Wenn der Hund weint: Winterwölfe, erratisch-paranoische Impressionen IV
von Kusanowsky
Seit ich diesen Tweet abgeschickt habe läuft bei Twitter eine fantastische Kaskade von RTs und Favs ab, die zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Postings noch anhält.
Ein erratisches Moment ergibt sich aus der Frage, was das soll. Eigentlich ist dieses Phänomen mit einem Shitstorm vergleichbar. Der Unterschied ist jedoch, dass der Beobachtung eines Shitstorms noch eine Differenz von Information und Mitteilung zugeordnet werden kann. In diesem Fall fragt man sich aber, welche Information man dieser Mitteilung einer Kaskade entnehmen kann. Was könnte denn mit inflationären RTs und Favs noch gemeint sein? Bestätigung für die Witzigkeit des Tweets? Also Kommunikation von Zustimmung, vielleicht eine Art von Applaus, der in einer black-box statt findet?
Eigentlich müsste man eine solche Kaskade als eine Art „soziales Naturereignis“, eine „soziale Himmelserscheinung“ oder als eine Art „übersinnliche Botschaft“ betrachten. Nicht, dass ich glaube, dass es so etwas gibt, aber wie sollte man sonst darüber nachdenken?
Es findet doch eigentlich gar keine Kommunikation statt. Es kommt auch hinzu, dass ich vor dem Zeitpunkt des Abschickens dieses Postings der einzige war, der diese Kaskade bemerkte, denn sie ereignet sich ja nicht in der Öffentlichkeit. Das spricht gegen die Annahme, dass es sich um Applaus handelt.
Vielleicht mag mir jemand beim Nachdenken helfen?
Ach. Ich würde sagen, es ist einfach die Witzigkeit der Phrase, die man an seine Kumpels weitererzählt. Wie wenn man einen Witz gehört hat und den weitererzählen muss/will. Den Applaus bekommt nicht der Witzerfinder sondern logischerweise immer der Witzeweiterzähler. a) in Ermangelung des ersten und b) mit dem Lachen bezahlt kann man ihn weitererzählen. Kettenreaktion eben. Der Witz, die Pointe eignet sich dafür besser (siehe Luhmanns Humor) als ein Satz wie „Bin heute aufgestanden“. Allein Empörung („Atomkraft, nein danke“) hat eine ähnliche Durchschlagkraft, die sie aber nicht aus sich heraus erzeugt. …
@Kusanowsky : ich sehe das – ganz naiv – so: Die Twittermaschine, verärgert darüber, dass Du schon so oft geschrieben und damit behauptet hast, es gebe im Netz und damit insbesondere bei Twitter keine Öffentlichkeit oder sonstwie einen öffentlichen Raum als einen Ort von Aufmerksamkeiten, die Twittermaschine also, sie will Dir eine kleine Lektion erteilen:
Du hast einen Gag formuliert, den alle, die Dir folgen, sofort verstanden und angenommen haben: Der Winter werde uns allen noch lange erhalten bleiben, zum Beispiel mit seiner täglichen Plage des Schneeschiebens, und das bis weit hinein in die kommende Umstellung zur Sommerzeit. Damit hast Du allen Leuten aus der Seele gesprochen. Um das auszudrücken, weil sich die Leute humorvoll durch Deine Bemerkung erleichtert und verstanden fühlen, haben sie ihrerseits Deinen erhellenden Tweet an ihre Follower weiter getweetet mit der schnellen kleinen Hilfe der Retweet-Einrichtung. Nun schmunzelt die halbe Nation zufrieden über Deine kleine humorvolle resignierende Bemerkung zu den Freuden und Leiden des armen Menschen im Winter auf diesem Planeten.
Für eine Twitterweltsekunde bist Du berühmt im Sinne der bekannten Bemerkungen von Andy Warhol oder Beuyss: Jeder ein Künstler und jeder für einen Blitzmoment der öffentlichen Zustimmung berühmt. Es gibt sie eben doch, diese von Dir so abgelehnte Öffentlichkeit, nur hat sie eben heute im MEDIUM der elektronischen Technisierung eine ander FORM.
dieterbohrer grüsst Dich: teilöffentlich, aber gleichwohl sehr herzlich !
