Paranoik und Kritik 3: Die Zeitungsente
von Kusanowsky
zurück zu Paranoik und Kritik 2: Der Nazi-Vergleich
Die Zeitungsente ist so alt wie Tageszeitungen. Schon immer haben Reporter oder Redakteure, mit oder ohne Wissen ihrer Vorgesetzten irgendwelche Falschmeldungen verbreitet, um anschließend über die Reaktion des Publikums zu berichten. Interessant ist daran, dass zwar die Zeitungsente dem Ethos eines seriösen Journalimus als obszön gilt, dennoch kann kein Journalismus, wie seriös er auch immer erscheinen will, weder auf die Veröffentlichung von eigenen Zeitungsenten verzichten noch auf die Berichterstattung über Zeitungsenten der Konkurrenz. Das mag daran liegen, dass dieses Ethos sich auch noch auf die Publikation Zeitungsenten bezieht, indem nämlich der Unterschied von Realität und Fiktion damit nicht denunziert, sondern im Gegenteil durch eine Zeitungsente in Erinnerung gerufen wird. So ist die Zeitungsente ein geregelter Regelverstoß um die Funktionsbedingungen von Massenmedien wieder vergessen zu können, damit die Orientierung an der Unterscheidung von Realität und Fiktion verlässlich gelingt. Denn nur so können Massenmedien den Neuigkeitswert von Nachrichten am massenmedialen Dispositiv überprüfen, ohne jedesmal eindeutig wissen zu müssen, was real oder fiktiv ist.
Genau dieses Schema konnte man beim Ping-Pong-Spiel zwischen Süddeutscher Zeitung und der FAZ bemerken. Statt Kritik an einem Gedicht von Günther Grass zu üben, dessen Kritikfähgkeit ohnehin mit keinem Argument mehr zu ermessen ist, wurde bei der FAZ der Versuch unternommen, dieses Gedicht als eine gelungene Ente der Titanic-Redaktion zu melden, der es gelungen sei, dieses Gedicht der SZ als ein Bullshit-Fake unterzujubeln. Natürlich war von Anfang an klar, dass alles heraus kommen wird, aber warum geschah es trotzdem? Der Grund ist nur in der Funktionsweise des Systems selbst zu finden. Der Unterschied von Realität und Fiktion musste mal wieder auf seine Haltbarkeit überprüft werden. Und es ging auch darum zu schauen, ob sich am Erregungsmuster der Internetkommunikation schon Regeländerungen bemerkbar machen könnten. Tatsächlich verlief alles wie gewohnt. Der Stabilität des Unterschieds von Realität und Fiktion konnte wieder ihre Unbedenklichkeit attestiert werden. Diese Zeitungsenten-Probe hatte zum x-ten Male bewiesen, dass Journalisten den Unterschied von Realität und Fiktion sehr genau kennen. Der Beweis wurde nach systemeigenen Regeln erbracht, nach Regeln, durch die der Unterschied von Realität und Fiktion nicht nur entsteht, sondern auch überprüft wird.
Damit wäre die Sache erledigt und man könnte nun die Stoppuhr laufen lassen um zu prüfen, wie lang es dauert bis ein weiterer Test-Durchlauf nötig wird. Wichtig ist nun, dass die Regeln nicht nur den Unterschied und die nötigen Referenzen hervorbringen, sondern auch die Möglichkeit der Vertauschung von Referenzen. Das ist der Grund, weshalb die Prüfung notwendig wird. Und prinzipiell spricht nichts dagegen, dass beim nächsten Durchlauf die Komplexität der Irritationen gesteigert werden könnte. Um bei diesem Beispiel zu bleiben: Man stelle sich vor, die Titanic-Redaktion hätte dieses Ente dadurch bestätigt, indem sie gemeldet hätte, die Schummelei sei durch Mithilfe oder durch Vermittlung eines FAZ-Redakteurs gelungen. Und wäre von der SZ ein Dementi gekommen, dann hätte sich ein weiterer Mitspieler einmischen können, indem er dieses Dementi wiederum als Bestätigung interpretiert hätte.
