Protest und Utopie – Beispiele für magische Praxis

Handelnde Subjekte haben die Konsequenzen ihrer Handlungen zu verantworten. So einfach wie dieser Satz formuliert ist, kann er als Erkenntnis nicht zustande kommen. Wenn man sich die Mühe machen wollte, den Voraussetzungsreichtum für das Zustandekommen solch einer Erkenntnis zu ermitteln, müsste man – knapp geschätzt – den ganzen Arbeitsaufwand nachholen, der erbracht wurde, um so etwas zum allgemeinen Wissensbestand zu machen. Dieser Aufwand erstreckt sich über mehrere Jahrhunderte, in denen viele Generationen die damit zusammenhängenden höchst komplizierten Aussichten und Einwände durchgeprüft haben.

Eine solcher Erkenntnis kommt nicht durch Mehrheitsbeschluss zustande. Sie wird nicht beschlossen oder irgendwann von irgendwem in Kraft gesetzt. Sie kann dann entstehen, wenn auch das Scheitern dieser Einsicht dazu verwendet wird, ihre Plausibilität zu verstärken. Dieser Effekt, Verstärkung durch Scheitern, scheint mir auf Ergebnisse magischer Praktiken hinzudeuten, die mit den Mitteln der Rationalität, durch welche die moderne Gesellschaft magische Erklärungsgründe abgesondert hat, nicht vollständig zu erklären sind.

Die Unvollständigkeit der abendländischen Rationalität hat darin ihren Grund. Sie weigerte sich, das, was duch ihre eigenen Erklärungsgründe unwahrscheinlich geworden war, als Möglichkeit der Erklärung wiederum zu berücksichtigen. Das rationale Argument lautet: das Unwahrscheinliche ist nicht normal. Aber einsichtig ist dieses Argument nur, wenn man auf eine rationale Überprüfung verzichtet.

Schon die einfache Überlegung zeigt, wie wenig überzeugend die Behauptung ist, dass man seine Handlungen selbst zu verantworten hätte. Denn erstens: was habe ich eigentlich getan? Die Information darüber ist auch abhängig von der Handlung anderer. Und zweitens: wie könnte ich noch etwas tun, wenn ich die Konsequenzen kennen müsste? Wie könnte ich sie kennen lernen, wenn ich nichts täte? Gewiss sind diese Einwände niemals unberücksichtigt geblieben, aber haben nur dazu geführt, dass die Gegeneinwände die Einsicht verstärkten. Darum müsste man eigentlich einmal auf die Idee kommen, nach den Ausweichstrategien fragen, durch die es attraktiv wird, dem Scheitern noch eine Chance auf Hoffnung abzugewinnen. Zwei sich gegenseitig stützende Strategien sind Utopie und Protest. Beides sind Strategien, durch die das eigene Scheitern als Unschuld imaginiert wird.

Utopien, Appellle zur Diskussion von Utopien, eine Kritik ihrer Möglichkeit und alle Arbeit zu ihrer Herstellung entstehen, wenn in einem Kommunikationskontext bemerkt wird, wie undurchsichtig die eigenen Absichten und die daraus sich ergebenden Rechtfertigungsgründe sind. Denn würde man diesen Mangel eingestehen, könnte man nichts mehr tun. Will man aber dennoch etwas tun und sieht ein, dass die Konsequenzen unüberschaubar sind, handelt man, indem  die eigenen Defizite auf eine Zukunft verlagert werden, in der verstanden werden könnte, was gegenwärtig unverstanden bleiben muss. Die Handlung als Aufforderung zur Utopie ist darum eine Handlung, die durch Rationalität ihres reflexiven Charakters beraubt wird und damit als magische Handlung unbemerkt bleibt. Denn durch Vollzug dieser Handlung werden ihre Konsquenzen in der Weise verantwortet, dass das Scheitern dieser Utopie auf ein Spätermal gelegt wird, oder, sollte sich unwahrscheinlicherweise dennoch erfolgreich sein, sie selbstrechtfertigend als zutreffender Grund für ihre Plausibilität vorgezogen wird. Darum bezeichnet die Utopie das Erwünschte und der kommunikative Vollzug von Utopien ist Wunschhandlung.

Unwichtig zu ergänzen, dass dazu auch die Ablehnung von Utopien gehört. Verantwortet wird hier der Wunsch, dessen Konsequenzen man sich vollständig sicher ist: kommt es zur Wunscherfüllung, war der Wunsch berechtigt. Passiert dies nicht, passiert nur die erwünschte Zukunft nicht. Die eigene Unschuld wird immer erkennbar.
Das Scheitern ist rational. Aber das Einsehen dieser Rationalität hat nur magische Erklärungsgründe.

Bezieht sich die Utopie auf das Wünschen, so der Protest auf das Verwünschen. Auch für den Protest gilt analog, dass es eine nicht beobachtbare reflexive Handlung ist, deren Rationalität magischen Charakter hat. Bei Protest handelt es sich um Verwünschung, durch welche die eigene Handlungsfähigkeit rational stabilisiert wird, ohne diese Rationalität vollständig durchschauen zu können. Protesthandlungen werden notwendig, wenn man die unzureichenden Erklärungsgründe anderer feststellt und man sich einbilden darf, die Konsequenzen dieser Einsichtslosigkeit der anderen besser zu überschauen. Wenn nun die eigene Machtlosigkeit evident wird, muss sie, um diese zugestehen zu können, mit rationalen Argumenten aus der Welt geschafft werden. Das geschieht durch Imaginierung von Gegenmacht. Die Protesthandlung ist der Versuch, Gegenmacht aufgrund besseren Wissens zu organisieren; und diese Handlung kann nun wieder vollständig verantwortet werden, weil man die unzureichenden Erklärungsgründe der anderen Seite durchschaut und die eigene Machtlosigkeit dadurch unterdrücken kann, indem man sie ungeniert vorführt. Der Effekt, der durch Vorführung entsteht, ist magischer Natur. Man rettet seine Unschuld ob des zu erwartenden Unheils, weil man durch Protest die Gründe für das Unheil verwünscht.  Ereignet sich das Unheil, sind andere Schuld, ereignet es sich nicht, dann wird gegen etwas anderes protestiert.

Und vielleicht könnte man diese Betrachtung erweitern, indem man jeder Utopie auf der Rückseite einen Protest, und jedem Protest eine Utopie zuordnet. Erst in dem Fall ergibt sich Einicht, dass eine Rationalität dieses Geschehens mit keiner Lupe zu finden ist. Dass dies aber unbemerkt bleiben kann, hängt mit Magie zusammen. Magie bewirkt nicht beobachtbare Reflexivität.

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