sachliche Argumente, bitte! #trollkommunikation #naivität
von Kusanowsky
Überall im Netz finden sich Verhaltensanweisungen durch sog. Netiquette. Dabei fallen zwei Anweisungen immer wieder ins Auge:
- bleibe sachlich und
- bedenke, dass auf der anderen Seite ein Mensch ist.
Es handelt sich der Form nach um Vermeidungsansweisungen, die an die Bereitschaft zur Rücksichtnahme appellieren. Tatsächlich aber stellen diese naiven Anweisungen bereits eine Einladung dar, sich an Trollkommunikation zu beteiligen. Das möchte ich kurz erklären.
Tatsächlich können auch bei einer ablaufenden Diskussion diese Regeln selbst diskutiert werden. Und wenn man man nun rekursiv diese Anweisungen auf die Diskussion dieser Anweisungen anwendet, landet man in einer Paradoxie, die man nur umgehen kann, wenn man diese Anweisung eben doch außer Acht lässt. Wie sollte man sich äußern, wenn man sachlich die Frage nach Sachlichkeit behandelt und man dabei Unsachlichkeit vermeiden müsste? Und: auch ich bin ein Mensch, aber was heißt das schon?
Dass muß nun nicht unbedingt zur Konsequenz haben, dass die Kommunkation in Beleidigung ausartet. Sie kann auch sehr erfreuliche und lehrreiche Konsequenzen haben.
Daraus kann man wiederum folgern, dass diese Anweisungen überflüssig sind, weil sie
- weder das Wüten und Hassen vermeiden noch
- die Erfreulichkeit von Lernerfahrungen behindern.
Beides ist möglich und kommt immer vor, auch ohne diese Anweisungen. Diese Anweisungen garantieren nichts und vermeiden gar nichts.
Um nun vollständig zu argumentieren müsste man auch zeigen können, dass, auch wenn man sie als nicht überflüssig erachten wollte, man zu einem ähnlichen Ergebnis kommt. Das heißt, auch wenn alle sich an diese Anweisungen halten wollten, ohne sie zu kritisieren, müssten trotzdem wilde, d. h. unvorhersehbare Konsequenzen kommunikativer Serendipität eintreten, die entweder häßlich oder freundlich überraschen. Ja, vielleicht kann sogar noch die Langeweile als Ergebnis überraschen.
Ein solche Betrachtungsweise könnte man so formulieren:
Wenn klar wäre, dass Sachlichkeit sachlich gesehen klar wäre, dann kann Sachlichkeit nur bedeuten, dass damit nichts Eindeutiges gemeint ist. Sachlichkeit hieße, dass „irgendetwas“ sachlich ist, was heißen müsste: alles, was kommuniziert wird, ist irgendetwas und ist folglich rein sachlich von Bedeutung. Auch die Beschimpfung und Beleidung. Diese Sichtweise abzulehnen, ist ebenfalls sachlich begründbar. Alles ist sachlich. Also muss die Anweisung nicht überflüssig sein, weil sie bei genauer Beachtung Sachlichkeit garantiert.
Etwas änliches ergibt sich, wenn man Rücksichtnahme auf Menschlichkeit akzeptiert, wenn man als darauf verzichtet zu fragen, was Menschlichkeit meint, sondern wenn man davon ausgeht, dass klar ist, dass Menschlichkeit klar ist. In dem Augenblick ist auch das Beleidigen etwas sehr Menschliches, weil ja an jedem Ende ein Mensch sitzt, an diesem und am anderen Ende.
Da nun aber solche Argumente nur akzeptiert werden können, wenn naive Standpunkt aufgegeben werden, geht die Trollerei weiter, weil niemand so einfach die Bereitschaft zeigt, naive Standpunkte zu räumen. Das wiederum ist erklärungsbedürftig. Denn reicht ja nicht, Navität festzustellen, weil auch diese Feststellung, sobald sie in die Anführungszeichen einer Wahrheit gesetzt wird, selbst als naiv erscheint.
