Schamgefühl und Öffentlichkeit
von Kusanowsky
Wie sehr die Interkommunikation ihre Nutzer dazu bringt, von der modernen Disziplin der Kritik umzustellen auf die Diszplin einer Paranoik oder Erratik zeigt sich auch durch die immer wiederkehrenden Versuche, Adressen, die durch die Internetkommunikation emergieren, wegen ihrer angeblichen Selbstdarstellung zu disqualizieren.
Man kennt solche Disqualifizierungsversuche. Weil die eignen kritischen Argumente nicht mehr ausreichen, um den Gegenstand der Kritik durch Kritik aus der Welt zu schaffen, bleibt nichts anderes übrig als der Versuch Adressen zu beschädigen. Das kann gelingen, solange erwartbar bleibt, dass Adressen durch beleidigungsfähige Subjekte gesteuert werden. Das wird spätestens dann zur Farce, wenn man feststellen muss, dass man auf der anderen Seite gar keine Kränkungsfähigkeit mehr antrifft. Noch bevor aber darüber eine verlässliche Information ankommt, kann man schon bemerken, dass die Internetkommunikation das zerstört, das früher unter intersubjektiver Distanz bekannt war, abstrakt bezeichnet mit dem Begriff „Schamgefühl“.
Das Schamgefühl des kritischen Subjekts ist ein psychischer Selbstdeterminierungseffekt, der sich durch ein Beobachtetwerden in der Öffentlichkeit einstellt und darum durch Referenzstrukturen der Fremdlegitimierung in seiner affektiven Belastung minimiert wird. Da dieser Profit aus dieser Minimierungsleistung doppel kontingent anerkannt wird, ergibt sich daraus wie von selbst eine Regel, durch die das potenzielle Schamgefühl gar nicht mehr entsteht, weil durch die Regel der Fremdlegitimierung, welche bei Strukturgewinnung als immer von voraus gesetzt angenommen wird, die gegenseitge Rücksichtnahme schon hergestellt wurde.
Aber damit ist die Potenzialität Schamgefühls gar nicht verschwunden, sondern nur inhibiert und bricht sofort bei Beobachtung eines Regelverstoßes wieder auf. Der Regelverstoß tritt ein, wenn eine Fremdlegitimierung der öffentlichen Wirkung eines anderen nicht mehr so leicht festgestellt werden kann. Für diesen Fall hat die Gesellschaft vorgesorgt und dem kritische Subjekt das eigenmächtig das Recht zugeteilt, den anderen ob dieses Regelverstoßes öffentlich zu disqualifizieren, weil man annehmen könnte, der andere sei ebenfalls ein kritisches Subjekt. Und diese Sanktion geschieht notwendigerweise gemäß einer eigenen Selbstdarstellung. Denn auch diese Sanktion geschieht gleichsam „schamlos“; man kann ja rein pragmatisch nirgendwo um die Erlaubnis dafür bitten, einen anderen zu disqualifizieren.
Denn eben darin besteht ja der Mythos der autonomen „Gerichtsbarkeit der Diskurse“. Er besagt eigentlich, dass freie und autonom handelnde und darum verantwortliche Subjekte sich in der Öffentlichkeit begegnen und nach Maßgabe eigenen Verstandesmutes Kritik üben. So zeigt es sich im Fall der Disqualifizierung des Selbstdarstellers, dass die Regeln der Diskurse eben nicht durch autonom handelnde Subjekte bestimmt werden, sondern durch diese Diskurse selbst. Aber um dieser Einsicht aus dem Wege zu gehen wird der Mythos aufgrund eines schon stattgefundenen Regelverstoßes durch einen weiteren Regelverstoß reaktiviert. Weshalb auch nur schwer erkennbar ist, dass die eigenmächtige Disqualifizierung eines Selbstdarstellers eigentlich eine Selbstdisqualifizierung ist.
Die Disziplin der Kritik bringt eigenparasitäre Beobachtungsverhältnisse hervor.
Ein Fall von Disqualifizierung eines Selbstdarstellers findet sich in dem Artikel Wie ein Pirat Wikipedia enterte. Dabei geht es um die Adresse „Dietmar Moews“. Um welche Person es dabei auch immer gehen mag, man kann den Eindruck gewinnen, dass es sich dabei um einen Räuber Hotzenplotz des Internets handelt, einen harmlosen und drolligen Räuber. Sein Verhalten macht darauf aufmerksam, dass er durch Simulierung von Kritik die Erwartungen einer kritischen Disziplin unterläuft und zwar ohne anonym bleiben zu wollen.
