Sport ist zivilisierte Religion
von Kusanowsky
In der säkularen Gesellschaft wird Religion zu gleichen Teilen unter- wie überschätzt.
Religion wird unterschätzt. Religion stammt aus einer älteren Epoche der sozialen Evolution, nämlich aus einer Zeit als für evolutionsbedingte Erfahrungsgründe eine epistemologische Erklärung gefunden werden musste. Sobald nämlich Schriftgebrauch eingeübt wurde und durch diesen Gebrauch Vergleichsmethoden der Überprüfung von Sinngehalten zustande kamen, konnte man nicht mehr so leicht alles glauben, was mitgeteilt wurde. Schriftgebrauch machte auf Irrtum aufmerksam und darauf, dass Irrtum durch Schriftgebrauch vermieden werden könnte, wenn man richtige, also logisch unbezweifelbare Regeln des Schließens einübt. So konnte die Gefahr des Irrtums durch die Einsicht in die Wahrheit gebannt werden. Irrtum erschien damit beherrschbar zu sein.
Wenn man dann jedoch die Frage stellte, wie das epistemologisch möglich ist, wie also der Unterschied zwischen richtigen und falschen Schlussfolgerungen in die Welt kommt, so gibt es auf dieser Basis keine andere Möglichkeit, als zwischen einer Menschenwelt, die von Verwirrung, von der Kontingenz aller Erfahrung geprägt ist, und einer Welt der ewigen Gültigkeit von Wahrheiten zu unterschieden, eine Unterscheidung, die nur überzeugen kann, wenn sie nicht selbst durch Menschenvermögen in die Welt kommt, weil diese Unterscheidung nämlich nicht selbst empirisch kontingent ist. Daraus folgt, dass es etwas geben muss, das dem Vermögen von Menschen nur sehr unvollständig zugänglich und trotzdem absolut wirklich ist. Es muss eine höhere Welt geben, die sicherstellt, dass Menschen, aufgrund ihres prinzipiellen Unvermögens die Welt richtig zu verstehen, sie dennoch verstehen können. Doch daran kann man nur glauben. Und ältere Zivilisationsmythos richtete sich auf die Disziplin, dies glauben zu müssen, um die Erkennbarkeit der Wahrheit für Menschen zu garantieren.
Das wäre der Grund für den Wahrheitsbegriff einer jeden Religion. Die damit verbunden zivilisatorisch-epistemischen Leistungen, werden völlig unterschätzt. Denn dass Menschen die Fähigkeit erworben haben, Wahrheit zu verstehen, verdanken sie diesem zurückliegenden Trainingsprogramm, das durch seine Verwicklungen und Verkomplizierungen das erstaunliche Ergebnis lieferte, dass niemand mehr mehr so einfach sagen kann, was die Wahrheit ist. Das ist bemerkenswert: die Fähigkeit Wahrheit vollständig zu erkennen, gelingt erst dann, wenn sie als kontingent, als uneindeutig erfahrbar wird, weil nämlich das „Dass“ der Wahrheit für moderne Menschen der relevante Punkt ist und nicht ihr „Was“.
Das zivilisatorisch-epistemische Trainingsprogamm erzeugte auf dem Weg über das Scheitern an der „Washeit“ der Wahrheit die Fähigkeit der Erkennbarkeit ihrer „Dassheit“.
Der Grund für die Überschätzung der Religion liegt darin begründet, dass dies von säkularen Glaubenspredigern und ihren Gegenspielern, von Atheisten ignoriert wird. Sie zanken sich um die Asche abgebrannter Tempel aus alter Zeit, deren imponierende Monumentalität sie nicht mehr nachvollziehen können.
Wenn man aber akzeptiert, dass die Dassheit der Wahrheit der relevante Punkt ist, nicht ihre Washeit, dann ist es prinzipiell egal um was es geht, wenn soziale Systeme sich um die Erkennbarkeit der Wahrheit bemühen. Die Attraktivität der Wahrheit, also die Erkennbarkeit ihrer Dassheit, ist umso größer, wenn es dabei eigentlich um gar nichts mehr geht. Denn, ich wiederhole: Das Wahrheitsfindungsprogramm läuft entlang der Unterscheidung von richtig und falsch, und dieses Programm ist durch die Evolution nur in seiner Dringlichkeit für epistemologische Angelegenheit trivial geworden, nicht in Hinsicht darauf, dass es sozial immer noch funktionieren kann.
Dafür hat die moderne Gesellschaft eine Funktionsnische gefunden und operativ eingerichtet, nämlich im Sport.