Jedenfalls wurde in der Berichterstattung der Stuttarter Zeitung der Hinweis auf einen Borderline-Journalismus gegeben. Ein Journalismus, der, statt Kritik zu formulieren und Meinung zu verbreiten, damit anfängt das Risiko der Vertauschung von Referenzen absichtlich zu steigern, würde lernen, eine Diziplin der Kritik um eine Diszplin der Paranoik zu erweitern. Seitdem das Internet funktioniert, gibt es wenig, das dagegen spricht.
Das Ethos eines seriösen Journalismus fängt bald an, selbst als obszön zu erscheinen.
Gesetzt, deine Test-Hypothese ist richtig: Warum hat die von Dir weitergesponnene Eulenspiegel nicht stattgefunden bzw. woher sollte man wissen, dass sie nicht stattgefunden hat? Die Zeitungsente ist an ihre Aufklärung gebunden. Täuschung und Aufklärung haben aber zwei Seiten: die Leser und die Kollegen. Ich würde die Test-Hypothese daher vielleicht differenzieren (hier wäre ja der richtige Ort dafür, könnte man sagen, wenn das kein Kalauer würde):
Vielleicht testest nicht das „System Journalismus“ seine eigene Leitunterscheidung real/fiktiv, sondern Kollegen testen Kollegen oder wollen sie in die Pfanne hauen, um dann über die Aufklärung des Täuschungsmanövers die Konkurrenz als unkritisch zu entlarven bzw. herauszufinden, wer von wem abschreibt, um über diesen Umweg ihre eigene Diskursmacht zu beglaubigen und dem Leser vorzuführen, wer hier das Leitmedium ist. Zeitungsenten auf Lokalebene können ja im Grunde nur Leser brüskieren, aber keine Kollegen. Um die erweiterte Hypothese zu testen, müsste man also einmal das Vorkommen von Zeitungsenten nach Medienreichweite quantifizieren.
Ein ähnliches Verfahren gab und gibt es ja auch im Bereich des Lexikonwesens schon seit dem 19. Jahrhundert. So tauchen immer wieder Artikel in renommierten Nachschlagewerken über obskure Entitäten auf, wie z.B. die „Steinlaus“ im Pschyrembel, um über ihre Verbreitung die eigene Originalität und Diskursmacht festzustellen: Wenn Steinläuse plötzlich irgendwo anders auftauchen, wurde zweifelsfrei abgeschrieben und man kann die Kollegen als lächerlich und ihr Konkurrenzprodukt als unglaubwürdig diskreditieren.
Die durch Zeitungsenten getestete Leitdifferenz würde sich daher von real/fiktiv auf vertrauenswürdig/lächerlich verschieben. Das auf dieser Differenz beruhende Verfahren wäre nun mit der von Dir insinuierten Eulenspiegelei nicht mehr durchführbar. Denn solange die Bedingungen weiterbestehen, unter denen das Verfahren praktikabel ist (d.h. ökonomische Konkurrenz + Kontrolle der Referenz), kann man nie sicher sein, wann bisherige Mitspieler aus dem Spiel aussteigen und die Entlarvungskarte ausspielen, durch die sie sich den Glaubwürdigkeitsstatus sichern könnten, um den es dabei geht. In diesem Fall hätte es nur funktioniert, wenn Grass (als die zu kontrollierende Referenz), sich selber als Eulenspiegel inszeniert hätte. Aber nach allem, was man so von ihm hört, ist das wohl nicht zu erwarten.
Wie wäre es in Anlehnung an das vorher Gesagte mit einer Revitalisierung des Gonzo-Journalismus?
http://de.wikipedia.org/wiki/Gonzo-Journalismus
Das ist eine interessante Betrachtungsweise, durch die das ganze gut ergänzt.
Das stimmt. Entscheidend an solche Spielereien ist das Risko, dass man eingeht, wenn es um die Unterscheidung „vertrauenswürdig/lächerlich“ gehen würde, da niemand aus sich selbst heraus garantieren kann, von diesem Spiel unberührt zu bleiben, so dass jeder, der mitspielen würde immer auch Gefahr läuft, dem Risiko nicht gewachsen zu sein. Insofern könnte deine Vermutung sehr gut zu treffen, weil damit erklärt werden könnte, dass das Spiel nicht weiter geht, wegen des zu großen Risikos ein Eigentor zu schießen.
