Glaubwürdigkeit und Authentizität
von Kusanowsky
Mit dem Internet erscheint ein kommunikativer Raum, welcher der überlieferten Form der transzendentalen Subjektivität ein Reich der Selbsterprobung und Selbstinszenierung eröffnet, in dem durch den sozialen Vollzug von Beobachtung Affektbewegungen des Körpers nicht berücksichtigt werden können. Auch müssen auffindbare Adressen nicht notwendig als Personen identifiziert werden; und ganz allgemein wird durch Internetkommunikation das Verhältnis von Abwesenheit und Anwesenheit auf eine ganz andere Weise differenziert: Anwesend ist man dort, wo sonst keiner anwesend ist, aber abwesend ist man dort, wo jeder andere auch abwesend ist. Im ganzen betrachtet lässt die Kommunikation unter diesen Bedingungen eigentlich nur zu, dass alles als paradox erscheint, wodurch folglich – genauso paradox – alle Paradoxien verschwinden müssen.
Alle Glaubwürdigkeit und Authentizität hat sich einem daraus resultierenden Bewährungsproblem auszuliefern, da alle subjektive Identitäsvorstellungen niemals ohne die Illusion einer Letztinstanz der Realitätsvermittlung auskommen kann. Ein solche Illusion konnte bislang wirksam durch Organisationen bereit gestellt werden, die durch hierarchische Gliederung alle Selbstreferenz der Kommunikation als Zumutungsprobe den anwesenden Menschenkörpern auferlegte. So ist es wohl auch keiner Wunder, dass das Verkleidungsverhalten mit der Zeit immer bunter wurde, um den Versuch zu wagen, eprobte Vorurteilsmechanismen in der Begnung zu unterlaufen. So wurde der kommunikative Einsatz des Körpers einerseits zu einem Bestandteil der imagepflegenden Identitätsarbeit, andererseits war der Körper auch immer ein revidierbarer Identitätsausdruck einer Person. Damit aber taugt er nicht mehr als stabiles Ausdrucksmittel für Identität, sobald sich auch die Körperinszenierung über Internetkommunikation vollzieht, weil alle Beobachtung von Körperlichkeit in der Einsamkeit affektiver Selbstkontrolle vor sich geht. Das Affektverhalten eines Körpers reagiert nicht mehr auf das eines anderen. Die Eigenwilligkeit des Körpers fällt dabei nicht weg, sondern muss sich auf sich selbst beschränken. Statt dessen benötigt der Körper nunmehr selbst eine authentizitäts- und illusionssichernde Referenz, allerdings kann diese Referenz selbst nicht verstanden werden als eine unmittelbare, referenzlose Entität, die aus sich selbst heraus wirken könnte.
Soziologisch gesehen kann man die soziale Identität einer Person als ein Ensemble gleichzeitig besetzter Positionen, Rollen und Erwartungsmuster auffassen. Zur sozialen Identifizierung bedienen sich die Interaktionspartner dabei ausgefeilter Selbstbeschreibungen, die als Differenzierungs- oder auch Zugehörigkeitskonstrukt geltend gemacht werden und auf gegenseitige Beobachtung von Aufmerksamkeit angewiesen sind. Die Beachtung der Anderen wird durch eine Form der Selbstrepäsentation erreicht, die sich bestenfalls in effektvoller Selbstinszenierung niederschlägt.
Der aufmerksamkeitbindende Vorgang der habituellen Symbolisierung war in der Gutenberg-Galaxy maßgeblich auf die Präsenz des Physischen angewiesen. Ohne den Körper konnte man sich nicht sozial positionieren. Der Körper galt in jeder Interaktion als unhintergehbare Instanz aller Zeichenrepräsentation, die beabsichtigt oder unbeabsichtigt den Kommunikationsprozess affektiv beeinflusste. Der subtile Umgang mit der Haltung und der Stellung des Körpers wurden unablässig registriert und sanktioniert, so dass der körperliche Ausdruck als eingebautes, unverfälschbares Anzeigeinstrument in Erscheinung trat. Seitdem sich aber herum gesprochen hat, dass der Körper keineswegs durch frei gewählte Habitualisierungen determiniert ist, sondern durch medial vermittelte Bilder und Konstrukte bestimmt wird, tritt an die Stelle eines Körperverständnisses der Habitualisierung die Optionalisierung von Körperidentität.
Wenn sich also Identitätskonzepte retten wollen, die so etwas die „echte Menschen“ kommunikativ beibehalten wollen, so haben sie auf der Basis von Internetkommunikation eine sehr ernstzunehmende Bewährungsprobe zu gewärtigen, die sich womöglich durch eine Steigerung von Widersprüchen auszeichnet, auf welche selbstreflexiv mit der Mitteilung weiterer Widersprüche zu reagieren wäre. Wer darauf verzichten will und stattdessen Beteuerungen, Appelle und Moralisierungen vorträgt, läuft Gefahr in eine Eskalationsroutine der Selbstexkludierung zu geraten. Wer durch wiederholte Beteuerungen glaubhaft machen will, nicht der zu sein für den man gehalten wird, muss lernen, darauf zu verzichten, weil andernfalls der Verdacht auf das Gegenteil sich erhärtet mit der Wirkung des Verlusts von Adressabilität.