Epistemologische Erschöpfung 2
von Kusanowsky
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Der amerikanische Evolutionsbiologie Gerald Crabtree hat in dem wissenschaftlichen Fachaufsatz „Our fragile intellect“ die These aufgestellt und begründet, dass „der Mensch“ – wer oder was immer das ist – im Laufe der Evolution seine intellektuellen Fähigkeiten einbüßt. Angeblich, so die These, habe der Mensch, dieses seltsame anthropogene Phantom (Bezeichnung von mir) seinen intellektuellen Höhepunkt längst überschritten und steuere dem Verfall entgegen, der entsteht, weil durch die soziale Entwicklung der Selektionsdruck zur Auslese besserer intelligenter Eigenschaften nachlasse.
Bei Spiegel-Online wird diese Angelegenheit folgendermaßen kommentiert: „Crabtree stellt in dem Aufsatz die These auf, dass die Menschen bereits vor Jahrtausenden ihren intellektuellen Zenit erreicht hatten. Mit der Entwicklung eines sesshaften Lebensstils und verbesserten Überlebensbedingungen ging es langsam bergab. Denn seitdem konnten sich Mutationen im Erbgut ansammeln, die den Intellekt beeinträchtigen. Es ist eine steile These; der Forscher von der Stanford University stellt auch klar, dass er möglicherweise total falsch liegt.“
Und – am Schluss des Artikel heißt es ganz hübsch: „Selbst wenn die genetische Basis für den Intellekt des Einzelnen erstaunlich anfällig sei, so sei das intellektuelle Fundament der Gesellschaft stabil, schreibt deshalb auch der Wissenschaftler. Schließlich macht dies es heute möglich, solche Thesen überhaupt aufzustellen, zu veröffentlichen und sie mit passenden Experimenten zu überprüfen.“
Es handelt sich also um die nächste Variante des Lügner-Paradoxons: Wie beurteilt man die Aussage eines Menschen, der sagt, dass alle Menschen Dummköpfe sind?
Erstaunlich ist, dass dieser erkenntnistheoretische Selbstbezug gar nicht zu der Einsicht führt, dass diese Evolutionsbiologie längst am Rad dreht, sondern, im Gegenteil: sie fängt einfach an, auf der Basis ihrer Forschungsdaten, gewonnen aus Spekulationen über das menschliche Erbgut, etwas zu beurteilen, dass auf der Basis eben dieser Daten gar nicht mehr beurteilbar ist, hier: das intellektuelle Fundament der Gesellschaft. Denn wollte man behaupten, dass das Erbgut irgendwie verdorben wäre, dann kann doch daraus nicht der Schluss gezogen werden, dass das intellektuelle Fundament der Gesellschaft stabil geblieben sei. Wie kann man das wissen, wenn man das Erbgut beurteilt? (Nur, weil ich feststelle, dass es hier regnet, kann ich daraus nicht den Schluss ziehen, dass woanders die Sonne scheint. Ich könnte zwar wissen, dass woanders die Sonne scheint, aber nicht deshalb, weil sie es hier nicht tut.)
Wenn man das aber wissen kann, dann nicht durch Beurteilung des Erbguts. Aber woher kommen die wissenschaftlich verlässlichen Daten, die Auskunft darüber geben, dass das intellektuelle Fundament der Gesellschaft stabil ist?
Die Antwort könnte lauten: die Biologie hat darüber keine wissenschaftlich verlässlichen Daten. Diese Behauptung ist daher reine biologische Astrologie, wie auch die gegenteilige Behauptung. Da aber diese Einsicht ausgeschlossen ist, weil sie zeigen könnte, dass diese Art der Evolutionsbiologie unwissenschaftlich ist, rettet die Biologie ihre Wissenschaftlichkeit dadurch, dass sie die Möglichkeit des Irrtums einräumt und für die Erforschung der Quelle des Irrtums möglicherweise einfach weiteren Forschungsbedarf behauptet, der sich dann gleichwohl wieder um das Erbgut kümmern muss.
