unentscheidbare Fragen
von Kusanowsky
Nur die Fragen, die im Prinzip unentscheidbar sind, können wir entscheiden. Warum? Einfach weil die entscheidbaren Fragen schon entschieden sind durch die Wahl des Rahmens, in dem sie gestellt werden, und durch die Wahl von Regeln, wie wir das, was wir „die Frage“ nennen, mit dem, was wir als „Antwort“ zulassen, verbunden wird. …
Aber wir stehen nicht unter Zwang, nicht einmal dem der Logik, wenn wir über prinzipiell unentscheidbare Fragen entscheiden. Es besteht keine äußere Notwendigkeit, die uns zwingt, derartige Fragen irgendwie zu beantworten. Wir sind frei! Der Gegensatz zur Notwendigkeit ist nicht Zufall, sondern Freiheit. Wir haben die Wahl, wer wir werden möchten, wenn wir über prinzipiell unentscheidbare Fragen zu entscheiden haben. Das sind die guten Nachrichten, wie amerikanische Journalisten sagen würden. Nun kommen die schlechten. Mit dieser Freiheit der Wahl haben wir die Verantwortung für jede unserer Entscheidungen übernommen.
Heinz von Foerster, Short Cuts, Frankfurt 2001, Zweitausendeins, S. 54 f
[…] “Nur die Fragen, die im Prinzip unentscheidbar sind, können wir entscheiden.” (*) Die Nichtentscheidbarkeit ergibt sich demnach aus empirischen und rationalen Aporien, die […]
@ : ich denke, die Nichtentscheidbarkeit ist tiefer fundiert und nicht an die Aufgabe, Fragen zu beantworten gebunden: entscheiden, was auch immer, meist praktische, pragmatische, empirische – wie man es nennen will – PROBLEME sind es doch, die im Alltag (Geschäftsleben, Krieg, Kunst) entschieden werden müssen.
„die im Alltag (Geschäftsleben, Krieg, Kunst) entschieden werden müssen“ – genau. Und diese Notwendigkeit entsteht immer als Ergebnis von Kritik. In dem Maße nun, wie Kritik von allen in Anspruch genommen wird, von jedem gepflegt wird und – das sei ausdrücklich betont – jedem auch zugestanden wird, ergibt sich eine Annihilierung der Kritik, ein Prozess, der, ist er angestoßen, nicht mehr rückgängig zu machen ist. Beispiel: Prügelstrafe in der Schule. Sind weichere Regeln eingeführt, lassen sich härtere nicht mehr durchsetzen. Und warum sind die Regeln weich geworden? Weil sie sich die Kapazitäten durch eine Regelbildung von Härte und Gegenhärte erschöpft haben.
Insofern spricht nichts dagegen, dass man auch B sagt, wenn A schon ausgesprochen wurde. In diesem Fall hieße das, eine Diabolik einzuführen, die dann allerdings auch nicht ohne eine Paranoik funktioniert. Denn die Regelfindungsprozesse verlaufen in paranoischer Hinsicht nur imaginativ. Die Regeln einer Paranoik wären Regeln, die durch die Steigerung eines Wechselverhältnisses von Imaginationen entstehen, die ihre Realität nur aus der Imagination ableiten, dass sie auch woanders verstehbar wären, ohne diese Konditionalität selbst überprüfen zu können, ja, sie nicht mehr überprüfen zu müssen. Dass es sich um Imagination handelt hängt damit zusammen, dass durch die Internetkommunkation die unwahrscheinliche Möglichkeit der Fortsetzung von Kommunikation bezahlt wird mit dem Verlust von Öffentlichkeit, also einem Resonanzraum, der normalerweise als Evidenzverstärker Aufmerksamkeit bündelt und damit durch Kontingenzerfahrung die Anschlusswahrscheinlichkeit steigert. Und was passiert, wenn Öffentlichkeit wegfällt? Beispiel: wenn die Ironie zwischen alter und ego so weit getrieben wäre, dass alter und ego nicht mehr unterscheiden können, ob ego und alter noch alternativ unterscheiden können oder wollen, dann könnte die Kommunikation sehr ruhig und sachlich verlaufen, ohne herausfinden zu können, dass es nicht auch anders sein könnte. Wäre allerdings Öffentlichkeit als Resonanzraum noch vorhanden, so könnte man die Irritationen an anderen Irritationen messen, sie vergleichen und daraus Schlüsse in Hinsicht auf die Kontigenz der Kommunikation ziehen. Eine paranoische Diszplin könnte zwar potenziell auch immer noch Kontingenz erfahrbar machen, es könnte aber auch sein, dass jede Kontigenz in jedem Augenblick sofort und vollständig eingeschränkt ist. Der Paranoiker könnte sich also diese Entscheidungsituation imaginieren: entweder sich der Internetkommunikation nicht zu entziehen, dann verfiele er in vollständige Einsamkeit, aber er erhält Erkenntniszugewinne. Oder er verzichtet auf Einsamkeit und hält die Differenz von Kritik und Paranoik imaginativ stabil, dann aber muss er Vorkehrungen für den Fall treffen, dass er sich der Kommunikation wieder entziehen muss. Denn Kritik kann wie bekannt ziemlich überfordern. Das hieße dann auch, alle Erkenntnisgewinne durch die Indifferenz von Information und Mitteilung wieder zu verlieren. In beiden Fällen gibt es Chancen und Risiken.
Und praktisch kann sich ein Subjekt dieser Wahl nicht stellen, weil es, um sich weiterhin als Subjekt zu erkennen, auf eine kritische Disziplin nicht verzichten kann. Deshalb benutzt das Subjekt Ironie als Ausweg, um seinen Ausweg eventuell zu revidieren. (Der Vorbehalt das Nichtgemeinte doch gemeint zu haben.) Und für einen Paranoiker stellt sich diese Wahl auch nicht, weil er schon in den Komplikationen verwickelt ist, die diese Entscheidungsituation zustande bringen. Wähnt er sich noch ein Subjekt zu bleiben, nun, dann bildet er sich dies eben nur ein. Jedenfalls ist der Versuch, wieder auf Kritik umzustellen, durch die paranoische Beobachtungssituation blockiert. Denn Kritik braucht Öffentlichkeit. Ohne die Resonanz der Öffentlichkeit wird Kritik zu einem Schattenboxen, zu einer Gespensterjagd, weil die Widerstandsleistung auf keine Widerstandsfähigkeit trifft. (Daher die Trollkommunikation des Internets: Kritiker kritisieren Kritiker ohne öffentliche Resonanz.)
Wollte der Paranoiker unter diesen Bedingungen Kritik üben, also die Widerstandsfähigkeit aus sich selbst heraus durch Imaginationen erzeugen, so hat er Glück, wenn man ihn nicht ernst nimmt, und Pech, wenn der Psychiater kommt.