Beobachtung eines moralischen Arguments @b_thaler
von Kusanowsky
Der Verzicht auf Moral ist für das moderne Subjekt keine einfache Sache. Mit der zitierten Sentenz ist aber kein Verzicht auf Moral ausgesprochen. Es wird damit nur ein Hinweis gegeben auf die Kraft des verschwiegenen Arguments, welches seine Überzeugungsfähigkeit allerdings nur entfalten kann, wenn es schlagfertig eingesetzt wird, wenn also das Argument zum richtigen Zeipunkt nicht geäußert wird; wenn das rechtzeigte, absichtliche Verschweigen für den Fortgang des Gesprächs anschlussfähig wird. Aber wer könnte diesen Punkt vorhersehbar treffen angesichts einer chaotisch virulenten Moralreflexion, die kaum noch einen Beobachtungsstandpunkt hevorbringt, von dem aus man auch nur annähernd wissen könnte, welche Art von Moral noch relevant ist, geschweige denn welche Begründungen derselben.
Wollte man sich moralphilosophisch damit beschäftigen, käme man nicht daran vorbei, auch in Fragen der Moral eine Selbstreferenz einzuführen, die eine prinzipielle Unentscheidbarkeit über eine Moral der Moralphilosphie behauptet, was entweder dazu führen könnte, diese Selbstreferenz selbst als obszön zu beobachten. Oder man verzichtet auf die Fortsetzung der Kommunikation über Moral. Entsprechend dürfte dann für einen Moraltheoretiker das gelten, was Luhmann einmal für den Erkenntnistheoretiker festgestellt hat:
„So wird der Erkenntnistheoretiker selbst Ratte im Labyrinth und muss reflektieren,von welchem Platz aus er die anderen Ratten beobachtet.“
Luhmann, Niklas: Erkenntnis als Konstruktion, Bern 1988, S.24.
Luhmann konnte noch glauben, der Erkenntnistheoretiker könnte einen Platz finden. Und ob man das von einem Moraltheoretiker noch glauben kann?
“ Aber wer könnte diesen Punkt vorhersehbar treffen angesichts einer chaotisch virulenten Moralreflexion, die kaum noch einen Beobachtungsstandpunkt hevorbringt, von dem aus man auch nur annähernd wissen könnte, welche Art von Moral noch relevant ist, geschweige denn welche Begründungen derselben.“
Das ist aber doch die Konstruktion von Chaos und Komplexität, die in der Theorie statt findet. Begründungen sind doch dafür da, einer Meinung, einem Urteil oder einem Wert Verständlichkeit zu geben. Wenn ich ein moralisches Urteil begründe tue ich so, als ob das alle verstehen und teilen könnten. Natürlich kann man solche Operationen beobachten, aber das ist nicht weiter obszön oder ‚Kommunikation über Moral‘ beendend. Es macht vielmehr klar, was wir da eigentlich tun, wenn wir moralisch argumentieren.
Außerdem liegt das Problem ganz woanders, nicht in der Begründungsunfähigkeit von Moral, sondern in der Spannung zwischen Begründung und individuellem Kontext, Motiv oder individueller Deutung des Arguments.
Was mich in diesem Zusammenhang immer wieder wundert ist, dass es kaum einem auffällt, wie leicht es geworden ist, einen moralischen Standpunkt zu begründen. Diese Einfachheit könnte auf den Umstand zurück zu führen sein, dass moralische Begründungen, weil sie auch jedem Anfänger, jedem zurückgebliebenen, jedem renitenten, ja sogar kriminellen Menschen zugestanden werden, ein unglaubliches Dickicht an Überzeugungen erzeugen, was dazu führt, dass jedem, der sich darin etwas mehr Mühe geben wollte, der etwas gründlicher und besonnener nach Maßgabe dessen, was ehedem unter Sophrosyne verstanden wurde, nachdenken möchte, keinerlei besondere Aufmerksamkeit mehr gegeben wird. Und zwar deshalb, weil alle Aufmerksamkeit von schnelleren, affektiveren und weniger besonnenen Begründungen schon absorbiert ist. Das Wettrennen um einen besonderen, aufmerksamkeitsgenerierenden moralischen Standpunkt kann von niemandem gewonnen werden, der sich der Geschwindigkeit dieses Wettrennens entzieht. Was nicht zufällig dazu führt, dass man häufig den Eindruck hat, dass, je primitiver und idiotischer eine Moral begründet wird, es dann umso einfacher wird, eine anderslautende, aber genauso primitive Moral zu begründen. Der tweet von @b_thaler macht darauf aufmerksam, dass man, wenn man noch nach einer ernstzunehmenden Moral Ausschau halten will, man möglicherweise eher erfolgreich ist, wenn man den einen oder anderen Beobachter beim Schweigen erwischt; eine Überlegung, die zwar selten ist, aber intelligent. Aber, und das wäre mein Einwand gegen seinen Einwand: wie könnte ich lernen, wollte ich mich um einen solchen ausgesuchten und differenzten Begründungsstandpunkt bemühen, mich beim Schweigen beobachten zu lassen? Wer bemerkt mich, wenn ich durch Schweigen versuche, bemerkbar zu machen, dass diese chaotische Virulenz zu gar nichts führt?