Hier eine Webseite, die einen beeindruckenden Einblick in die Hartnäckigkeit naiver Standpunkte gestattet:
1. Das Gegenüber macht den Ton
2. Auf den Punkt gebracht
3. Die richtigen Worte
4. Der gute Wille
5. Diskretion wenn nötig
6. Im Zweifel lieber persönlich
http://www.netzwelt.de/news/95321-netiquette-digitale-fettnaepfchen-vermeiden-lernen.html
Unter Rahmen versteht Goffman erlernte Erfahrungsschemata, deren Benutzung allein durch Kommunikation möglich ist und die es jedem Beobachter ermöglichen Situationen sinnhaft wahrzunehmen. Diese Erfahrungsschemata oder auch Rahmen sind Definitionen für Situationen und wichtig zum Erkennen von sozialen Ereignisse. Ein Beobachter versucht, jede Situation in seine bestehenden Erfahrungsschemata/Rahmen einzuordnen. Die Rahmen-Analyse setzt also „beim hier und jetzt situierten Akteur an, der sich die Frage ,Was geht hier eigentlich vor?‘ stellt“ (1). Ohne passenden bzw. erlernten Rahmen, ist die Situation nicht sinnhaft begreifbar.
Bestimmte Situationen entstehen folglich dadurch, dass sie in Erfahrungsschemata eingeordnet in bestimmtem Rahmen wahrgenommen werden; sie erhalten vor diesem Hintergrund einen Sinn. Solche Situationen sind nur im Rahmen einer sozialen Gedächtnisleistung möglich.
„Und wir sagten die Rahmung mache das Handeln für den Menschen sinnvoll.‘“ (2) Aber Goffman meinte, der Sinn entsteht nicht nur für Menschen, sondern auch für soziale Systeme.
(1) Herbert Willems: Rahmen und Habitus: Zum theoretischen und methodischen Ansatz Erving Goffmans. Frankfurt/M. 1997, S. 35.
(2) Erving Goffman: Rahmenanalyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen. Frankfurt/M. 1977, S. 376.
Eher würde ich vermuten, diese Rahmen werden überhaupt erst sozial beobachtbar, wenn es gelingt, die Anschlussfindung unter andere Bedingungen zu stellen. Denn die Rahmenanalyse von Goffman zeigt, dass diese Rahmen nicht einfach gegeben sind, sondern sozial in Erfahrung gebracht werden, aber dann selbst als Erfahrungsbedingung nicht mehr beobachtbar sind. Daher bei Goffmann die Annahme, sie seien unbewusst und Ergebnis von unbewussten Sinnfindungsvorgängen. Tatsächlich handelt es um kommunikative Vorgänge von denen Bewusstseine profitieren können ohne ihre Funktionsweise durchschauen zu müssen. Gerade diese soziale Undurchschaubarkeit ermöglicht psychischen Systemen eine eigene Stabilität.
Wenn sich aber nun zeigt, dass nicht Menschen mit Menschen kommunizieren, dann ändern sich die Bedingung für die Anschlussfindung. Man kann lernen, sich vieles egal sein zu lassen, was angesichts der Kompelxität ohnehin notwendig wird. Und dann kann Kommunikation ein anderes Verhältnis zu ihrer Menschenumwelt gewinnen, indem sie zeigt, dass auch ein Vertrauen in Menschenunvermögen sehr gut geeinget ist, um im Traumschiff Surprise etwas Interessantes zu entdecken.
Die Paranoik der Oneironauten: Simulationen sind virtuelle Konstruktionen, welche die Einheit der Differenz von Realität und Fiktionalität in eine komplexitätssteigernde und zeitlich nicht mehr verfolgbare Unerkennbarkeit überführen. Diese Unerkennbarkeit nenne ich ein “paranoisches Wissen”, das die Unterscheidung von Information und Mitteilung nicht mehr zuordnen braucht und darum die Kommunikation auf einer ersten Beobachtungsebene fortsetzt …
https://differentia.wordpress.com/2012/06/05/die-paranoik-der-oneironauten/
W. schrieb einmal, dass Kommunikation immer aus der Sache und aus der Beziehung her zu verstehen sei … natürlich versteht man diesen Sinn immer erst, wenn Kommunikation daneben geht oder selbst Gegenstand von Kommunikation ist.
Regeln, die die Kommunikation einrahmen und ‚verständlicher‘ machen sollen machen sich eigentlich über den Beziehungsaspekt lustig, weil sie das Ergebnis vorweg nehmen … es wirkt dann alles immer etwas steif, wenn dem Protokoll gefolgt wird und in uns allen regt sich die Hoffnung, etwas zu erleben, welches unerwartet abweicht. Nicht immer viel, aber eben bemerkbar, selbst bei einem Weltereignis wie die ersten Papstauftritte werden die Abweichungen mit Spannung verfolgt. Vielleicht, weil es auch Metaregeln für die Abweichungen gibt wie: beachte, dass auf der anderen Seite ein Ebenbild ist und alle Engel usw. zuschauen und sei heilig (kommt von ‚ganz‘ – Einheit von Körper, Geist und Seele – Gegenteil von kaputt, gestört, teilweise, partiell … )