Eine solche Kaskade zu erklären ist so vielversprechend, wie Witze zu erklären. Aber vielleicht hilft hier eine erratische Heuristik weiter: ‚Faven‘ heißt: „Hast Du toll gesagt (schön dass da einer drauf gekommen ist)!“ ‚Re-Tweeten‘ heißt: „Hätt ich selber gern gesagt (wenn ich drauf gekommen wäre)!“ Was für Dich als Applaus erscheint, könnte also durchaus einer sein, nur dass sich das Publikum beim Applaudieren nicht unmittelbar gegenseitig beobachten kann. Man kann aber sehen: ‚Der Tweet, den ich grad re-tweeten will, ist schon ein paar mal re-tweetet worden. Da bin ich zwar nicht der erste, aber nochmal schadet ja nicht und falsch lieg ich mit meiner Zustimmung offenbar auch nicht.‘ Es kann aber auch einfach sein, dass der vermeintlich intendierte Applaus nur das nicht-intendierte Echo von Kommunikationen ist, die gar nicht zwischen Dir und den ‚Re-Tweetern‘ stattfindet, sondern zwischen ihnen und ihren Followern. Während die ‚Faver‘ Dich explizit ermutigen wollen, weiterhin witzige Tweets zu schreiben und die ggf. reziproke Follower-Beziehung aufrecht zu erhalten, reproduzieren die ‚Re-Tweeter‘ die Mitteilung als Botschaft an ihre Follower: „In der Auswahl der Dinge, die ich gehört habe und weitersage, gebe ich mich Euch als jmd. zu erkennen, dem es sich lohnt weiter zu folgen und als solcher versichere ich Euch, dass es sich lohnt, diese Mitteilung zu vernehmen (Ich selbst hätt’s nicht besser sagen können)!“ –– Weil es nun aber in Deinem Tweet nicht um eine Tatsachenbehauptung geht und auch nicht um eine Information (im landläufigen Sinne), sondern um die Artikulation eines individuellen Welt- und Selbstverhältnisses in der Gestalt eines, sagen wir, meteorologischen Aphorismus, gibt sich das, was Dir als eine erratische Kaskade vorkommt, nun als die Information zu erkennen, dass das individuelle Welt- und Selbstverhältnis tatsächlich ein kollektives ist. Die sarkastische Ablehnung der Wetterlage (Naturverhältnis) trifft auf die sarkastische Ablehnung des Sommerzeitregimes (Gesellschaftsverhältnis) und wird so zur Pointe: In der Unzeitgemäßheit der einen Sache reflektiert sich die Unzeitgemäßheit der anderen. Dass die Sinnlosigkeit beider in ihrem Zusammentreffen ein vernünftigen Verhältnis in Aussicht stelle, macht die Pointe zum Witz, dessen Echo zur einen (privaten) Seite als Applaus erklingt, zur anderen (öffentlichen) den Prozess der Mutation eines goutierten Zitats zu einem (ephemeren) Sprichwort vernehmen lässt.
Wollte man theoretisch enthüllen, verbal offenbaren, es gebe keine Öffentlichkeit, habe sie aber einst gegeben (in den goldenen Zeiten der Prä-Virtualität), würde man sich eben schon eines Denkfehlers schuldig machen. Demgegenüber sollten diese Alternativ-Offenbarungen vernommen werden: 1. Es gibt keine Öffentlichkeit und es gab sie nie. Das ist offensichtlich verborgen geblieben, oder geheimnisvoll offenbar. 2. Oder: Es gab Öffentlichkeit und es gibt sie nach wie vor. Wenn auch anders als man denkt.
Die Unentscheidbarkeit, die einer Oszillation beider Thesen entspricht, einer Vibration, gründet sich auf folgenden Sachverhalt: Öffentlichkeit ist der Resonanz-Raum, die Echo- und Widerhallkammer des Privaten. Hier repetiert sich, dupliziert sich, das Singuäre als Plurales.
@stromgeist @dieterbohrer @Huflaikhan
Das sind alles sehr interessante Spekulationen. Glaube aber, dass ich noch einmal die Beobachtungssituation analysieren müssste. Das beobachtete Phänomen ist die Kaskade. Sie hält übrigens immer noch an, inzwischen gibt es schon einige pseudo-Paraphrasierungen
Die Wortwahl ist zwar gleich, aber der Text wird von den Benutzern in einem eigenen Tweet übernommen, der wiederum weitere RTs und Favs nach sich zieht, die niemand mehr so leicht weiter verfolgen kann.
