird. Deshalb verhalten sich naive Strukturen gegen Zufall genau so naiv, indem nur ein subjektiver Erkenntnismangel zugestanden wird. Dieses Zugeständnis hat dann wieder den Charakter einer schnell wiedererkennbaren Deutung, durch die die Beobachtung des Zufalls sofort vernichtet wird.
Methodische Verfahren sind dann möglich, wenn der Voraussetzungsreichtum der Welt erfolgreich auf solche Musterbildungen getestet wurde.
Für eine Wissenschaft bedeutet das, dass Methoden zwar einerseits erfolgreich zur Legitimierung von Ressourcenbesatzung genutzt werden können, andererseits aber immer wieder Auffälligkeiten auswerfen, die auf der Basis einer durch die Methode legitimierten Voraussetzungsarmut Anhaltspunkte für die Revidierung von Standpunkten anbieten. Erst die genügend oft erfolgte Vermeidung solcher Revidierung erzwingt heteroclitische Erfahrungen.
Gefährlich wird Navität nur da, wo ein Anspruch darauf ideologisch gerechtfertigt wird. Die Folge ist Gewalt.

Rarität bezeichnet den umgekehrten, aber unwahrscheinlichen Fall. Dabei gelingt es, eine Ausweitung und Vermehrung von Voraussetzung in geregelte Prozesse zu implementieren, durch die Effekte wie Neuartigkeiten, Seltsamkeiten oder relativ anschlusssichere Unklarheiten entstehen. Der Nachteil von Strukturen, die sich durch Rarität auszeichnen ist, dass sie gegenüber naiven Strukturen keine methodische Kontrollierbarkeit aufweisen, einfach aufgrund der Tatsache, dass Seltenes nicht normal ist. Unter diesen Bedingungen kann dem Zufall größere Beachtung geschenkt werden, allerdings sind dafür Zeitressourcen (Geduld, Müßiggang) notwendig, die umso besser genutzt werden können, wenn Distanzierung gelingt. Denn Distanzierung sorgt immer auch für Entkoppelung und Dissoziation. Auch unter solchen Bedingungen kann auf Zufall naiv reagiert werden, aber aufgrund von Distanzierung kann auch gelingen, dass der Zufall Struktureffekte im Gedächtnis hinterlässt. Die naive Reaktion wäre sofortiges Vergessen ohne dauerhafte Vernichtung von Sinnelementen.
Rare Strukturen sind nicht rechtfertigungsfähig und wirken darum provokativ.

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