Sport ist zivilisierte Religion – daraus erklärt sich auch seine unglaubliche Faszination, da sportliche Fairness gerade dasjenige Faszinosum ist, durch das die Erfüllung einer sozialen Utopie empirisch wird.
@Kusanowsky – das ist nun unabweisbar ein schöner konstatierender Text, dem jeder wird folgen können, auch ohne Luhmann zu kennen. Auch Deine ewigen Kritiker werden das neidlos einräumen müssen. Aber einen Schnellschuss möchte ich hier beileibe nicht abfeuern, obwohl es mich in den Fingerspitzen kribbelt, zur einleuchtenden Konsequenz des Textes, zum Sport, etwas zu sagen. Ich stelle das mal temporär ein wenig zurück. Es beschäftigt mich. Vor allem weil der Sport mit seinem Zusammenfallen der beiden Grundunterscheidungen Sieg/Niederlage und wahr/falsch es einem jeden Interessierten ermöglicht, kognitiv hier mitzureden: jeder kann als Beobachter der Sportszene (des Sportsystems) sehen, dass Bayern 2012 zum Supervice sich nach schier ewigem Hinauf konsequent hinab entwickelt hat. Kein Stammtisch wird das anders sehen. Stammtisch und Wissenschaft fallen hier – oberflächlich – zusammen.
Aber die eigentliche Glanz- und Fleissleistung, die jeder hier in den letzten Wochen beobachten und nachvollziehen konnte, liegt ja in dem zähen und gekonnten Bemühen, der neuen äusseren Form dieses bei so Vielen beliebten BLOGS auch eine neue, verlinkte Zusammenfassung alles in der Vergangenheit zum Thema funktionalen Differenzierung, Gesellschaft, Internet, Autorschaft, Individualität, Subjektillusion und Intersubjektivität als Kommunikationsillusion Gesagten einen nun kohärenten Inhalt an die Seite zu stellen. Es ist soweit, dass man zwei Überlegungen anstellt: (1) Das hätte man alles auf einer Hypertext-CD oder – noch schöner – (2) in einem handlichen Buch beisammen ! Der grosse Moment, an einen munteren Verleger zu glauben und sich das Zustandekommen eines solchen Buches zu wünschen, der scheint mir nun gekommen. Ich jedenfalls würde es mir wünschen !
Rudi K. Sander als dieterbohrer alias @rudolfanders
Danke für deinen warmen Worte. Ich betrachte das Blogschreiben als einigermaßen tappsige Versuche zur Erfindung einer Literalität, die auf Internetkommunikation angepasst ist. Das heißt z.B. auch, dass bücherdrucken und verbreiten nur noch ausnahmsweise geschehen kann, nämlich dann, wenn es für Bücher einen Markt gibt, also eine Öffentlichkeit, deren zustandekommen nicht durch Internetkommunikation bedingt ist. Wenn aber das Gegenteil der wahrscheinliche Fall ist, dann ist Bücherdrucken ein Pleitegeschäft.
Deshalb rechne ich damit, dass die meisten Internetnutzer in nicht ferner Zukunft ein mobiles Lesegerät, ein Kindle oder so etwas benutzen. Dann kann man dieses Blog auch wie ein Buch lesen. Deshalb habe ich ein einspaltiges Blog-Theme gewählt. Die einzelnen Artikel werden ja in den nächsten 10 Jahren nicht deshalb schlecht, weil Zeit vergeht, weil durch Internetkommunikation Zeitverhalte beinahe vollständig in Kontingenz zerfallen. Außerdem sind alle Artikel überarbeitungs- und ergänzungsbedürftig und werden ständig verändert. Blogschreiben ist eine fortlaufende Aktualisierung. Man könnte auch sagen: mein Schreibtisch ist nicht mehr privat versteckt, aber auch nicht öffentlich zugänglich. Privat nicht, weil nicht zugangsbeschränkt; öffentlich nicht, weil die Beiträge (Artikel wie Kommentare) als Selektionen von Lesern und Schreibern nur individuelle Texte ergeben, die keine Resonanz erfahren. Deshalb auch meine Versuche der redunanten Verlinkung. Da jeder andere Links anklickt, entsteht für jeden Leser ein anderer Text. Der Text ist keine Einheit. Deshalb kann man einen Hypertext nicht als Buch drucken. Ein Buch wäre nur eine sehr schmal gehaltene Variante, die über die Komplexität des Textes hinwegtäuscht.