Dieser Fall von Disqualfizierung zeigt auch, wie stabil noch die Formen der Kritik imaginiert werden können. Denn dass es sich bei dem genannten Artikel im Wiki-Watch-Blog um Kritik handelt, die ausreichende Vernünftgründe für das Urteil gegen Dietmar Moews darlegt, lässt sich nur noch imaginieren.
Daher scheint mir die Imagination und die Steigerung ihres Deutungs- und Erklärungsmöglichkeiten der ideale Ausgangspunkt für eine Disziplin der Paranoik (Erratik) zu sein. Denn ein erstes Merkmal einer Paranoik als eine auf Internetkommunkation angepasste Kommunikationstechnik besteht darin, die Regelschemata kritischer Diskurse performativ aufzudecken, indem man den sich immer noch zeigenden Imagationen über das kritische Subjekt mit anderen Imaginationen begegnet.
Mir scheint, der moderne Gottglaube bezieht sich auf Öffentlichkeit als unumstößliche letzte Hoffnungsinstanz. Überall werden Missstände aller Art bemerkt, und die Hoffnung ist dann, das alles müsse mal an die Öffentlichkeit kommen, damit sich das ändert. Die Öffentlichkeit wäre eine letzte Wahrheits- und Richterinstanz, die sich nicht irren kann und die gerecht und nichtkorrumpiebar die Guten von den Schlechten trennt.
Da nun die Öffentlichkeit irgendwie von diesen Misständen nichts will, obgleich alles, was bekannt wird, öffentlich bekannt ist, dürfen sich Propaganidisten aller Art dazu ermutigt fühlen, nun selbst an die Öfffentlichkeit zu gehen um ihre Botschaft zu überbringen. Beispiel: Sarrazin und solche Leute: „Ich gehe damit an die Öffentlichkeit. Achtung jetzt komm ich!“ Aber woher wisen sie denn von all dem, was sie propagieren? Natürlich aus Veröffentlichungen aller Art, die offensichtlich öffentlich nicht bekannt seien, weshalb diese Belehrer nun endlich mal sagen wollen, was sich niemand öffentlich traut zu sagen.
Und sieht man dann zu, wie diese Propagandisten auf Beobachtung anderer reagieren, dann stellt man fest, dass ihnen diese Zumutungen gar nicht gefallen. Sie kommen jederzeit mit Zumutungen daher („Kopftuchmächen“) und möchten dafür Applaus erhalten. Nun stellen diese Leute fest, dass auch Buh-Rufe genauso normal sind, aber das nehmen nun als unangemessene Zumutungen, wenn man etwa Sarrazin als Rassisten bezeichnet. Das gefällt ihm plötzlich nicht.
Und ich überlege: wenn man schon meint, dass es eine solche letzte Hoffnungsinstanz gäbe, dann käme man damit nur dann zu recht, wenn man lernt, die Buh-Rufe als Applaus und den Applaus als Buh-Rufe aufzufassen. Denn dieser ganze Hoffnungsglaube ist so paradox, dass man darauf mit paranoisch-paradoxem Verhalten reagieren müsste. Aber das ist zu riskant und macht so leicht keiner. Das dürfte sich ändern, wenn dieser Hoffnungsglaube peu a peu zertrümmert wird. Dann hört zwar diese Propaganda nicht auf, aber vielleicht kann man dann anfangen, sie zu genießen. Weil man ja lernt, dass es eigentlich auch egal ist, was öffentlich bekannt ist, weil ja nichts von dem was bekannt ist, nicht-öffentlich bekannt ist. Oder man stellt um sagt: alles, was öffentlich bekannt ist, ist nicht bekannt. Aber das geht dann nur, wenns auch egal ist ob das stimmt oder nicht.
Die antike und mittelalterliche Zeit kannt die Sünde des Hochmuts. Diese Verfehlung hatte im Zusammenhang der alten Anthropologie eine wichtige Bedeutung. Sie bestand darin, dass Misstrauen gegen alles Menschenvermögen dadurch zu rechtfertigen, dass Menschen prinzipiell gnadebedürftig sind und darum über den Willen der Götter informiert sein müssen, über den sie aber prinzipiell keine eindeutige Auskunft bekommen können, weil ja die Zeichendeutung nur in Ausnahmefällen zweiwertig codierbar ist, aber diese Code für die Ermittlung des göttlichen Willens entscheidend war.
