Die Chaoskommunikation des Netzes
Was wäre, ernsthaft gefragt, wenn die Gesellschaft feststellbar macht, dass Kommunikationen der Veränderung ablaufen und sie zugleich die Möglichkeit beobachtbar macht, dass nichts und niemand sich verändern will oder kann? Mindestens aber niemand die Bereitschaft zeigt, außerhalb von Meinungspropaganda, die sich auf Veränderungswünsche bezieht, das eigene Verhalten zu ändern, weil das keinem so einfach gelingt. Denn in einer komplizierten Welt mögen vielleicht auch Unterlassungshandlungen so viele weitere Komplikationen erzeugen, dass sogar die Enthaltung in die Irre führen könnte.
Ein Ergebnis dieser Differenz zwischen Kommunkation der Veränderung und Nichtveränderung der Kommunikation könnte diejenige Paradoxie sein, deren Entfaltung sich in der Chaoskommunikation des Netzes widerspiegelt.
Daraus könnte man die Frage ableiten, ob auf der Basis dieser Chaoskommunikation neue Formen überhaupt entstehen können? Gemeint wären Formen von Literalität und Intellektualität, die an diese Bedingungen angepasst sind, und welche nicht einfach nur Adaptionen darstellen, die sich aus der Dokumentform ergaben.
Das Nachdenken könnte man in zwei Linien gliedern. Die erste stellt die Frage nach den Limitationen der Dokumentform und retrospektiv verfolgbare Strategien der Erweiterung ihrer Kapazitäten trotz dieser notwendigen Limitationen. Die zweite könnte die Frage sein, woran sie schließlich scheitern musste, wenn die Transzendierung der Selbstlimitierung gelingt, und wodurch sich neue Limitationen ergeben, wenn man Zeitverzug und allgemeine Belastbarkeit des Körpers als notwendige Bedingungen ausklammert. Wie Frage könnte man auch ganz banal so stellen: Was kann man noch lernen, wenn sowohl die Kontingenz wie die Geschwindigkeit aller Selektionsleistungen nur noch schwer einschränkbar sind? Wenn Strukturen, die Einschränkbarkeit garantieren könnten, aufgrund eines sozialen Lernprozesses relativ unbekannt sind?
Denn eine triviale Form der Kritik erzwingt immer mehr Entmutigungen und damit Urteilslosigkeit. Eine härtere Form müsste Ermutigung befördern, damit sich eine kreative und disziplinierte Intelligenz daran schärfen kann. Und andersherum: nur wenn eine Intelligenz ermutigt wird und sich schärfen kann, ist eine härtere Form möglich.
Aber wie und wodurch?
Die erste Antwort, die mir dazu einfällt, ist, dass man mit der Ratlosigkeit, mit der eigenen genauso wie mit der aller anderen, rechnen müsste und dass es ratsam wäre, sie nicht zu beseitigen, sie nicht der Beobachtung zu entziehen, sie nicht zu vermeiden, sondern sich ihr dadurch aussetzen, dass man mit ihr spielt und schaut, ob das Zugeständnis der Ratlosigkeit als Regelfindungsbedingung anschlussfähig ist. Man bedenke schließlich, dass die Rat- und Hilflosigkeit nicht allein eine individuelle Ratlosigkeit ist, sondern mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit weit verbreitet sein muss, damit sie überhaupt in die Kommunikation gebracht werden kann, dass also Ratlosigkeit selbst sozialer Herkunft ist. Alle Beteiligten müssen irgendwie schon wissen können, dass Ratlosigkeit angesichts der Chaoskommunikation überhaupt thematisierbar ist, das heißt: sie muss schon verstanden sein, damit sie verstehbar wird. Das bedeutet mithin, dass die Ratlosigkeit ein Erfahrungsmoment der Strukturen der Internetkommunikation ist. Sie ist nicht ihr Defizit. (Man kann aber feststellen, dass sich die Internetkommunikation gerade durch die Feststellung dieses Defizits fortsetzt und dabei folglich die beklagte Ratlosigkeit reproduziert, wie hier zu bemerken war.)
Der Vorschlag könnte lauten: Ratlosigkeit wäre als Erkenntnisfortschritt zu sehen. Sie wäre, genau wie die Überraschung, wie der Ärger über Internettrollerei ein soziales Serendipitätsphänomen. Wenn diese Einsicht auch nicht zur Steigerung eines Hurra-Optimismus‘ tauglich ist, so könnte sie wenigstens dabei helfen, den blinden Fleck derer zu erhellen, die sich dieser Einsicht widersetzen und nach wie vor versuchen, eine Widerstandsfähigkeit nach den Limitationen der Dokumenform zu organisieren. So ist es einfacher, ihr Scheitern gelassener zu begutachten, wohingegen die Scheiternden selbst diese Gelassenheit nicht übernehmen können, solange sie sich nicht ihrer Problemverwaltung entziehen.