Hätten wir es mit einer Bühnensituation zu tun, so kann jeder jeden anderen deshalb als anwesend wahrnehmen, weil jeder jeden als Wahrnehmenden wahrnehmen kann. In dem Fall hätte man es mit einer Art von Öffentlichkeit zu tun und zwar deshalb, weil man vermuten kann, dass das, was jeder wahrnimmt, für jeden Anwesenden ebenfalls wahrnehmbar ist. Aber ob das Fall ist, ob das tatsächlich geschieht, lässt sich nur durch Kommunikation ermitteln. Eine Möglichkeit wäre beispielsweise das Spenden von Applaus. In dem Fall kann man mit hoher Gewissheit annehmen, dass jeder hört, was jeder hört; je lauter, je anhaltender umso aufdringlicher die Gewissheit, etwas gemeinsames zu erleben. Deshalb gibt es ja immer solche erratisch-paranoischen Ausnahemsituationen, wenn z.B. nur einer klatscht, nur einer lacht oder Buh ruft, aber alle anderen nicht.
Diese Twitter-Kaskade ist aber nicht mit so einem öffentlichen Geschehen vergleichbar, sondern scheint mir eher mit oben genannter Ausnahmesituation vergleichbar zu sein, die durch Twitter zum Normalfall wird, weil kein Nutzer bemerken kann, dass eine solche Kaskade abläuft. Die ersten nicht, weil sie die ersten sind und nur unwahrscheinlicherweise nach einiger Zeit feststellen würden, dass sie nicht die einzigen waren, die darauf mit RT und Fav reagiert haben, jeder weitere nicht, weil jeder weitere sich selbst nur als ein weiterer wahrnimmt. Natürlich ist im Laufe der Zeit für jeden weiteren erkennbar, dass viele vorher auf diesen Tweet reagiert haben, aber nicht, dass eine Kaskade abläuft, weil die Verzweigung beim Ablauf der Lawine für niemanden erkennbar wird. Erkennbar wird nur: einer nach dem anderen reagiert auf diesen Tweet und: je später, um so eher wird späteren erkennbar, dass viele vorher darauf reagiert haben. Es zeigt sich für jeden Einzelnen nur eine Reihe von Reaktionen, die nacheinander statt gefunden haben. Die Beobachtung einer Kaskade ergibt sich auch für mich am Anfang erst dann, wenn ich bemerke, dass nicht nur ein Verfolger nach dem anderen reagiert, sondern wenn auch die Verfolger der Verfolger und deren Verfolger reagieren, also solche, die nicht mehr meine Verfolger sind. Nur ich kann auf diese Verzweigung reagieren, indem ich mitteile: eine Kaskade läuft ab. Aber vor der Mitteilung dieser Beobachtung bin ich der Einzige. Und auch nach erfolgter Mitteilung können andere sich nur imaginativ diese Kaskade erschließen (durch meine screenshots), empirisch ist sie für keinen festellbar. Alle anderen sehen etwas anderes und: keiner kann sich darüber klar werden was andere sehen.
Außerdem gilt auch für mich nun, dass ich, wenn solche pseudo-Paraphrasierungen vorgenommnen werden, auch nicht mehr feststellen kann, wie die Kaskade weiter abläuft. Vielleicht könnte man mit einer Twitter-Suchmaschine alle gleich lautenden Paraphrasierungen heraussuchen, aber spätestens die sprachliche Abwandlung dieses Witzes in anderen Tweets ist nicht nachvollziehbar, weil ich die genaue Zeichenfolge nicht kenne.
Handelt sich um Applaus? Keiner der Beteiligten kann wahrnehmen, was andere wahrnehmen, keiner nimmt einen anderen als anwesend wahr, keiner kann sich darüber klar werden worüber sich andere klar werden. Für jeden ist jeder andere abwesend und damit auch alle Referenzierbarkeit durch Resonanz.