Was @b_thaler empfiehlt ist eine Moral des Schweigens über Moral, die aber niemand teilen kann, wenn ein anderer darüber etwas mitteilt. Oder jedenfalls, wenn der Versuch auch zulässig sein mag, so wenigstens eine nur sehr unwahrscheinliche Aussicht auf Erfolg hat.
Ein andere Möglichkeit wäre, Moral überhaupt nicht mehr ernst zu nehmen, und alle Hoffnungen darin für immer dahin zu geben.
Diesen Beitrag von kimberra verstehe ich nicht, weiß nicht, was das sein soll:
„Das ist aber doch die Konstruktion von Chaos und Komplexität, die in der Theorie statt findet? … ??
In welcher „Theorie“ sollte denn dieses stattfinden??
Chaos hat weder in Praxis noch in Theorie etwas mit Konstruktion zu tun, es ist das Gegenteil davon!
Wie nun „eine Konstruktion von Chaos und Komplexität“, also eine Konstruktion (!!) des Gegenteils vom Gegenteil mit dem Gegenteil auch nur „gedacht“ werden sollte, erschließt sich mir nicht – oder liegt es nur daran, daß hier bei jedem Gedanken die Rede nur von „Konstruktion“ die Rede ist ?
Wie dem auch sei, Chaos ist nicht konstruierbar, wenigstens dies dürfte in diesen Text berichtigend so einzuarbeiten sein, da er verständlich werden kann.
Das ist weder ein moralischer noch ein ideologischer Anwurf, sondern der Hinweis auf unsauberes Formulieren (und hoffentlich nicht auch Denken).
@Kusanowsky / 28. April 2012 15:57:
„was dazu führt, dass jedem, der sich darin etwas mehr Mühe geben wollte, der etwas gründlicher und besonnener nach Maßgabe dessen, was ehedem unter Sophrosyne verstanden wurde, nachdenken möchte, keinerlei besondere Aufmerksamkeit mehr gegeben wird.“
Nun kusanowsky, da stapelst du wohl etwas tief:
„Das Wettrennen um einen besonderen, aufmerksamkeitsgenerierenden moralischen Standpunkt kann von niemandem gewonnen werden, der sich der Geschwindigkeit dieses Wettrennens entzieht.“ –
Das sehe ich nicht so. Jedenfall nicht, was den Kusanowsky betrifft – es sei denn, Kusanowsky meint selber, er nähme an diesem Wettlauf teil. Aus meiner Sicht nimmt er nicht, brauch er auch nicht, da seine sanfte hyperbesonnene und treffsichere Art der Formulierung, der An- und Zusprache gar nichts anderes bringen kann, als höchsten aufmerksamkeitsgenerierenden moralischen Standpunkt.
Was soll also die Suche danach oder das Palaver dazu?