Drei Dinge sind auf jeden Fall erreicht: Verlängerung der Publikationsliste, eine kritische Diskussion und ein Grund, um den nächsten Antrag für die Bereitstellung weitere Forschungsmittel zu stellen.
https://twitter.com/DirtyDickDaddy/status/268632274503860224
Epimenides der Kreter sagte: Alle Kreter sind Lügner.
oder moderner:
#1: Aussage #1 ist falsch.
@Kusanowsky et al. : Ja ist es denn nicht herrlich eingerichtet in dieser unserer Welt der performativen Selbstwidersprüche: inzwischen ist die voll durchglobalisierte Gesellschaft eine einzige voll funktionsfähige durchgetrollte Anti-Troll-Maschine, frei nach GÖDEL: mit einem Gehirn könne man kein Gehirn beschreiben, also kann man auch nicht mit einer einzigen Gesellschaft die einzige Gesellschaft beschreiben, so wie eben ein jeder Beobachter Erster Ordnung mindestens einen Beobachter Zweiter Ordnung brauch (ad infinitum) um die lückenlose Herrschaft(slosigkeit) des sich selbst sowohl verzehrenden als auch immer wieder neu gebärenden BLINDEN FLECKS zu garantieren.
Herrschaftsmaxime: man lasse das Volk frei räsonnieren, weil es dann weder Zeit noch semantische Energie aufbringen kann, sich im Kontingenzraum der Politik auch noch für eine potentiell immer mögliche Revolution von unten zu interessieren, geschweige denn zu engagieren.
Wie man sieht: die Gesellschaftsmaschine läuft wie „geschmiert“, (wobei an Korruption zu denken oder gar schon wieder an eine superperfekte Verschwörungstheorie der verschworenen Verschwörer ja auch schon wieder ein selbstperformative Onanie-Syndrom ist – pardon – sein würde.
„man lasse das Volk frei räsonnieren … “ – Ergänzungsüberlegung: man lasse die Politiker frei entscheiden wie sie es wollen, weil sie dann weder Zeit noch semantische Energie aufbringen können um die Kontingenzspielräume, also Ausdehnung der Freiheitsgrade, zu stören.
„Drei Dinge sind auf jeden Fall erreicht: Verlängerung der Publikationsliste, eine kritische Diskussion und ein Grund, um den nächsten Antrag für die Bereitstellung weitere Forschungsmittel zu stellen.“
Man hat den Eindruck, Du missbilligst das. Warum?
Was genau ist daran nun nochmal so verwerflich? Dass es um Sekundäres geht und nicht um die Wahrheit?
„Zu den großen Einsichten der Evolutionsbiologie gehört die bei Darwin beginnende Erkenntnis, daß die Menschen die Herausbildung ihrer besonderen Kultur der Tatsache verdanken, daß sie den Frauen die Wahl der Partner überlassen haben. Die “Female choice” und ihre sexuelle Selektion bevorzugt Männer, die sich um die Folgen ihres Tuns und also um die Kinder kümmern, die sie in die Welt setzen … Die Frauen sollten Männer wählen, die Mut haben, sich zur Nachhaltigkeit zu bekennen und bereitwillig Wege zu diesem Ziel suchen. Wenn Nachhaltigkeit ein kulturelles Problem ist – und was ist sie sonst? -, dann weiß die Evolutionsbiologie, wie es zu lösen ist – durch weibliche Wahl. Bitte gleich damit anfangen.“
http://scienceblogs.de/wissenschaftsfeuilleton/2012/10/11/eine-nachhaltige-wahl/
Es hat die „weibliche Wahl“ dafür gesorgt, dass Männer geboren werden, die bestens dazu geeignet sind, Wissenschaftler zu werden. Logisch, denn diese Wissenschaftler finden heraus, dass die weibliche Wahl so klug war, nur kluge Männer zur Fortpflanzung zu wählen, damit ihre Nachkommen kluge Wissenschaftler werden und wissenschaftlich feststellen, dass die weibliche Wahl die klügere Wahl ist. Darum sind Männer größtenteils Wissenschaftler und nich Frauen. Denn sonst könnte etwas nicht stimmen. Da aber so alles stimmt, stimmt alles.
„verwerflich?“ – Was soll an Aussichtslosigkeit verwerflich sein? Nein. Sie ist nicht verwerflich. Man kann sie fürchten, aber auch genießen. Und ich bitte gern um eine ausführliche Begründung für die Behauptung, dass Wahrheit etwas Primäres wäre, oder sein müsste!