Ein anderer Grund für ein Stopp-Signal könnte mit dem zusammenhängen, was ich hier schon verschiedene Male versuche, durchzudiskutieren, nämlich mit Vermeidungsstrukturen der modernen Gesellschaft, die sich in diesem Fall als Ethos niederschlagen. Das Journalisten-Ethos wäre entsprechend ein Vermeidungsprodukt, mit dem die Fremdreferenz noch garantiert wird, aufgrund der empiriefreien Vorsicht, dass selbstreferenzielle Operativität in Idiotie zerfallen könnte. Das Ethos hätte in dieser Hinsicht eine Vermeidungsverstärkungsfunktion. Im gleichen Maße, wie die Systemevolution dieses Ethos hervorbringt und sich erfolgreich stabilisiert, muss es, nachdem seine Kontingenz in Erfahrung gebracht wurde, durch die Systemevolution auch wieder zerfallen können. Das geht, wenn die Risikokalkulation an einer bestimmten Schwelle begrenzt wird, durch dies es möglich wird, diese Schwelle nach und nach anzuheben und schließlich zu übersteigen. Das ganze geht nur als Systemprozess vor sich und nicht ohne Rückschläge und Verwirrungen.
Als Beispiel für die etappenmäßige Übersteigung einer solchen Vermeidungsschwelle ist der Prozess der Einführung von ungedecktem Geld, der vom 17. bis ins 20. Jahrundert hinein gedauert hat und häufig als ein Erfahrungsprozess des staatlich kontrollierten Kreditbetrugs bezeichnet wird.
http://wiki.freiheitsforum.com/wiki/Die_Geldfalle/Wie_hat_sich_Falschgeld_entwickelt%3F
Nicht zu Unrecht deshalb, da die Unterscheidung von Echtgeld und Falschgeld an die Unterscheidung von Realität und Fiktion geknüpft wird und die Frage, was Recht und was Unrecht ist, davon ebenfalls infiziert ist. Insofern müsste ich, wenn ich meine Vermutung beibehalten möchte, dass dieses Zeitungsentenspiel an diesem Ethos rüttelt, ergänzen, dass die Unterscheidung von Recht und Unrecht, sofern sie die durch die Unterscheidung von Realität und Fiktion konditioniert wird, ebenfalls und gleichzeitig fraglich wird, was insbesondere an der Bankenkrise 2008 deutlich wurde.
Schön an diesem Wikipedia-Artikel finde ich diese Formulierung
Ich rechne diese Formulierung einer spezifischen Vermeidungsstruktur zu, welcher Wikipedia-Autoren unterliegen, welche stupide davon ausgehen, dass journalistische Kriterien klar wären, indem die Unterscheidung Realität und Fiktion durch die Unterscheidung Journalismus und Literatur konditioniert wird. Das geht, weil man von Literaten erwarten, dass ihnen die Unterscheidung von Realität und Fiktion auch bekannt ist und welche ebenfalls einer Vermeidungsstruktur unterliegen, die selbst wiederum erwarten können, dass Journalisten ähnlich konditioniert werden.
Ich verfolge das unter der Frage: wie lange noch? Also: wie lange bleibt die Funtion der Reproduktion dieser Vermeidungsstrukturen noch einigermaßen intakt?
Wird an den Schulen routinemäßig der Umgang mit Photoshop schon unterrichtet?
Nachtrag:
Finanzsphäre sollte Realwirtschaft dienen
@stromgeist
„Vielleicht testest nicht das “System Journalismus”…“
Das „System Journalismus“ kann nicht „testen“, da es dieses (ein solches) System nicht gibt.
Solltest du das anders sehen, dann beschreibe einfach kurz „das System Journalismus“ anhand üblicher Systemmerkmale ….
Nimm dir ruhig Zeit.
Auch wegdenken (fort -!- schreiten) von den Floskeln hilft manchmal weiter, die Floskeln aber nie.
