Aussichtslose Aussichtslosigkeit? #wikipedia #piratenpartei
von Kusanowsky
Das Internet und seine sich selbst organisierende Anarchie (Chaos- und Irrtumskommunikation) liefert die bislang beste Möglichkeit dafür, dass Unbekannte mit Unbekannten in Kontakt treten können, ohne, dass die Bedingungen für diese Kontaktaufnahme durch ein vorgegebenes Regelwerk von Organisationen sanktioniert werden könnten. Diese Anarchie scheint darum gleichsam die Bewährungsprobe für das transzendentale Subjekt zu sein, das erst sterben darf, wenn es diese Probe durchläuft.
Jetzt erscheint es auf sich allein gestellt zu sein, jetzt muss es zeigen, was es kann. Es muss zeigen, dass es seinen Illusionen der Selbstbestimmung und Autonomie gewachsen ist. Und in nicht wenigen Fällen scheitert es auf ganz banale Weise, ablesbar beispielweise an öffentlichen Beschwerdebriefen über Internetrolle, Briefe, die keine Öffentlichkeit mehr erreichen und schon gar nicht von irgendwelchen Trollen ernst genommen werden. Warum auch?
Eine billige Meinung hat jeder und jeder kann eine auf billige Weise verbreiten. Sich eine Meinung zu bilden und diese zu verbreiten erzeugt nicht mehr so einfach ernstzunehmende Verhandlungsgegenstände. So entstehen die zu verhandelnden Problemfälle, die sich aus Internet ergeben, gar nicht durch Meinungen, sondern durch eine latent vermittelte kommunikative Operativität, welche die bekannten Strukturen der Meinungsproduktion aufdecken ohne gleichwohl Alternativen so einfach zulässig zu machen.
Die funktional-differenzierte Gesellschaft hatte bislang all ihre Verhandlungsgegenstände durch Vergesellschaftung in Organisationen erzeugt und legitimiert; und nur unter Berücksichtigung dieser Erzeugungs- und Legitimierungsroutinen konnte das transzendentale Subjekt seine „Gewissenhaftigkeit“ überprüfen, weil Organisationen die nötige Fremdreferenz lieferten, durch welche alle Selbstreferenz eingeschränkt und ihre Selbstbeobachtung vermieden wurde.
Mit der Beteiligung an Internetkommunikation können die Subjekte sich nun dazu aufgefordert fühlen, nunmehr eigenständig ihre Fremdreferenz zu erzeugen und zu legitimieren. Sie müssen gleicham lernen Selbstreferenz fremdreferenziell zu organisieren, ohne, dass die Chefetage eingreifen kann; sprich: die Subjekte müssen auf Selbstorganisation warten, weil andere Organisation diese nicht durchsetzen können. Das liegt daran, dass Organsationen selbst an der Internetkommunikation teilnehmen und außerstande sind, die „Allgemeinen Geschäftsbedingungen“ der Internetkommunikation hierarchisch zu verhandeln. Man könnte das auch so sehen, dass Organisationen ihre Macht zwar nicht verlieren, aber es sich jetzt gefallen lassen müssen, dass diese Macht nicht mehr mit Ausschließlichkeit durchgesetzt werden kann.
Das liegt nicht etwa daran, dass durch das Internet eine Gegenmacht entstünde, denn auf diesen Fall sind moderne Organisationen sehr gut vorbereitet. Das Spiel um Macht und Gegenmacht hatte ja gerade für die wirksame imperiale Wirkung von Organisationen gesorgt, weil alle Machtkaämpfe gar nicht dazu führten, dass die Macht zerfiel, sondern sich vielmehr differenzierte. So wurde die Gesellschaft auf der Basis dieser Differenzierungen immer machtvoller, immer monströser, immer aussichtsloser.
Und es scheint nun, dass diese Aussichtslosigkeit es mit sich selbst zu tun bekommt. Das heißt, dass die Kapazitäten der weiteren funktionalen Differnzierung durch ihre vollständige Globalisierung erschöpft sind, dass also alle Maßnahmen weiterer Binnendifferenzierung auf schon hinlänglich ausdifferenzierte Strukturen stoßen. Es besteht die Möglichkeit, dass diese Aussichtslosigkeit selbst aussichtslos wird.
Das müsste man an zwei Beispielen paradigmatisch zeigen können, nämlich am Beispiel Wikipedia und am Beispiel der Piratenpartei. Beides sind Versuche, die Selbstorganisation durch Internet in Organisationen zu überführen, wobei einerseits die eingespielten Regelwerke funktional geprägter Organisationen übernommen werden und andererseits versucht wird, diese Organisationen auf der Ebene der Selbstorganisation zu organisieren.