Aber die Wahrnehmung der Wahrnehmung spielt doch überhaupt keine Rolle. Bzw. nur für den Forscher. Alles andere ist „Stille Post“ – ich kannte übrigens zuerst die Variante, die ich aber nicht auf Twitter sondern auf Facebook gesehen habe. Wobei mir, wenn mir das erlaubt ist zu sagen, die Variante von Kusanowsky, falls sie denn überhaupt von ihm ist, was aber fürs Werturteil gleichgültig wäre, besser gefällt. Und im übrigen wird der Witz des Aphorismus in Teilen von Kanada und Alaska überhaupt nicht bemerkt.
In allen andren Dingen stimme ich dieterbohrer und stromgeist vollkommen zu und möchte mich bei ihnen für die Analysen sehr bedanken.
„Aber die Wahrnehmung der Wahrnehmung spielt doch überhaupt keine Rolle“
@Huflaikhan für die Imagination von Öffentlichkeit spielt das eine große Rolle. Man könnte sogar sagen: für die Imagination von Öffentlichkeit ist das von entscheidender Bedeutung. Kein Bewusstsein kann wahrnehmen was ein anderes Bewusstsein wahrnimmt. Wahrnehmungen sind völlig isoliert und in einem jeden individuellem Bewusstsein verschlossen. Und diese Bewusstseine sind für einander nicht zugänglich. Allein auf Basis der operativen Möglichkeiten des Bewusstseins ist es unmöglich herauszufinden, ob andere Gleiches, Ähnliche, Vergleichbares oder Anderes wahrnehmen bzw. dass sie überhaupt etwas wahrnehmen. Das geschieht nur durch Kommunikation. Nur Kommunikation kann die Imagination von Öffentlichkeit stabil halten um so eher und wahrscheinlicher, wenn beispielsweise Gewalt im Spiel ist. Aber auch ohne Gewalt kann diese Imagination kommunikativ an Relevanz gewinnen. Das geht über Verstärkung von Wahrnehmungsgehalten, z.B. Applaus, Schreien, Buhrufen oder was immer. Nur so kann für jeden erkennbar werden, dass andere wahrnehmen und was sie höchst wahrscheinlich oder vielleicht sogar offensichtlich wahrnehmen. So kann Öffentlichkeit gut imaginiert werden, und sogar eine reale Wirkmächtigkeit entfalten.
@kusanowsky Deine Analyse der Öffentlichkeits- bzw. Aufmerksamkeitsstruktur der Twitter-Kaskade(n) ist einleuchtend und aufschlussreich. Aber als Begründung für Deine Überlegung „sie ereignet sich ja nicht in der Öffentlichkeit. Das spricht gegen die Annahme, dass es sich um Applaus handelt“ funktioniert sie nicht bzw. nur mit einem inkommensurablen Vergleichspunkt. Treffende Analogien zur nicht-digitalen Kommunikationen haben m.E. @Huflaikhan und @dieterbohrer formuliert, nämlich das Hören und Weitererzählen von Witzen, das ja auch immer ein öffentliches Ereignis ist, während die Art der Öffentlichkeit der Bühne (auf der man natürlich auch Witze erzählen kann) anderer, nämlich institutionalisierter Art ist, die genau die Beobachtungssituation herstellt, auf die Du referierst, um die Differenz zur Twitter-Kommunikation zu markieren. Die nicht-digitale Öffentlichkeitsstruktur eines epidemischen Witzes sieht wahrscheinlich ähnlich aus, wie die Twitter-Kaskade oder wie ein Gerücht, nur dass Twitter nun eine zusätzliche Beobachtungsmöglichkeit eröffnet, die zumindest bis zu einem gewissen Grad die Rückverfolgbarkeit des Wegs der „Stillen Post“ erlaubt, bis auch hier die Spur sich irgendwann im Sand verliert. Weil das wiederum den Kommunikationsteilnehmern bewusst ist, entfaltet sich eine Kommunikationsregel: Wenn man schon weitererzählt und dafür Anerkennung erntet (wie der Witzeerzähler die Lacher und nicht der Witzeerfinder), so zolle man seiner Quelle Tribut durch namentliche Erwähnung. Darum ist die Kaskade auch kein synchrones Phänomen wie ein Applaus im Theater, sondern ein serielles Phänomen, das sich zunehmend verzweigt, weil sich Reaktion und Beobachtung auf ein kommunikatives Vorher und Nachher und nicht eine gemeinsam fokussierte Referenz beziehen, wie auf einer Bühne. Insofern ist die Kaskade vielleicht eher ein mändernder Katarakt. In ihm fließt sozusagen wie ein sich selbst bestätigendes Gerücht das Urteil von der Witzigkeit des Witzes.