@Neonleuchte und @Kusanowsky: Gonzo-Journalismus hin und her und weg:
„Wie wäre es in Anlehnung an das vorher Gesagte mit einer Revitalisierung des Gonzo-Journalismus?“
„Der Gonzo-Journalismus ist kein Journalismus, es ist nur ein Stück Literatur und hat mit Journalismus nichts zu tun“.
Nicht alles, was meine böse Schwiegermutter kocht, ist allein deshalb vergiftet.
Ähnlich ist das mit Wikipedia, z.B. vielleicht hier?
Was der Schreiber sich besorgt und dort plaziert, ist nicht allein dadurch vergiftet, das es nun auch dort plaziert wurde.
Man stelle sich sonst vor, das würde man auf einen dort beschriebenen Konstruktivismus anwenden …
„philosophieren“ wir nun nach der Seele unserer Gefühle ?
@Kusanowsy So wie ich Deine Gedanken zur Vermeidungsstruktur verstanden habe, müsste sie in dem Fall auf der Regel beruhen: „Vermeide, dass Selbstreferntialität totalitär wird und sichere die Bezug auf die Fremdreferenz!“ Oder semiotisch ausgedrückt: „Markiere Deine Aussagen mir dem Index des Realen!“ Wenn das so ungefähr stimmt, müsste man die Vermeidungsstruktur vielleicht mit der Spiellogik der Zeitungsente kombinieren, deren Regel also lauten könnte: „Kommuniziere mir fingiertem Realitätsindex (=vermeide den Index der Ironie und des Fiktionalen) und beobachte, wer die Kommunikation unter diesen Voraussetzungen fortsetzt. Negiere dann beim Anschluss an die fortgesetzte Kommunikation den fingierten Realitätsindex und markiere die irregeführten Anschlüsse als lächerlich“. Ausgehend davon könnte man dann einmal genauer untersuchen, wie sie miteinander in Wechselwirkung treten. Inwiefern also der Index der Lächerlichkeit den des Realen voraussetzt und gleichzeitig auch herstellt. Auf einer Beobachtungsstufe zweiter Ordnung könnte man dann die Regel formulieren: „Vermeide die Kommunikation dieses Zusammenhangs, denn sie würde eine der zwei Regeln und damit beide suspendieren.“
@neonleuchte Vielleicht wäre der Gonzo-Journalismus ja wiederum eine mögliche Strategie, die Vermeidungsregel zweiter Ordnung zu unterlaufen und zugleich zu bestätigen. Wäre etwa ein Gonzo-Journalist als ein Akteur von Kusanowskys insinuierte Eulenspiegelei denkbar oder wäre diese nur möglich, wenn alle Akteure Gonzo-Journalisten wären? Und wie verhielte es sich mit der paranoischen Umkehrung: Aller Journalismus ist immer fiktional (Literatur=Täuschung), aber nur unter der Ägide eines verborgenen Realitätsindexes (Geheimnis=Wahrheit). Wären Verschwörungstheorien dann Anschlussstrategien, die aus der Beobachtung der Vermeidungsregel zweiter Ordnung einen Realitätsindex abduzieren, der wieder zu deren Einhaltung verhilft?
@Admiral Nelson Wie kommst Du zu der Vermutung, dass ich einen als Zitat oder Ironie („Anführungszeichen“) markierten Ausdruck für eine Entität, deren Tätigkeit noch im selben Satz negiert wird („nicht“) als eine Existenzaussage haben kommunizieren wollen? Die Aussage des Satz ist unabhängig davon, ob es ein solches System gibt oder nicht.
Eine paranoische Situation könnte sich aus er doppelt kontingenten Beobachtung ergeben, dass jede Seite über die andere Seite weiß, dass jede Seite ihre Realitätsvermutung für sich behält und darum annehmen kann, dass dieser Realitätsindex verborgen ist, obwohl er dies einer jeden Selbsbeobachtung nach, sofern die Verifikation über doppelte Kontingenz noch funktioniert, nicht ist. Das Ziel eines solchen Spiels wäre es zu testen, wie weit Differenzen strapaziert werden könnten ohne das Spiel durch Aufdeckung zu beenden, vergleichbar mit dem sog. „Hasenfuss-Rennen“ („chicken run”) aus dem Film: „Denn sie wissen nicht was sie tun“: Zwei Wettkämpfer fahren mit Autos auf einen Abgrund zu. Wer zuerst aus dem Auto springt, ist ein Feigling. (Im Film wird erzählt, dass der Gewinner das Rennen nicht überlebt, woraus sich durchaus paradox die Frage ergibt, ob der Gewinner nicht eigentlich der Verlierer ist, nur kann man ihn dazu nicht befragen, weil er nicht überlebt hat.)