Es geht doch wunderbar, und alle dürfen es erlebend verfolgen, nicht nur beobachtend…
Wertschätzungsbekundungen dieser Art kann ich nicht schätzen. Der Grund dafür ist, dass alle Kommentare dieses Blog dem Verdacht ausgesetzt sind, dass sie von mir selbst geschrieben sein könnten. Daher sind solche Formulierungen unmoralisch, weil obszön. Jedenfalls könnten manche Leser, da eine internetgeeignete Trolldisziplin sich noch nicht hinreichend etabliert hat, solche Formulierungen zum Anlass für die Vermutung nehmen, sie seien vielleicht nicht authentisch gemeint, nicht eherlich. Übrigens gilt das gleiche leider nicht für Geringschätzungsbekundungen, da man gemäß der altehrwürdigen kritischen Disziplin nicht so leicht glauben möchte, ein Autor wolle sich selbst beleidigen. Solche anti-symmetrischen Ablehnungen sind ein typisches Zeichen einer von Menschenwürde und Menschenrecht verwöhnten Gesellschaft, die sich durch ihre fanatischen Betrieb der Menschensorge beinahe aller Menschlichkeit entledigt hat und darum nicht mehr ermessen kann, welche Befreiungsleistung es sein könnte, sich in aller Öffentlichkeit selbst zu beschimpfen, sobald man nämlich heraus gefunden hat, dass sogar noch die Beleidigung eines anderen Menschen gar kein Verstoß gegen die zivilisierte Zuverlässigkeit ist. Also: schnauz mich ruhig an, wenn du magst. Ich traue mir zu, mich in aller Öffentlichkeit auch selbstst zu beschimpfen.
Aber ach, durch das Internet wird jede Öffentlichkeit vernichtet, jedenfalls ist von keiner Stelle aus mehr zu sehen, wo die anderen sind und was sie wohl über das denken könnten, was andere denken würden, wenn jemand feststellen könnte, ob und was gedacht wird.
So muss sich leider jeder selbst am Arsch lecken. Aber Freunde ich versichere euch: es geht nicht. Und niemand weiß wie ich das heraus gefunden habe.
„Und zwar deshalb, weil alle Aufmerksamkeit von schnelleren, affektiveren und weniger besonnenen Begründungen schon absorbiert ist.“
Das ist entweder eine vorschnelle, übereilte, unbesonnene und damit ungerechte Pauschalisierung. Oder eine ausgegorene, gut abgehangene Diagnostik, die das, was sie behauptet performativ ad absurdum führt.
@Kusanowsky / 28. April 2012 19:21:
„So muss sich leider jeder selbst am Arsch lecken. “
Den Teufel werde ich tun. Wenn mir eine „Gedankenrabatte“ gefällt und ich sie wertschätze, werde ich das sagen, ob davon der Kusanowsky oder ein anderer betroffen ist.
Obszö finde ich jedoch die von dir in dieser Ablehnung praktizierte Selbstzensur, die bis hin zur geistigen Selbst-Verstümmelung reicht. Wer einmal mit der eigenen Schere im Kopf zwangsweise seine Erfahrungen machen durfte, würde nie sich derart artikulieren und gleich dazwischengehen.
Offenbar lieber Kusanowsky, mußtest du noch keine solche Erfahrungen machen.
Und übrigens: Transparenz ist das nicht gerade, was du da fabrizieren wolltest, moralisch erst recht nicht, schon wegen der Schere im eigenen Kopf.
Vor wem genierst du dich bei solchen positiven Bemerkungen?
Sag es mir und ich schaue sie mir an, irgendwo zeigen sie alle, was sie wollen und selber zu verbergen haben bzw. sich welche falschen Nester selber zusammenpopeln.
Irgendwie ist das doch Moral, verständliche, dauerhaft beobachtete und beobachtbare, oder?
Dem bisher Gesagten möchte ich mich anschließen. Und sicherlich ist Schweigen nicht immer ausreichend. Vielleicht sollten wir das Schweigen dort, wo es der Negation dient, mit einer Handlung koppeln. Ich möchte ein Sinnbild bemühen und vorschlagen, daß wir schweigend in die Luft schießen.
„Vor wem genierst du dich bei solchen positiven Bemerkungen?“
Da ist niemand mehr vor dem ich mich genieren könnte.
Leider habe ich es versäumt, über diese zurückliegende Bemerkung noch etwas ausführlicher nachzudenken:
“Soziale Selbstporträts”? Kurzbemerkung zur Semantik der Paradoxie
„… Sinnbild bemühen und vorschlagen, daß wir schweigend in die Luft schießen.“
So haben schon die Jäger und Sammler gefeiert und getrauert, Duellanten sich gegenseitig ihre reale Feigheit und Realistik durch Vortäuschung eines Scheins bewiesen, Welteroberer ihre letzte Patrone „ins Nichts“ verschossen und angehende Selbstmörder sind damit wieder ins Leben zurückgekehrt – bei noch anderen war es der Startschuß für höchste persönliche Leistung – welches davon (welche davon) hält nun rinasky für moralisch sinnfällig genug beobachtbar an dieser Stelle?