Da eben Wahrheit nichts Primäres ist noch sein müsste (dies ist die Unterstellung derer, denen es um Verlängerung der Publikationslisten geht), scheint mir die Analyse, dass es in Wissenschaft immer nur um widersprüchliche, zweitrangige Aussichtslosigkeiten ginge (ohne, dass sie sich das je eingestehen könnte), jenseits ihrer neutralen, rein konstativen Scheinheiligkeit, entweder mit kritischem („so SOLLTE es aber doch nicht sein!“) oder affirmativem Gestus („Genauso muss es sein!“) vorgetragen werden zu können. Dein Vortragsduktus neigt eher zur Klage.
Es gibt aber doch nur zwei Möglichkeiten: Entweder gehört Deine oben vorgetragene Diagnose selbst zur Wissenschaft, dann öffnet sich ein neuer performativer Widerspruch: die Einsicht, dass „diese Einsicht [für die Wissenschaft] ausgeschlossen ist“ ist in die Wissenschaft eingeschlossen.
(Und da du an wWssenschaftliche Kommunikation anschliesst, besteht kein Grund zu Annahme, dein Anschluß sei als solcher dennoch unwissenschaftlich.)
Oder…nein, es gibt kein Oder, denn das Oder ist im Entweder bereits enthalten.
Vielleicht meint er ja auch nur die Intelligenz der Zelle und das ganze ist ein großes Missverständnis. Er ist ja auch Zellbiologe.
Zudem nehmen die meisten Menschen älterwerdend ohnehin an, dass die Umgesellschaft im blöder wird. Wobei blöde sein nicht unbedingt das gleiche sein muss wie nicht „nicht intelligent“ zu sein.
Oder er hat recht und das ist auch weiter nicht schlimm. Für die meisten Menschen ist das Gehirn ohnehin viel zu groß und frisst mehr Energie als gerechtfertigt wäre. In den Großunternehmen stellen ja auch alle auf Thin Client um. Fazit: Alles kein Probblem. Freuen wir uns doch aufs dümmer werden.
„Dein Vortragsduktus neigt eher zur Klage“ – wie wärs wenn wir uns darauf einigen, dass du das so lesen willst oder so gelesen hast oder: deine Beurteilung meines Vortragsduktus beruht auf einer Selektion, die zwar Kontingenz nicht aussschließt („… neigt eher …“), aber auch ein eindeutiges und treffsicheres Urteil nicht.
Und:
„Es gibt aber doch nur zwei Möglichkeiten: Entweder … oder“ – Vielleicht könnte man auch überlegen, dass es vielleicht solche Beurteilungen („Dein Vortragsduktus“) und solche Ein- und Zuordnungen sind, die diese Problemkonstellationen erzeugen: („Und da du an wissenschaftliche Kommunikation anschliesst“)
Was wäre aber, würde man auf solche Ein- und Zuordnungen verzichten und stattdessen auf paranoisches Beobachten umstellen. Denn paranoisches Beobachten hieße, die Quelle für solche Aporien zu umgehen, indem man versucht, andere Unterscheidung einzuschmuggeln, ohne sie zu explizieren, um zu schauen, was die Kommunikation dann noch für Ergebnisse zulässig macht. Indem man also versucht, Ablenkungen, Nebensächlichkeiten, Irrtümer, Täuschungsversuche oder ähnliches so einzubringen, dass sie nur als kontingente, nicht als eindeutige Möglichkeit auffallen und entsprechend Anschlussselektivität ermöglichen, die ständig auf Abwege führt; statt also, wie wir es sonst gelernt haben, Abwegigkeit zu vermeiden, mit ihr zu rechnen, indem man Abwegigkeit so lange und unermüdlich ausprobiert, bis etwas Aussichtsvolles erscheint oder erscheinen könnte.
Ernst gemeinter Vorschlag, über den du auch lachen darfst: Abwegigkeit nicht länger geringzuschätzen, sondern sie auszuprobieren. Vorschlag für @neurosophie: Die Schlagzahl des Scheiterns erhöhen.