Aber viel interessanter die Folgewirkungen, wenn der Unterschied zwischen Realität und Fiktion nicht mehr referenzierbar ist, weil die Kommunikation nur noch die Referenz über Referenzlosigkeit zulässt. Erzählt wird dies beispielsweise in dem Film von Alfred Hitcock „Immer Ärger mit Harry“ : eine zufällig gefundene Leiche wird von immer mehr Leuten so häufig vergraben und wieder ausgegraben bis verwickelte Verhältnisse entstehen, durch die am Ende niemand mehr sagen kann, wie sich die Geschichte entwickelt hatte, was noch wahr sei und was nicht.
„Die Komik beruht auf Understatement. Man redet von einer Leiche wie von einer verlegten Brille. Diese netten sympathischen Leutchen, die da unmoralisch und skrupellos mit einem toten Körper hantieren, ihn mal in die Badewanne werfen, mal an den Füßen durch die Gegend schleifen, und alles stets nur unter einem pragmatischen Blickwinkel betrachten, sind die am liebevollsten gezeichneten Menschen, die man, vielleicht einmal von Shadow of a doubt abgesehen, bei Hitchcock finden kann. Ihnen, den kleinen Leuten jenseits der großen aufregenden Weltereignisse, gehört hier seine ganze Sympathie. Sie streben nicht nach den Juwelen, nach dem Geld und der Macht, die in allen anderen Filmen immer Katastrophen auslöst. Teils sind sie schlicht zu alt, teils interessiert es sie einfach nicht.“ Die Zeit, 1984
Eine Paranoik des Unterschieds von Realität und Fiktion würde damit die Fortsetzung der Kommunikation unter die Bedingung stellen, aufgrund der Irreversibilität der geschaffenen Tatsachen die Verlängerung von Unklarheiten zur Notwendigkeit zu machen, wobei das Risiko darin besteht, die eigene Klarheit nicht aus den Augen zu verlieren. Eine Paranoik würde sich auf einer solchen Beobachtungsebene das Vermeidungsproblem der Fremdreferenz einhandeln, durch welche erkennbar würde, dass alles ganz banal und harmlos ist. So entstünde dann logos durch ludus und andersherum.
Und vielleicht entstehen dadurch dann auch Problemlösungskompetenzen für die Angelegenheit, mit denen man gegenwärtig kaum zurecht kommt, weil die Frage nach Empirie gebunden wird an die Frage der Imagination.
Demnach soll ich dein „System Journalismus“ also als deine persönliche „Steinlaus“ verstehen?
Gegen deinen von dir gerechtfertigten Satz hatte und habe ich nichts einzuwenden, er war ja klar formuliert.
Als „Entität“ habe ICH nichts bezeichnet, allerdings du – trotz Markierung – das „System Journalismus“, das ja auch ich markierte.
Das ist jedoch alles nicht das Problem, sondern mehr die Deutlichkeit, mit der ein permanentes Unverständnis zu „Journalismus“ und „System“ anhand dieses verunglückten Beispiels quasi „unbeabsichtigt nebenbei“, als kollaterales Produkt den Hintergrund der anderen Ausführungen ziemlich in Frage stellt.
Nicht alles, was hinkt, ist ein Beispiel …
Ist das hier Wissenschaft, Zeitgeschichte, Philosophie? Lange Beiträge. Was mir am Ur-Eintrag ganz oben gefällt, ist die Beschreibung dessen, was passiert ist, als eine Karambolage.
Mir scheint für ein Verständnis der Beziehung zwischen den fünf Personen, also dem Dichter, dem Zeitungsverlag des Gedichtes, dem Zeitungsverlag der Denunziation des Gedichtes, und dem Zeitungsverlag, der als Urheber denunziert wurde, und den Lesern aller Zeitungen, um die Vorhersage und dann die Rekonstruktion der Flugbahn von Kugeln zu gehen. Kugeln in der Luft oder auf einem Billardtisch.