@rinasky Genau darum geht es. Wie sollte das gehen und wer sollte das bemerken? Solange man noch immer hartnäckig an der Auffassung festhalten will, dass es Menschen seien, durch die Handlung zustande käme, kann man nicht erklären, wie denn eine Enthaltungshandlung entstünde. Denn eine Enthaltungshandlung wäre so viel wie keine Handlung. Aber keine Handlung lässt sich nicht beobachten. Wenn also irgendetwas als Handlung auffällt, und sei es, dass es sich um Enthaltung handeln könnte, so müsste schon immer eine Beobachtungshandlung dafür vorausgesetzt sein. Und solange man noch glauben konnte, es gäbe Öffentlichkeit – wie auch immer reflektiert – solange könnte man meinen, sei Schweigen beobachtbar unter der Voraussetzung, dass wenigstens noch Präsenz als Zustand beobachtet werden kann. Aber durch Internetkommunikation wird alle Präsenz aller Zustands- oder Stillstandsvermutung entzogen. Präsenz wäre nur ein Ereignis, das sich nicht mehr von Abwesenheit unterscheidet, weil nämlich auch Abwesenheit noch als Präsenzereignis reflektiert werden kann.
Meine Skepsis so formuliert: nicht einmal der Abbruch der Kommunikation könnte noch bemerkt werden, wenn Öffentlichkeit gänzlich vernichtet würde, denn wo und wie sollte sie sich ereignen? Als Netzöffentlichkeit? Und innerhalb dieser rhizomatischen Strukturen könnte noch eine Moral des Schweigen oder ein Schweigen der Moral bemerkt werden können? Vielleicht sollte man eher glauben, dass eine Moral nur noch denen zugänglich ist, die durch Internetkommunikaiton nicht erreicht werden können.
„Vielleicht sollte man eher glauben, dass eine Moral nur noch denen zugänglich ist, die durch Internetkommunikaiton nicht erreicht werden können.“
„Sollte“? Allgemeine Sollensvorschriften, die Postulate einer Pflichtenlehre, sollte man nicht ohne sie auskommen? Doch es geht nicht.
Mit welchem Szenario könnte man rechnen, wenn sich zeigt, dass die moderne Humanmoral an das Ende ihrer Möglichkeiten gekommen ist? Sich um mehr Menschlichkeit zu kümmern, Menschlichkeit zu schätzen und zu fördern, war das Verdikt, dass gegen all diejenigen verhängt wurde, die sich eben darum bemühten. Weil nämlich an der Förderung von Menschlichkeit zu scheitern die wahrscheinlichste Sache war, sobald man es vesuchte. Denn nach Maßgabe einer Humanmoral gibt es nichts dagegen einzuwenden, die Integrität des einen durch die Zerrüttung der Integrität des anderen zu verteidigen. Die Humanmoral der trivialisierten subjektphilosphischen Tradition steht nunmehr als Hindernis denjenigen im Wege, die den Absprung nicht schaffen.
Diese Leute sitzen nun vor ihren Bildschirmen und fürchten sich vor dem ungebremsten Hass, den sie selbst zulassen, dem sie nicht aus dem Wege gehen können, und gegen den sie nunmehr vollends machtlos sind.
Sie müssen sich ergeben und damit das tun, was auch Hasstrolle tun: sie ergeben sich, indem sie sich still sitzend hinter einem Bildschirm vekrümmeln. Empfindlich wird zwar noch auf Hassworte reagiert, aber noch nicht mit Gelassenheit auf die Beobachtung ihrer Harmlosigkeit. Sie sind harmlos, weil in einer Situation der Ergebenheit, der Machtlosigkeit formuliert und zur Kenntnis gebracht. Wohingegen gefährlich nur diejenigen Hacker sind, die keine Worte mehr machen, sondern Programme. Aber gegen die kann man keine Worte mehr schreiben.
Die Devise lautet: ergib dich! Und wenn nicht freiwillig, dann wirst du zur Freiwilligkeit gezwungen werden, und zwar freiwillig, weil es da niemanden mehr gibt, der noch etwas erzwingen könnte.
