Die Doppelstrategie der Zeugen Jehovas
Jeder kennt die kommunikative Doppelstrategie der Zeugen Jehovas: Der erste Weg ist das unangemeldete Klingeln an der Wohnungstür, verbunden mit der aufdringlichen Ansprache: „Guten Tag, wir möchten gern mit Ihnen über Gott sprechen.“ Der zweite, der diesem diametral entgegen steht, ist das Herumstehen von Zeugen Jehovas in der Fußgängerzone, die dort ihre „Wachtturm“-Postille stumm und unaufdringlich vorzeigen.
Das besondere an dieser Strategie ist ein massenmedial wirksamer Aufmerksamkeitserfolg, ohne, dass diese Religionsgemeinschaft selbst einen Zugang zu Massenmedien hätte, durch welche sie eine entsprechende Eigenpropaganda herstellen könnte. Alle beobachten das, kennen das, wissen davon. Und unabhängig davon, welche Meinung man darüber hat, muss man zugestehen, dass dieses Verhalten ob seiner Widersprüchlichkeit enorm erfolgreich ist. Alle kennen die Zeugen Jehovas.
Der erste Weg beschreibt eine Zudringlichkeit, die die Privatssphäre berührt, ohne sie zu verletzen, denn das Klingeln an der Wohnungstür ist keine Regelverletzung. Vielmehr wird mit dieser unverlangten Ansprache nur ein Erwartungszusammenhang aufgedeckt. Man erwartet Wichtiges, Zweckmäßiges, mindestens erwartet man, dass eine Begegnung mit Unbekannten an der Haustür eine Regel erkennbar macht, von welcher sich die Legitimität der Ansprache und Relevanz der Themenwahl ableiten lässt. Daher nicht selten der Verdruss und der Eindruck der Belästigung, gegen die man aber nichts machen kann, weil gegen keine Regel verstoßen, sondern nur ein Erwartungszusammenhang durch Enttäuschung aufgedeckt wird.
Der zweite Weg beschreibt eine demonstrative Zurückhaltung in der Öffentlichkeitssphäre, in welcher Zudringlichkeit, also die unverlangte Ansprache, durchaus üblich ist (z.B. Bettler, Spendensammler, Propagandakommunikation etc.) Für dieses Verhalten gilt darum wiederum das gleiche. Es wird ein Erwartungszusammenhang aufgedeckt, denn auch hier ist keine Regel erkennbar von welcher sich diese Zurückhaltung ableiten könnte. Denn wenn sie Propaganda machen wollten, so leuchtet zunächst nicht ein, weshalb diese Zurückhaltung angemessen wäre. So könnte man auch hier davon sprechen, dass gerade die Beobachtung der Nichtbelästigung irgendeinen Erwartungszusammenhang enttäuscht.
Ergebnis: im ersten Fall ist man verdrossen, weil man zu wissen meint, was die Ansprache soll, nämlich unerwartete Begegnung zu erzwingen; in zweiten Fall ist man verdrossen, weil man nicht versteht, was die Zurückhaltung soll, weil ja erwartbare Ansprache vermieden wird. Denn in der Fußgänger darf jeder jeden ansprechen, jedenfalls ist die Ansprache durch Unbekannte normal. Aber in diesem Fall unterbleibt sie.
Das Unverständnis für diese Doppelstrategie liefert entsprechend Anlässe zur Kommunikation dieses Verhaltens, was sich dann auch in der Massenkommunikation niederschlägt.
Das Unverständnis scheint daraus zu resultieren, dass nicht erkennbar wird, für welchen Zweck sich der Aufwand dieser Leute lohnt oder rechtfertigt. Das Argument, um das Unverständnis für dieses Verhalten verstehbar zu machen, könnte sein, dass die Zeugen Jehovas eine Investition in Partizipationskosten übernehmen. Die Partizipationskosten bestehen in dem Aufwand, den sie erbringen, um in beiden Fällen ihre Anwesenheit der Wahrnehmung anderer zur Verfügung stellen. Denn im ersten Fall ist mein Aufwand, wenn ich die Haustür aufmache, relativ gering und im zweiten Fall, wenn ich die Fußgängerzone passiere, leiste ich diesen Aufwand ohnehin, denn mit dem selben Aufwand sehe, erlebe und verrichte ich ja auch alles andere. Warum also und für was übernehmen diese Leute einen Aufwand zur Partizipation an Kommunikation, der ja keineswegs gering ist? Reicht es völlig aus, das auf religiösen Missionseifer zuzurechnen?
Das möchte ich bestreiten. Natürlich spielt auch religiöser Missionseifer eine Rolle. Dass damit aber nicht alle Erklärungsmöglichkeiten ausgeschöpft sind, zeigt sich dann, wenn ein Missverhältnis zwischen einer Partizipationswahrscheinlichkeit und einer Inklussionswahrscheinlichkeit auffällt. Dieses Missverhältnis kann man an den Universität beobachten. Die Wahrscheinlichkeit zur Partizipation an Wissenschaft ist sehr groß, die Wahrscheinlichkeit auf Inklusion an der Universität ist dagegen sehr gering. Solange nun Reputationssteigerung nach bekannten Verfahren der Persuasion versucht wird, kommt es zu einer Inflation von Reputationserwartungen, die es sehr wahrscheinlich machen, dass Reputationsgewinne kaum noch und meistens nur im Glücksfall möglich sind.
Wenn das so ist, dann könnte man aus der Doppelstrategie der Zeugen Jehovas etwas lernen. Die Doppelstrategie erprobt nämlich Persuasion durch eine Art „Stalking“ an der Haustür und Seduktion durch Waiting for response in der Fußgägnerzone.