Es geht dann darum, worauf wurde gezielt, welche Gebiete wurden durchquert, wo prallte die Kugel ab, wohin gelangte sie, in wessen Feld kam sie zu liegen, wer fürchtete sich vor ihr, wer nahm sie furchtlos vom Boden auf oder fing sie sogar im Flug.
Der Dichter hat vielleicht gedacht, er verfüge über eine schnelle Kugel, die in ihr Ziel gelänge, also vielleicht das moralische Herz der Nation. Seine Kugel ist aber lahm, fällt aus dem Lauf gleich zu Boden. Dort raubte sie der Denunziant der Zeitung, in der das Gedicht stand, und legte sie in den Vorgarten einer andern Zeitung.
Wer verfügt denn in dieser Karambolage noch über Kugeln, die so schnell sind und so genau gestossen, dass sie ihr Ziel erreichen?
@Kusanowsky Vielleicht könnte man den Zusammenhang auch als ein Zusammenspiel von der „Arbeit am Mythos“ und dem untersuchen, was Blumenberg die „finale Höhlenfiktion“ nannte: „Es gehört zum Wesen des Simulators, daß man wissen darf, es werde ’nur‘ simuliert. Die Anamnesis, deren Funktion dann doch der ‚Mythos‘ übernähme, wäre die, es aufs Vergessenlassen der Grundbedingungen nicht ankommen zu lassen; und das, obwohl doch die alles beherrschende Konzession der Erzählung sein müßte, es sei durchaus nicht zu ‚haben‘, woran erinnert werden sollte.“ Vgl. dazu die Erklärung Weidermanns gegenüber der dpa in dem oben von Dir angeführten Artikel: „‚Fiktion und Wahrheit‘ seien ja ’nicht mehr wirklich‘ zu unterscheiden. ‚Ob sich das jetzt die ,Titanic’ oder Günter Grass ausdenkt, ist für mich kein großer Unterschied.'“
@Admiral Nelson Es gab mal einen Kapitän, der solange Steinläuse harpunierte, bis er sich vor Langeweile selber den Wind aus den Segeln gähnte.
Man müsste noch mehr Kugeln ins Spiel bringen.
„Es geht dann darum, worauf wurde gezielt, welche Gebiete wurden durchquert, wo prallte die Kugel ab, wohin gelangte sie, in wessen Feld kam sie zu liegen, wer fürchtete sich vor ihr, wer nahm sie furchtlos vom Boden auf oder fing sie sogar im Flug.“
Ja.
Nicht das Gras-GeRicht (als GeDicht nur versteckter formuliert) ist die Karambolage, auch nicht die diversen Händeleien der versteckten und offenen redaktionellen Trittbrettfahrer aller Coleur, sondern die ursprünglich beschriebene (da gebe ich dir Recht) Sachlage ist die eigentliche Karambolage: Die Kugeln sind geflogen.
Auch eine “lahme” fällt immer nach unten …, gegebenenfalls etwas langsamer, etwas länger?
“Es geht dann darum, … wer fürchtete sich vor ihr, wer nahm sie furchtlos vom Boden auf oder fing sie sogar im Flug.”
Der Fänger ist immer zugleich der Getroffene – oder es geht nicht.
“Wer verfügt denn in dieser Karambolage noch über Kugeln, die so schnell sind und so genau gestossen, dass sie ihr Ziel erreichen?”
Alle Kugeln – um im gleichen Spiel zu bleiben – erreichen ihr Ziel, ob langsam oder schnell, ob genau oder nur gestoßen, gleich wer darüber verfügt, denn:
Das Spiel ist erst dann beendet, dieses, erst dann beendbar.
So sind die Spielregeln.
Oder ist hier nicht das „Spiel mit den Kugeln“ sondern ein Rhizom gemeint, Knolle an Knolle?