An alle fleissigen und wohlredenden Kommentierer: ich sehe mit großer Genugtuung, wie alle hier reden und ihre wohlgeformten Sätze setzen, als hätten sie persönlich gerade den geheiligten Plutarch gelesen oder gehörten zu denen, die aufmerksam dem twitternden Gedankenboten gefolgt sind.
„Was wäre aber, würde man auf solche Ein- und Zuordnungen verzichten und stattdessen auf paranoisches Beobachten umstellen.“
Was setzt das voraus? Allein die Bereitschaft, den Vorsatz, den guten Willen?
Muss man sich nur einen Ruck geben?
Oder wie sonst ist dein Vorschlag, deine Aufforderung, dein Angebot, dein Werben, die Dinge anders zu sehen, zu verstehen?
@Kusanowsky rät mir: „Die Schlagzahl des Scheiterns erhöhen.“
Ist es ein kluger Rat, dann erfüllt sich in seiner Annahme ein Wozu. Das logische Wozu wäre also, die Evolution des Scheiterns voranzubringen:
http://www.welt.de/print/die_welt/literatur/article108476748/Evolution-des-Scheiterns.html
Übrigens ist Scheitern das Natürlichste der Welt. Erst das Gelingen führt zum Artensterben.
„Oder wie sonst ist dein Vorschlag zu verstehen?“
Das Argument, das abzulehnen, zu ignorieren oder gar zu widerlegen, es also mit einem Gegenargument zu konfrontieren dir genauso wie allen anderen ganz leicht fällt, lautet: statt mit untauglichen, kritischen Mitteln eine Ordnung zu verteidigen, könnte man andersherum mit tauglichen, paranoischen Mitteln die Verwirrung steigern, um zu schauen, ob man damit Ordnung provozieren kann. Die Voraussetzung dafür: entweder auf Kritik zu verzichten oder sie paranoisch einzusetzen.
Noch ein kritisches Argument, das du ganz leicht ablehnen kannst, lautet: die kritische Disziplin teile ich in zwei Phasen ihrer Entwicklung ein. In der ersten Phase entfaltete sie ihre Wirkmächtigkeit dadurch, dass sie Ordnung provozierte, indem die Unordnung einer schwachen Wissens- bzw. Erfahrungsform autokatalytisch beseitigt wurde. Diese „schwache“ Form war die trivial gewordene aristotelische Tradition. Die Entwicklung der kritischen Fähigkeit der faustischen Gelehrsamkeit und der soziale Selbstverwirklichungsprozess transzendentaler Subjektvität konnte in dieser Phase Ordnung provozieren, sie konnte eine neue Form der Erfahrung trainieren und erhärten, weil eine ältere Form schwach geworden war. Die zweite Phase, etwa seit der Industrialisierung, bestand darin, mit kritischen Mitteln diese so entstandene, neue, moderne Ordnung zu verteidigen.
Mir scheint nun, dass diese Verteidigung der Ordnung nicht mehr weiter verteidigt werden kann, weil die moderne Erfahrungsform selbst trivial, schwach geworden ist. Beweis: dieses Argument und seine Widerlegung. Beides lässt sich relativ schnell und leicht begründen inkl. aller geeigneten Referenzen, wichtiges Hifsmittel, das diese Vereinfachtung liefert ist das: https://www.google.de/ Trainiere deinen Google-Algorithmus und du wirst für jede Behauptung eine passende Fußnote finden. Und zwar, wichtig: ganz unbürokratisch und enorm kostengünstig (einschließlich der Möglichkeit, Täuschungen und Plagiate zu überprüfen. Denn nicht nur die Täuschung ist ganz einfach geworden, die Aufdeckung der Täuschung ebenfalls.)
Wenn wir also nun die Mittel für die Führung einer kritischen Diskussion aus der Hand geben, weil wir nun zum letzen Mittel greifen, nämlich die nicht notwendige Selbstsanktionierung durch Verzicht auf Sanktionierung, dann können wir spätestens jetzt diese Ordnung nicht mehr verteidigen. Entsprechend würde mein Voschlag lauten: verteidige keine Orndung, sondern provoziere sie. Und das geht durch Steigerung der Verwirrung, was nämlich gar nicht so einfach ist. Denn es gibt das hier: https://www.google.de/
So ist mein Vorschlag zu verstehen.