@stromgeist Beide Vergleichspunkte treffen nicht die Beobachtung der Beobachtung, weder die Bühnensituation noch das Stille-Post-Verfahren. Die stille-Post ist eine Beobachtungssiutation unter experimentellen Bedingungen, die beobachtbar macht, was geschieht, wenn unter diesen Bedingungen eine Mitteilungskette aufgebaut wird und zwar so, dass einer nach dem anderen in dieser Kette die Aufgabe übernimmt, eine bestimmte Mitteilung auch dann weiterzugeben, wenn durch Wahrnehmungsirritationen Unklarheiten über ihre Eindeutigkeit entstehen. Am Anfang (wichtig schon dies: es gibt einen feststellbaren Anfang unter diesen Bedingungen) wird eine Mitteilung in einen Kreislauf geschickt, die durch Verzerrung von Mitteilungsverhalten und Wahrnehmung nach und nach ihre Bedeutung verschiebt, was man allerdings nur bemerken kann, wenn man ein Ende setzt und die Anfangsmitteilung mit einer Endmitteilung vergleicht. Dieses Stille-Post-Verfahren mag allenfalls in sehr reduzierter Form eine logische Struktur auswerfen, durch die erkennbar und erklärbar wird, dass sich Mitteilunng, Inhalt und Bedeutung durch Verzerrung verschieben. In diesem Fall ereignet sich eine lückenlose zeitliche Folge von Zurodnungsoperationen, die sich in jedem Fall auf eine Differenz von Information und Mitteilung beziehen. Dieses Experiment zeigt sehr gut, dass es für die Kommunikation gar nicht darauf ankommt, was kommuniziert wird. Denn durch die heimlichen Verzerrungsvorgänge soll ja das „Was“ der Mitteilung ersetzt werden durch die Beobachtung der Verschiebung des Mitgeteilten unter der Voraussetzung, dass die kommunikative Situation als inszenierte Siutation ihre Anschlussfähigkeit schon hergestellt hat. Also: das Stille-Post-Verfahren ist eine experimentelle Siutation die eine sehr reduktive Imagination von Kommunikationsverläufen plausibilisiert.
Aber für eine Twitter-Kaskade sind die Voraussetzungen ganz andere. Im Kommentar von @Huflaikhan war zu lesen, dass er eine Variante dieses Witzes schon kannte, was ja heißen könnte, dass mein Tweet nur ein Ereignis in einer bereits ablaufenden Kaskade war. Dass mein Tweet also selbst schon eine Paraphrasierung war. Aber: damit allein kommt ja noch nicht die Beobachtung der Kaskade zustande, sondern sie kommt durch die Beobachtung dieser Beobachtung zustande. Diese Doppelstruktur kann aber von keinem Nutzer eigenmächtig hergestellt werden. Und eine zentrale Direktion der jetzt ablaufenden Kommunikation findet nicht statt, wie auch keine Planung, Konspiration oder Konzeption vorher gegangen ist.
Deshalb war ja meine Frage anfangs: womit habe ich es zu tun? Welchen Unterschied von Information und Mitteilung könnte man auf welche Instanz zurechnen, wenn man diese Kaskade beobachtet? Auf den Willen der Götter? Wohl nicht. Auf den Willen von Menschen? Und welchen? Und wenn diese Frage nur hochspekulativ beantwortet werden kann, so liegt die Vermutung nahe, dass eine Imagination von Öffentlichkeit nur sehr schwer durchgehalten werden kann. (Was natürlich sehr wohl heißt, dass Öffentlichkeit trotzdem ein Thema der Kommunikation sein kann.)