Für ein Realitätsverständnis, das sich aus der Beurteilung von Simulationen ergibt, gilt aber auch, dass nur die Simulation real ist, weil man eine Simulationen nicht simulieren kann. Man kann zwar so tun „als ob“, aber wenn, dann kann man nicht so tun also ob man so tue. (Man kann schauspielerisches Talent nicht vortäuschen.)
Insofern dürfte sich für eine Paranoik ergeben, dass die Einschränkung für ein Realitätsverständnis sich nicht aus einem „Nur“ der Simulation ergibt, sondern aus einem „Nichtmehr“ – simulieren heisst dann, das durch Simulation Referenzierte nicht mehr für wahr zu halten zu müssen, es sei denn, man habe es mit Simulation zu tun, die, bar jeglicher semiotischer Ausgangsbedingungen, die Kunst (techné) des Selbstverweises durch Vermeidung des Fremdverweises differenziert und durch Differenzierung expliziert.
Was geschieht denn hier?
Man kann kein Talent täuschen, auch nicht vor täuschen, es sei denn, man tut so…
Man kann zwar so tun “als ob”, aber wenn, dann kann man nicht so tun also ob man so tue. (Man kann schauspielerisches Talent nicht vortäuschen.)
Wieso sollte man nicht tun können? Ein Agent spielt einen Doppelagenten und ist vielleicht auch einer. Ein Stasi-Agent, der eine Frau heiratet, um sie zu bespitzeln, verliebt sich schließlich doch in sie. Eine Prostituierte verliebt sich in einen Freier, aber zeigt es ihm nicht und spielt weiterhin die Prostituierte. Ein Zauberkünstler auf der Bühne spielt einen Zauberer, ist aber wirklich einer. Der angebliche Probedurchlauf eines Castings ist schon das eigentliche Casting. Etc. …
„Wieso sollte man nicht tun können?“
Dazu fällt mir ein Witz ein: Jesus Christus kommt auf die Erde und trifft zwei Hippies mit einem Joint. Einer bietet Jesus ein Zug an. Der nimmt einen tiefen Zug und sagt: „Übrigens, ich bin Jesus.“ Worauf einer der beiden sagt: „So ist es richtig Bruder, so muss das sein.“
„Der angebliche Probedurchlauf eines Castings ist schon das eigentliche Casting“ Entweder erkennt man das oder erkennt es nicht. Wenn man es nicht erkennt, dann erkennt man es nicht. Und wenn doch, dann doch. Ein schlechter Schauspieler könnte einen guten Schauspieler spielen? Wenn es gelingt, dass ist nicht erkennbar, wie er ein schlechter Schauspieler sein könnte, wenn er doch gut spielen kann. Wenn er aber schlecht spielt, wie könnte er gut spielen?
Allerdings wäre die Unerkennbarkeit, bzw. die Unmöglichkeit, so etwas zu entscheiden eine Fähigkeit, die zukünftig paranoische Cyborgs entwickelt haben werden.
Die Komplikation löst sich, glaube ich, etwas auf, wenn man die Paradoxie nicht nur auf einer (selbstreferentiellen), sondern mehreren (aufeinander referierenden) Ebenen betrachtet, wodurch sie natürlich auch komplexer wird. „Wie sollte ein schlechter Schauspieler einen guten spielen?“ Das ist eigentlich recht einfach: Sagen wir Tom Cruise soll Charly Chaplin spielen. „Wenn es gelingt, dass ist nicht erkennbar, wie er ein schlechter Schauspieler sein könnte“. Stimmt. „Wenn er aber schlecht spielt, wie könnte er gut spielen?“ Wahrscheinlich nicht und er scheitert. Aber er hat es eben getan bzw. versucht und der Versuch ist als gescheiterter beobachtbar, also nicht unerkennbar. Wie zukünftige paranoische Cyborgs das ändern könnten, habe ich nicht verstanden.
Das ist auch nicht so einfach zu erklären. Es handelt sich dabei um einen sozialen Erfahrungsbildungsprozess, der mit dem beginnt, was man jetzt schon erlernen kann, nämlich durch Regeln der nicht-überzeugten Verständigung, die umso besser funktionieren, je wichtiger es wird, die transzendentale Subjektivität zu verlernen.
[…] zurück zu Paranoik und Kritik 3: Die Zeitungsente […]