Aber ich vermute, dass hier zwei verschiedene Formen kommunikativer Operativität aufeinander stoßen, die für einander inkommensurabel sind. Es handelt sich also nicht nur um die Modifizierung sozialer Strukturen, sondern um eine Umstellung der Operativität, die kein Muster, kein Vorbild kennt und kaum eine Ahnung darüber zulässt, was auf jeder jeweiligen anderen Seite zutreffen oder nicht zutreffen könnte.
Es könnte sich im Ergebnis um eine aussichtslose Aussichtslosigkeit handeln, die etwas Drittes zwar einschließt, dieses selbst aber nur unwahrscheinlicherweise anschließbar machen kann. Die Gesellschaft erfährt sich aufgrund ihrer Vertrautheit mit sich selbst als unbekannt, unerforscht und ungeregelt.
Was mitunter schwer zu erklären, aber dennoch überlegenswert ist, ist, dass sich mit dem Internet die Bedingungen ändern, unter denen Machterlangung und ihre Verteidigung noch funktionieren können. Nicht, dass es nicht geht, sondern: wenn es noch gehen sollte, dann ist es, wenn auch mühsam, nicht überflüssig, sich die Problemsituation für Machtkämpfe etwas genauer anzuschauen.
Kurz formuliert könnte man sagen, dass demokratische Machtkämpfe bislang nur funktionierten, wenn erstens eine Macht schon etabliert ist, die solche Machtkämpfe zulässig macht, das ist gleichsam eine Schutzmacht für Demokratie, die nicht selbst durch Demokratie geschaffen werden kann; und wenn zweitens diese Macht dafür sorgt, dass Entscheidungen getroffen und exekutiert werden können, was nur geht, wenn eine Minderheit Entscheidungen trifft, die für eine Mehrheit relevant sind, ohne, dass diese Mehrheit die einfache Möglichkeit hätte, diese Entscheidungen zu revidieren. Sie hatte zwar sehr wohl die Möglichkeit dazu. Das ging aber nur über die Überwindung von Hindernissen der Organisationsbildung. Diese Hindernisse sind so hoch, dass erfolgreiche und dauerhafte Machtapparate, die Entscheidungsalternativen durchzusetzen versuchen, nur sehr selten zustande kommen können (Beispiel: Die Grünen).
Machtapparate sind auf eine Macht angewiesen, die es ihnen ermöglicht, die Paradoxien, die aus Machtkämpfen resultieren, aus dem Wege zu gehen. Eine dieser Paradoxien ist die notwendige Entmutigung und Deprimierung von politischem Engagement, das jedoch genauso notwendig und unverzichtbar gebraucht wird, damit ein Machtappararat funktioniert. Er muss Anstrengungen unternehmen, um Beteiligung, Partizipation, Engagement zu befördern; und er muss dann noch mal genauso viele Anstrengungen unternehmen, um den Überfluss an Engagement zu unterdrücken, um Entscheidung zu kommunizieren.
Warum muss Engagement deprimiert werden? Das muss geschehen, weil es erlaubt sich, sich durchzusetzen, aber auf der Basis von Argument und Gegenargument kann keine Entscheidung gefunden werden. Zwingende Argumente gibt es nicht. So könnte jeder Schlagabtausch von Argumenten unendlich weiter gehen. Ist aber ein Macht etabliert, die so etwas zulässig macht, dann kann sie sich nur erhalten, wenn sie auch Entscheidungen herstellt, die es der einen Seite ermöglicht, sich durchzusetzen und der anderen Seite es zwar erschweren, aber auch nicht verbieten kann, den Machtkampf erneut aufzunehmen. Die Erschwernisse ergeben sich daraus, dass Entscheidungen immer auch Exkludierungen vornehmen, wodurch sich Hürden der Wiederbeteiligung ergeben.
Und wo Durchsetzungsfähigkeit, Durchsetzungsbereitschaft, Durchsetzungswillen im Machtkampf gegenseitig akzeptiert wird und legitim ist, ist die Deprimierung und Entmutigung von Engagement unumgänglich. Nur die Ermüdung kann es nach sich ziehen, dass eine Seite aufgibt. Damit aber der Machtapparat damit nicht die Bedingungen seines Funktionierens zerstört, muss er zugleich Anstrengungen unternehmen, um Engagement zu ermutigen, zu befördern. So kommt der Machtapparat nicht daran vorbei, auch Mindestregeln für Fairness, für Verständigungsbereitschaft und Komprisse zu erzeugen.