Was macht aber eine Gesellschaft, die den Ausnahmefall zum alles entscheidenden Normalfall erhebt und darum nur schwer zu rechtfertigen ist? Sie sanktioniert alle Eigenmächtigkeit entweder so, dass ein Mensch im positiven Fall selbst göttlicher Abkunft sein musste (wie etwa Kaiser Augustus), oder er wird als hoffärtig, hochmütig disqualifiziert und entsprechend mit Bußauflagen bestraft. Beides, sowohl die Vergöttlichung als auch die Bestrafung, war eingebettet in Vermeidungsstrukturen der alten Zeit, durch die dauerhaft ein Vertrauensfindungsprozess in Menschenvermögen blockiert werden konnte.
Für die moderne Gesellschaft war dieses Entweder-Oder nicht mehr haltbar, sondern wurde differenzierter behandelt.
Wenn Menschenvermögen vertrauensfähig ist, dann muss sich eine Sanktionsinstanz finden lassen, durch die Menschen motiviert werden können, sich mit Selbstbeschränkung zu begnügen um seine Vertrauensfähigkeit rechtfertigen zu können. Diese Sanktionsinstanz als Selbstsanktion besteht darin, sich auf ein Risiko einzulassen, nämlich auf das Risiko, Aufmerksamkeitsgewinne einzufahren, also etwas, dass man weder kaufen noch rauben kann. Aufmersamkeit muss einem geschenkt werden und kann erst belohnend akzeptiert werden, wenn jeder Verdacht ausbleibt, der Aufmerksamkeitsgewinne als Ergebnis eines Raubes oder eines Tausches nahelegen könnte.
Das Risiko besteht darin, sich dieser Aufmerksamkeitsfalle zu stellen und ihre erfolgreiche Vermeidung als Menschenglück zu idealiseren, wie Friedrich Schiller in der berühmten Ode an die Freude poetisch thematisiert:
Wem der große Wurf gelungen,
eines Freundes Freund zu seyn;
wer ein holdes Weib errungen,
mische seinen Jubel ein!
Ja – wer auch nur eine Seele
sein nennt auf dem Erdenrund!
Und wer’s nie gekonnt, der stehle
weinend sich aus diesem Bund!
http://de.wikisource.org/wiki/An_die_Freude_%28Schiller%29
„Soll ich andere darstellen?“ . Nein, sondern der integere, vertrauenswürdige Menschen sollte sich dem Risiko unterwerfen, von anderen eigenmächtig promoviert zu werden, also auf ein unwahrscheinliches Geschenk zu hoffen.
Und in dem Maß, wie sich daraus Strukuturen (Erwartungshoffnungen) ergeben, die bei Erfolg normbildend wirken, verhärten sich entsprechende Folgewirkungen zu anders gelagerten Vermeidungsstrukturen, die insbesondere auch noch den paranoischen Punkt des Beobachtetwerdens betreffen. Und wenn inzwischen immer deutlicher wird, dass das Beobachtetwerden der unverzichtbare Normalfall ist, dann werden solche Vermeidungsstrukturen schwerer nachvollziehbar.
Insofern ist die Frage dieses Tweets durchaus hübsch. Sie lässt erkennen, dass diese Zusammenhänge gar nicht mehr selbstverständlich sind. Jetzt stellt sich langsam diese Vermeidungsstrukturen als Irrtum heraus.
(transzendentaler Vermeidungsirrtum).
»Aufmerksamkeit muss einem geschenkt werden und kann erst belohnend akzeptiert werden, wenn jeder Verdacht ausbleibt, der Aufmerksamkeitsgewinne als Ergebnis eines Raubes oder eines Tausches nahelegen könnte.«
Wichtiger Punkt. Erinnert mich an die Theorien rund um die Gabe.
Weitergedacht hieße das dann, daß Selbstmarketing nicht funktioniert/goutiert wird, wenn es als solches zu erkennen ist. Andererseits wird sie das jedoch immer mehr angesichts des Selbstanpreisungsdruckes bzgl. Arbeitsmarkt, Freundschaftsmarkt, Liebesmarkt usw. Gleichzeitig damit verliert es seine Anrüchigkeit (und setzt damit die Entwicklung der Ent-Totsünde-igung, ausgehend von der Hoffart, nur fort).
Daraus würde wiederum folgen, daß die Wirkung der Selbstdarstellung/-anpreisung bzgl. der erhofften Aufmerksamkeitsgewinne schwindet.
„Weitergedacht hieße das dann, daß Selbstmarketing nicht funktioniert/goutiert wird, wenn es als solches zu erkennen ist.“
Genau. Die Selbstdarstellung in dem Maße weniger lächerlich wie weniger anrüchig wird. Die interessante Frage ist dann nur, wodurch diese Differenz ersetzt wird.