Dort wo die Imagination von Öffentlichkeit Aufmerksamkeitsresonanzen erzeugt, (zugespitzt: durch Gewalt oder Gefahr) kann einem die Imagination von Öffentlichkeit leicht fallen. Aber was ist für den Fall, dass ziemlich viele Imaginationsmöglichkeiten jederzeit möglich sind? Was sich ja durch deinen Kommentar und den von @Huflaikhan und @dieterbohrer zeigt. Jeder spekuliert was anderes. Und der Einwand, es seien ja gegenseitig Zustimmungsbekundung festellbar, wodurch sich zeigt, dass nicht jeder etwas ganz anderes spukliert, hat ihre Berechtigung nur dann, wenn für alle Beteiligten klar wäre, dass pseudonyme Mehrfachbeteiligung ausgeschlossen ist. Aber wie sollte man das auschließen, wenn jeder für jeden abwesend ist und jeder einen Zugriff auf eigene Textbeiträge jemanden überlässt, der von sich selbst zur Auskunft gibt, Mehrfachbeteiligung jederzeit zuzulassen?
Nachtrag zum Thema Mehrfachbeteiligung:
eine anhaltende irritation.
Der Stillepost-Vergleich leuchtet mir auch nicht so recht ein, weil das Spiel nur unter sehr bestimmten Voraussetzungen vonstatten gehen kann. Das kann man erkennen, wenn es parodiert wird.
@Kusanowsky
„womit habe ich es zu tun? Welchen Unterschied von Information und Mitteilung könnte man auf welche Instanz zurechnen, wenn man diese Kaskade beobachtet? Auf den Willen der Götter? Wohl nicht. Auf den Willen von Menschen? Und welchen?“
Könnte man evtl. sagen, es geht allein um den „Willen zur Kommunikation“ oder um einen „Willen der Kommunikation“?
Ich weiß nicht ob die Kommunikation einen Willen hat. Wenigstens scheint mir aber, dass die RT- und Fav-Anschlussoperationen nichts mehr darüber aussagen, was die Menschen noch wollen. Denn das könnten sie ja einfach mitteilen. Dieses Kaskadenphänomen wird ja deshalb auffällig, weil massenweise Anschlussoperationen aufkommen, die nur darüber informieren, dass weitere Anschlussoperationen stattgefunden haben, also gleichsam nur Information über Information. Und sonst nichts. Was auch immer man darüber äußern möchte, was mit „Fav“ oder „RT“ gemeint sein könnte, es sind sehr viel Spekulationen möglich und zulässig. Und gerade diese vielen Spekulationen ergeben kein einheitliches, kein kohärentes und schon gar kein öffentliches Bild über den Willen von Menschen.
Mir scheint, dass so eine Kaskade sehr gut geeignet ist um zu zeigen, dass es eben nichts mit dem „Was“ der Kommunikation zu tun hat, weshalb es auch nichts bringt, das „Was“ des Witzes, also die Pointe zu klären um eine Motivstruktur aufzudecken. Denn nicht, weil die Pointenerklärung völlig überflüssig ist, sondern weil sie nichts zu der Frage beiträgt, wie die Kommunikation möglich ist, wenn nicht mehr erkennbar ist, was die Menschen eigentlich noch sagen oder mitteilen wollen. Unter Anwesenden könnte man noch lachen um Gratifikation zu signalisieren oder was immer. Wenigstens erwirkt das hörbare Lachen unter Anwesenden beobachtbare Affektstimulationen, bzw. Rückkoppelungskommunikation.
Aber hier?
Die Stille Post als Vergleich ist hier tatsächlich irreführend aus den von Euch genannten Gründen. Ich hatte es auch nicht als Vergleichspunkt im selben Sinne gemeint wie das Theater, vielmehr als Metapher, deshalb hatte ich es Anführungszeichen gesetzt und damit nicht die (un/bekannten) Regeln des fraglichen Sprachspiels, sondern dessen Prozess-Resultat adressieren wollen.
Zur Frage, womit man es hier nun zu tun hat, fand ich eigentlich eine Idee in dem Ausgangsbeitrag sehr ansprechend: “soziales Naturereignis”, und zwar insofern man die Natur hier als zweite versteht: Produkt zwar sozialer Handlungen, mithin ‚Konstrukt‘, zu dem aber der Konstrukteur fehlt, insofern ‚Gewordenes‘ und nicht ‚Gemachtes‘, also ‚Natur‘ ist, Natur zweiter Ordnung.