„Das Argument, das abzulehnen, zu ignorieren oder gar zu widerlegen, es also mit einem Gegenargument zu konfrontieren dir genauso wie allen anderen ganz leicht fällt, lautet“
Richtig, da machst du mir wie allen anderen ein Angebot, was man nicht nicht (keine Echolalie sondern Litotes!) ablehnen kann. Vielleicht nimmt es überhaupt nur dann an und hält ihm die Treue, wenn man es verrät und so tut, als würde man es ignorieren?
„Die Entwicklung der kritischen Fähigkeit der faustischen Gelehrsamkeit und der soziale Selbstverwirklichungsprozess transzendentaler Subjektvität…“
Deinen Begriff der Faustschen Gelehrsamkeit habe ich nie verstanden. Ist nicht Faust vielmehr derjenige, der mit der Stuben- und Buchgelehrsamkeit bricht, für die sein Famulus Wagner einsteht, mit dem ganzen Paradigma positiver Wissenschaft bricht, ihrer Forschung und Lehre („heiße Magister, heiße Doktor gar, und ziehe schon an die zehen Jahr herauf, herab und quer und krumm meine Schüler an der Nase herum“), weil er sieht, dass man so nicht weiter kommt: Um eine Diabolik, Dämonie und Paranoik zu erproben. Er wird nicht nur Magiker („drum hab ich mich der Magie ergeben“), sondern, da auch dies scheitert, advocatus diaboli wie Luhmann, oder sogar Bundesbruder des Teufels, eben Para-Noiker. Und identifiziert sich mit ähnlichen Forderungen, wie Du sie in deinem Vortrag als eine Art Appell ans Publikum adressierst: „Wir müssen das gescheiter machen / Eh‘ uns des Lebens Freude flieht.“
„Entsprechend würde mein Voschlag lauten: verteidige keine Orndung, sondern provoziere sie. Und das geht durch Steigerung der Verwirrung, was nämlich gar nicht so einfach ist.“
Dass das nicht so einfach ist, sondern kompliziert, hängt eben damit zusammen, dass jegliches Maneuver dieser Art mit seinem Absetzungsgegenstand („Tue nicht DIES, sondern DAS“; mit diesem DIES eben) verschworen ist. Kompliziert ist es, weil das was zu tun und das was zu lassen ist (nach deinem Vorschlag, den man nur ablehnen kann, selbst wenn man ihn annimmt) Komplizen sind.
Ergänzung:
„Aufgabe von Kunst heute ist es, Chaos in die Ordnung zu bringen.“
Adornos Satz ist deshalb so genial, weil er auf zwei, einander entgegengesetze Weisen verstanden werden kann (vor allem, wenn man das „die“ weglässt).
Es geht darum, Chaos in Ordnung zu bringen.
Ordnung soll chaotisch werden, Chaos ordentlich.
Deleuze hat dafür den Joycschen (Finnegans Wake FW, 118.21) Ausdruck „Chaosmos“ (ein Ineinanderverwickeltsein von Kosmos, Ordnung und Chaos) verwendet.
(letzter Kommentar: http://bit.ly/VDwawx )
Vielen Dank für deine Einwände, die in kritischer Hinsicht gesehen eindeutig relevant sind.
Die moderne Ordnung entsteht und stabilisiert sich durch Störung von Störung, darin besteht die moderne Ontologie. Den Versuch einer Alternative zur Erweiterung dieser Ordnung fasse ich in die Aufforderung: versuche zu stören ohne zu stören. Versuche Verwirrung zu steigern, ohne das Angebot über einen Ersatz kritisch zu disktutieren. Daher:
„Vielleicht nimmt man es (das Angebot) überhaupt nur dann an und hält ihm die Treue, wenn man es verrät und so tut, als würde man es ignorieren?“
Du meinst also du hättest meinen Täuschungsversuch durchschaut?
Eod.