Interessant ist nun der Fall, der sich einstellen könnte, wenn niemand mehr so einfach und dauerhaft exkludiert werden kann und trotzdem gegenseitig ein Einverständnis darüber besteht, es mit Durchsetzung von Entscheidungen zu versuchen. Denn Exkludierung heißt, dass unbrauchbare Themen oder Personen nicht im Machtkampf vorkommen, weshalb exkludierte Personen keine Einspruchsrechte geltend machen können. Das konnten sie bislang deshalb nicht, weil soziale Räume gegeneinander abgrenzt waren und Regeln ihrer Durchlässigkeit kennen, die durch knappe Ressourcen determiniert sind. Das betraf insbesondere die Möglichkeiten der Publizität. Denn Publizität schafft ja die Möglichkeit, andere außerhalb der Reichweite der eigenen Stimme zu adressieren.
Das Internet stell nun für alle Engagierten die Möglichkeit zur Verfügung, sich für einenander immer ansprechbar zu machen. Eine Organisation, die unter diesen Bedingungen immer noch versuchen will, das Engagement zu deprimieren und gleichzeitig zu befördern, zerstört zugleich die Macht, die sie braucht, um Machtkämpfe zuzulassen.
Eben dies ist bei der Piratenpartei gegenwärtig der Fall. Die Partei entpolitisiert sich:
Danke für den Text. Er ist zwar sehr abstrakt, ich hoffe aber trotzdem einen passenden Anschlussgedanken zu finden, und zwar möchte ich mich zu Deinem Ansatzpunkt äußern, „zwingende Argumente gibt es nicht“. Ich habe es so verstanden, dass deshalb der Gegensatz zwischen „deprimieren und befördern“ mit der Folge der Entpolitisierung entsteht. Wenn das falsch ist, spar Dir das Lesen des Nachfolgetextes und funk mich über Twitter an 😉 @_vi_m
Piraten haben sich immer als „das Neue“ gesehen und zum Beispiel von „Altparteien“ gesprochen. Die Mechanismen waren aber die gleichen – und das schreibst Du auch: Ermüdung als Mittel der Entscheidungsfindung. Im Internet ist es schwerer, diese Ermüdung herbei zu führen. Mumble-Sitzungen bis spät in die Nacht, als Bsp.. Um diese Mechanismen abzulösen, hätte einen Sprung in der Gewichtung der Argumente gebraucht, der sie nicht mehr nebeneinander stehen lässt, sondern ihnen eine Form von Dringlichkeit oder Wichtigkeit gibt (Eisenhower Prinzip). Dafür braucht es einmalig eine Entscheidung für einen Weg/ein Tool. Tooldiskussionen gab es ja beileibe genügend – notwendig war eine Diskussion mit dem klaren Kennzeichen, dass sie auf einer Metaebene außerhalb der üblichen Streitereien stattfindet, um dann die Entscheidungsfindung im Konsens zu erleichtern. Unter diesem Vorzeichen kann es dann ein Ende von Diskussionen geben. Dazu ergänzend gab es ja auch den Vorschlag der „Gesetze mit Haltbarkeitsdatum“.
Ich hatte damals die Hoffnung, dass nach den Landtagswahlen ein kurzes Zeitfenster besteht, in dem sich die oben genannte notwendige Diskussion von den Landtagsabgeordneten anstoßen lässt, eben weil es einen Mangel an Strukturen gab.
Der Zug ist aber noch aus einem anderen Grund abgefahren: Piraten scheinen mir das Ergebnis eines Zeitgeistes, wie er früher die Progressives befördert hat – allerdings wenig positiv besetzt, weil Infotainment und (neurotischer) Politaktionismus zum Gründungskanon gehörten, neben den wenigen thematischen Kernpunkten, die ja auch schnell von der Masse des Aktionismus hinweg gespült worden sind. Den Vorwurf der Politikerverdrossenheit und des Demokratiedefizits in Deutschland können die Wenigsten sachlich abwägen oder wirklich nachvollziehen. Die wenig anziehende Einarbeitung in bereits bestehende Argumentationsmuster unterbleibt, alle machen ihr eigenes Ding – und scheitern am ewigen Kampf ohne finale Entscheidungsebene.
Ich gehe deshalb voll mit, wenn Du meinst, dass sich die Partei entpolitisiert, ebenso wie die vielen früheren Anhänger und Sympathisanten.