Noch ein, zwei Sachen, die man bei den Fragen/Analysen hier noch mit bedenken müsste: 1. Außer Kusanowsky gibt es noch einen instantanen Beobachter der Kaskade vor ihrer öffentlichen Beobachtbarkeit und das ist die Twitter-Maschine selbst, die Dir ja die kaskadierenden Interaktionen meldet. Selbst wenn Kusanowsky also die Beobachtung versäumt hätte, würde ein ensprechender Algorithmus die Kaskade verzeichnet bzw. erzeugt haben. Und 2. ist nicht nur die Abwesenheit der Kommunikationsteilnehmer ein spezifisches Phänomen des Kommunikationsvorgangs, sondern auch ein neuer Modus von Anwesenheit: Jeder Twitterer kommunziert im Bewusstsein einer (wie auch immer wahrscheinlichen) Beobachtung seiner Kommunikation (mit Fremden oder Bekannten) durch abwesende Anwesende, also eine unbekannte Anzahl unbekannter Zeugen. Wenn das die „paranoische“ Kommunikation kennzeichnet, ist sie dann nicht ein allgemeines Merkmal massenmedialer Öffentlichkeit?
„Wenn das die “paranoische” Kommunikation kennzeichnet, ist sie dann nicht ein allgemeines Merkmal massenmedialer Öffentlichkeit?“
Bestimmt. Bereits Massenmedien machen Öffentlichkeit nur als imaginierte Realität populär. Daher kommt ja dieser Wahnsinn, mit dem niemand so richtig zu recht kommt, denn schon Massenmedien verändern die Realität der Öffentlichkeit in eine Fiktion dieser Realität, dies gleichwohl unter der Voraussetzung, dass diese Fiktionen für Menschen von enormer Bedeutung sein können. Man denke dabei an dieses Übertreibungsphänomen des faschistischen Antisemitismus, der ja eine völlig durchgeknallte und genauso wirksame Paranoia war. Aber das ist nur das Übertreibungs- und Überbietungsphänomen. Auch ohne diese Übertreibung kann man sehen, dass Öffentlichkeit nur als Fiktion von realer Bedeutung ist. Um so mehr, wenn nicht nur Angst die Kommunikation determiniert, sondern auch Hoffnung. Und von Utopien und Heilewelt-Propaganda bekommen wir täglich eine Überdosis gefixt.
Aber richtig interessant wird es dann, wenn diese paranoischen Überbietungsphänomene noch einmal überboten werden, nämlich durch ein Massenmedium für Massenmedien aka Internet. Jetzt fängt die Frage an interessant zu werden, ob man dem paranoischen Beobachten und Wahrnehmen Vertrauen schenken kann, weil ja Gewalt aufgrund der Bildschirmfesselung nicht mehr so einfach durchgesetzt werden kann. Aber noch immer sind Angst und Hoffnung enorm akzeptabel. Und solange das so bleibt, werden die Möglichkeiten einer sozialen Serendipität kostenaufwändig verschenkt.
„Und solange das so bleibt, werden die Möglichkeiten einer sozialen Serendipität kostenaufwändig verschenkt.“
Geht´s bei Serendität nicht gerade um eine Art der Gabe, des Geschenks, die mit klassisch ökononischen Kosten-Nutzen-Adäquationen bricht, weil sie ein exzessive Unverhältnismässigkeit des Nutzens gegenüber den Kosten einführt?
Und damit beide Kategorien selbst transzendiert.
Wenn man annimmt, dass sie eine Kunst des Sich-Schenkenlassens (ohne dass doch dafür im klassischen Sinne noch etwas meisterlich gekonnt werden müsset) bezeichnet, gewinnt die obige Formulierung eine umso größere Prägnanz, denn eigentlich sollte doch denken:
Serendipität kann man sich nur schenken lassen, sie kann einem, als Gratisgabe allenfalls in den Schoß fallen. Ihre Aneignung als Methode zerstört sie. Man kann sie somit nur zum Fenster hinauswerfen, um sie zu gewinnen.
„Man kann sie somit nur zum Fenster hinauswerfen, um sie zu gewinnen.“
Genau das meine ich. Einfach zum Fenster raus werfen. Dann wären die Möglichkeiten der Serendipität auch verschenkt, aber sehr viel kostengünstiger.
Zufall ist quatsch, bzw. normal. Denn wer will noch einen Mangel an subjektiven Erkenntnisgründen anführen wollen, wenn erstens eben doch erkannt wird, was erkannt wird und wenn zweitens anschlussfindungsmäßig Erkennung von Erkenntnis geschieht?