„Den Versuch einer Alternative zur Erweiterung dieser Ordnung fasse ich in die Aufforderung: versuche zu stören ohne zu stören.“
Mir scheint, das geht am besten, indem man mitmacht, als wäre gar nichts dabei, mitsamt „Verlängerung der Publikationsliste, eine kritische Diskussion und ein Grund, um den nächsten Antrag für die Bereitstellung weitere Forschungsmittel zu stellen“. Wieviele von diesen subversiv-paranoischen, störungslos störenden Aufforderungsfollowern wird es an deutschen Universitäten geben?
Geil! Eigentlich möchte ich jeden einzelnen Satz bzw. Term des MikroEssays und der Diskussion mehrfach überlagert zitieren. Gleichzeitig schwingt sogar leicht die Angst, Jemand könnte zeitgleich jetzt schreiben, und vor mir ‚posten‘ – so dass ich dessen Argumentation in meinem Beitrag nicht integrieren könnte. Dieses sei zunächst ganz freundlich und ernsthaft gesagt. Weil gleich… eine Provokation eingeleitet werden will:
Alle Wirklichkeit (also auch alle Wissenschaftlichkeit)… alle möglichen (und unmöglichen) Operatoren, welche wir in unserem ‚Denken‘ zur Verfügung haben… alle auf die BewußtseinEbene gehobenen ‚Wahrnehmungen’… und eben auch aller kritisch-epistemologischer Dialog ‚existieren‘ (sowohl ontisch als auch meta-ontisch) nur, weil ‚wir‘ (so nenne ich mal dieses vorgeblich mehrere Milliarden alte Bündel von ElementarTeilchenOrganisation) Begriffe erschaffen haben! Ohne Begriffe existierte nichts… (auch noch nichteinmal ‚das Nichts‘)!
Mir ist klar (auch aufgrund einiger Erfahrungen) – dass die Konsequenz des eben Gesagten meistenteils nicht annähernd erfasst wird.
Meistens kommt dann: ‚Aber die Welt ist doch dennoch da, auch wenn es keine Begriffe gäbe‘. Ich sag dann: ‚Ja sach ma!‘
Nein! Ohne Begriffe existierte kein ‚Subjekt‘, kein ‚Objekt‘, keine ‚Lüge‘, keine ‚Wahrheit‘, natürlich auch keine ‚ErkenntnisBiologie‘, keine Philosophie, keine Zahl, kein ‚ja oder nein‘. Auch existierte keine Grammatik, keine Formen des natürlichen Schließens, es existierten keine ZeitFormen – und was das Schlimmste wäre (abgesehen davon, dass ‚das Schlimmste‘ auch nicht existierte): Es existierten keine Fragen!
Provokant (und in lächerlicher Pose) sage ich: Es existierte noch nichteinmal der Fall!
[Anmerkung: Unter ‚Begriff‘ verstehe ich jedes kommunizierbare Zeichen.]
So. Und was nun?
Um Mißverständnisse zu reduzieren, möchte ich zugeben, dass es natürlich unterhalb der BegriffsEbene, unterhalb des Begriffenen und unterhalb (bzw. ³jenseits) der BewußtseinsEbene ‚i r d g e n d Etwas‘ ‚geben‘ mag. Soetwas wie das, was Kant ‚das Ding an sich selbst‘ nannte. Aber solange dieses ohne Begriff ist, ist es für uns nicht Realität! Und sobald es mit einem Begriff bezeichnet wird, wird es für uns auf der BewußtseinsEbene relevant, es kann relavant werden – muß es aber nicht!
Jeder Begriff ist zunächst eine These, ein Versuch. Lässt sich mit einem Begriff (bzw. sind es ja mehrere) irgend etwas einigermaßen verständlich kommunizieren, etwas erfassen bzw. begreifen, so gewinnt er an Relevanz, an RealitätsKraft!
Wir ‚haben‘ schon immer Begriffe, wir saugen sie (möglicherweise schon pränatal) in uns auf. Die meisten Begriffe, die wir verwenden, sind lexikalisirt. Lexikalisierte Begriffe werden seltener dem Zweifel unterworfen usw.
Dabei sieht es so aus, als würden wir ‚vergessen‘ haben, dass diese Begriffe zunächst nur ein Mittel, eine Hypothese (gewesen) sind.