Ihr Vier: eine sehr komplexe Argumentation zu einer gleichwohl komplexen Sachlage, Zeitlage, Soziallage. Da vergeht einem jeder Mut, irgendwie/irgendwo anzuschliessen versuchen. Man kann ja aus solch einer mitgeteilten Information (die man keineswegs als flache individuelle und damit auch notgedrungen perspektivische Meinung pejorativ abmeiern möchte) keine klare Haltung eines so oder so nur simuliert erscheinenden VERSTEHENS absaugen. Also versucht man, nach-zu-denken, eine der schwersten Übungen, weil man sich zuvor durch fast nicht zu leistende Empathie in den Vorredner einfühlen müsste.
Weil aber bei diesen Argumentationsgang ziemlich schnell (und zutreffend) das Wort MORAL gefallen ist, habe ich sofort gezuckt und blitzschnell (also sehr risikoreich) gedacht: wer moralisch argumentiert gilt bei mir – prima facie – schon mal als unmoralisch, auch wenn man mich dann als ideologisch virenverseucht anpöbeln würde.
Es geht eben doch wohl nur so, wie es in der „Declaration of Liquid Culture“ heisst: „Jeder tritt für sich selbst ein“ und weiter: „Wir arbeiten gern und mit anderen zusammen“ und auch noch: „Die Welt ist der Fall und nicht, worauf wir uns verständigen, dass sie zu sein hat“.
Wenn das alle tun und sich halbwegs hiernach richten, wird es zwar weiter Streit geben, aber der lässt sich dann müheloser fruchtbar machen.
Ich wage nicht unbezweifelt anzunehmen, dass das irgendwie weiterhelfen könnte, jedenfalls wohl nicht in spezifischen kantenscharf sich präsentierenden Fällen. Ich weiss auch, dass es schnell heissen kann und wohl auch wird: gut gemeint sei eben auch daneben. Aber in meinem Bauch heisst es ganz deutlich: ich habe diese Vier verstanden !
„Gesellschaftliche Moral wäre einzig noch, einmal der schlechten Unendlichkeit, dem verruchten Tausch der Vergeltung sein Ende zu bereiten. Dem Einzelnen indessen bleibt an Moralischem nicht mehr übrig, als wofür die Kantische Moraltheorie, welche den Tieren Neigung, keine Achtung konzediert, nur Verachtung hat: versuchen, so zu leben, daβ man glauben darf, ein gutes Tier gewesen zu sein.“ (Adorno, Negative Dialektik, I: Freiheit: Zur Metakritik der praktischen Vernunft)
(letzter Kommentar http://bit.ly/TJCML4 )
Also ich sehe das anders. Das Problem ist doch nicht das Dickicht moralischer Überzeugungen an sich, dass sozusagen jede/r etwas moralisches behaupten kann, sogar der oder die Kriminelle. (‚Krimimelle‘: Na und? Gerade Kriminelle haben ein Recht auf Moral.) Das Problem ist doch eher, was ‚Moral‘ für uns ist, wenn sie immer weiter abstrahiert und formalisiert werden musste, um noch gemeinsame Überzeugung zu sein. So wie wenn einige Philosoph_innen behaupten, Moral sei schon, wenn überhaupt irgend eine Überzeugung als moralisch richtig begründet werde. Diese Formalisierung kann aber auch deswegen schlecht zurück genommen werden, weil durch sie nicht (mehr?) irgendwer irgendwen zu Überzeugungen (oder zumindest deren praktische Beachtung) verpflichten kann, wenn sie ihm oder ihr (der verpflichteten Person) zuwider läuft. Aber wohin denn nun mit den moralischen Überzeugungen? Es fehlt oft die Zeit und der Raum, sie kund zu tun, sie gegenseitig zu prüfen und aneinander reiben zu lassen. Oft kennen die Menschen ihre eigenen Überzeugungen nur schlecht und oberflächlich. Und ebenso oft werden moralische Überzeugungen zu Interessen rationalisiert und in (politische) Kompromisse gezwungen. Das kann produktiv sein, kann aber auch moralische Diskussion abwürgen. Schließlich haben anscheinend zunehmend die Religionen das Monopol auf moralische Fragen, weil sie sich den sogenannten Einzelfragen (der Ethik) zuwenden und Stellung beziehen oder Urteile fällen können (z.B. zu Abtreibung, Pränataldiagnistik, Krankheiten, Kopftücher von Frauen etc. pp.) Es mangelt meiner Ansicht nach an Zeit, Raum und Technik für moralische Diskussion und an Verantwortung für die je eigenen moralischen Überzeugungen.