Bei diesem Witz geht es um eine kommunikativ stabil gehaltene Imagination, die sich nicht auf das „Was“ des Witzes (die Pointe) bezieht, sondern auf die Durchhaltefähigkeit einer Imagination, nämlich auf die Imagination von Kommunikation.
Nicht um eine kausale Reihe von Ereignissen handelt es sich, wengleich wir gewiss aufgrund von Leiblichkeit zeitanfällig sind und uns darum leicht und naiv vergewissern können, dass eins nach dem andern geschieht, sondern um eine gleichsam „gegenkausale“ Kausalität. Gemeint ist damit, dass die Endlichkeit nicht die einzige Möglichkeit ist. Zumal Ewigkeit auch ein Begriff ist. Gleichzeitig ist nicht nur möglich, sondern auch normal. Und sie ist keine Ausnahme. Alles was geschieht, geschieht gleichzeitig.
Deshalb: notwendig ist das alles nicht mehr. Und wenn man dennoch Notwendigkeit als Limitierungsmöglichkeit anführen möchte, kommen solche Argumente nicht mehr daran vorbei, auch einen Kontingenzbegriff kontingent zu setzen.
Was bleibt noch wenn nicht die Götter, nicht die Menschen ihren Willen bekannt geben? Wenn die Ereignisse normal aber unvorhersehbar, merkwürdig, aber regelmäßig-chaotisch in Erscheinung treten? Wenn eben doch geschieht, was man überraschenderweise erwarten kann und wenn man trotzdem noch überrascht werde kann von Erwartung?
Die operative Integrität der Kommunikation bricht auseinander. Die Trias von Information, Mitteilung und Verstehen hält nicht mehr.
Aber es frage mich bitte niemand ob ich davon überzeugt bin.
„Wenigstens erwirkt das hörbare Lachen unter Anwesenden beobachtbare Affektstimulationen, bzw. Rückkoppelungskommunikation. Aber hier?“ Natürlich bewirken „likes“ und Sternchen Affektstimulation. Die Affektstimulation ist sogar funktional eingeplant in die Plattformen und ein wesentlicher Bindestoff der Kommunikation.
„Die operative Integrität der Kommunikation bricht auseinander. Die Trias von Information, Mitteilung und Verstehen hält nicht mehr.“ Trias oder Quart? Vielleicht ist ja eine wesentliche Funktion der Kommunikation das Etablieren von Beziehung vor jeder Bezugnahme? Ich würde mal vorschlagen, die Unterhaltungen von weniger philosophisch gestimmten Menschen zu verfolgen: das Meiste ist und soll auch nicht mehr sein als Ausdruck von Emotion, Kommunikation eigener Gefühlslagen (gibt auch Statistiken, wie oft am Tag man Ich-Aussagen verlautbart). „Likes“ sind der Gipfel der inhaltlichen Leere, ein bloßes in die Hände klatschen oder eben „Daumen hoch“, aber dadurch auch wunderbarerweise unmissverständlich – man kann ein bloßes „Like“ nicht ironisch handhaben.
Genau solche Formen der diffusen Zustimmungen sind in der personal-direkten Kommunikation das A und O. Sie läuft dort über Mimik, Gestik, sinnlere Laute etc. Man könnte sagen: Sternchen sind Mimik-Ersatz wie die ganze Batterie an Smileys (hat mich mein Sohn vor einer Weile drüber aufgeklärt, wie unglaublich wichtig für die Jugend die Verwendung der Emoticons in SMS ist, um die nackte und nüchterne Schriftlichkeit sozusagen in den richtigen emotionalen Kontext zu stellen.)
„Bald haben wir Sommerzeit … etc.“ ist von daher natürlich außerhalb der Trias, aber nicht außerhalb der Quart. Ziel des Dauer-Kalauerns ist ja das Einsammeln von Likes als Bestätigung dafür, dass die Kommunikationsbeziehungen entstehen/noch bestehen. Sie spannen emotionale Netze, die dann – wenn dies mal nötig erscheint – für die Trias genutzt werden können. Das Nähegefühl legt quasi die Basis für die danach mögliche Trias-Kommunikation. Man redet eben lieber mit Leuten, die einen mögen – sonst gibt’s Streit und Frust.