Ich jedenfalls könnte an dem Gedanken wahnsinnig werden, dass unsere Realität im wesentlichen eine erdichtete ist. Wie sähe sie aus, wenn wir ein ganz andere Grammatik, eine ganz andere Logik, ein ganz andere Mathematik zur Vefügung hätten?
[Anmerkung: Insofern ist es von ‚N‘, ääh.. von ’neurosophie‘ bzw. von Holthausen nur zu begrüßen, wenn er die Suche nach einer ‚MetaMathematik‘ proklamiert.]
Wie würde sich die sogenannte Realität gestalten, wenn ganze andere Fragen (auch andere FrageWörter) ganz andere SachVerhalte generieren würden?
Ob nun mit oder ohne Gödel: Ein Subjekt (ein System) kann sich nur erkennen, wenn es aus sich selbst heraustritt, wenn es fähig wird, sich in bzw. mit den Augen eines Anderen zu sehen (Platon, „Alkibiades“).
Wir heute, als quasi ‚Kollektives BegriffsSubjekt‘ sollten also dringend die Fähigkeit entwickeln… uns ganz bewußt vom selbigen trennen zu können, um aus einer differenten Perspektive, auf uns selbst, (‚zurück‘) zu schauen.
Sonst behält dieser erwähnte ErkenntnisBiologe doch noch Recht, nämlich dass wir aufgrund unseres – von der Unmittelbarkeit und den vorbegrifflichen Ebenen entfernten – Umgangs eine kulturelle SeifenBlase erschaffen haben , welche jederzeit zu platzen droht.
Im Übrigen hatte schon Stanislaw Lem in scherzhafter Weise darauf hingewiesen [Titel und Stelle fallen mir jetzt nicht ein] – dass die Menschheit ab eines gewissen ZivilisationsGrades nicht mehr miteinander kommunikationsfähig ist, weil sich die Diskursse derart weit voneinander entfernt haben, dass sich die Beteiligten gar nich mehr verstehen können. 😉
Es ist beinahe ein Jahr her, da hattest du dieses Argument schon einmal angebracht:
Ehedem, als sich die kritische Diszplin noch mühselig zuerst gegen die aristotelische Tradition und dann gegen sich selbst behaupten musste, hatte man Beobachtungskontrukte dieser Art: „die unsichtbare Hand Gottes“, „politische Ökomonie“, „kollektiv Unbewusste“ oder was auch immer genannt. Bei Luhmann findet sich dann die Fassung, das Latenz die Funktion eines Strukturschutz hat: Latenz schützt Strukturen vor der Zerstörung durch Aufdeckung.
Siehe dazu ausführlicher: Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Frankfurt/M. 1984, S. 457. und S. 459.
@Rolf2
Vielen Dank für den Hinweis auf “Chaosmos”. Der Graben zwischen Chaos und Ordnung muss gar kein Graben sein. Mit Edgar Morin hat ein Vertreter des biosozialen Konstruktivismus ein interessantes Konzept erarbeitet: „RESTRICTED COMPLEXITY, GENERAL COMPLEXITY“
Klicke, um auf Edgar%20Morin,%20Restricted%20Complexity,%20General%20Complexity.pdf zuzugreifen
Worum geht’s? Wenn @kusanowsky sagt, ich solle die „Schlagzahl des Scheiterns“ erhöhen, erhöhe ich damit die Entropie und verändere das Gefüge der Komplexität. Aus Angst vor Verlust der Ordnung würde ich das eigentlich nicht tun. Wenn ich aber meine Ordnungsliebe mal ganz aufgebe, und akzeptiere, dass es verschiedene Qualitäten von Komplexität gibt, dann kann ich mit Chaos nicht nur verlieren, sondern eventuell auch gewinnen.
Das meint Morin, wenn er uns auffordert: “help yourself and the complexity will help you”. Also: Ganz schnell weg mit „Erkenne Dich selbst!“. Austauschen gegen „Erkenne Deine Situiertheit in der Komplexität“.
Morin ist alles andere als ein Kulturpessimist. Dies macht das Schlusswort seines Aufsatzes deutlich:
„The intelligence of complexity, isn’t it to explore the field of possibilities, without restricting it with what is formally probable? Doesn’t it invite us to reform, even to revolutionize?“
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