Das moderne Subjekt: Mensch mit eingebauter Polizeifunktion
von Kusanowsky
Der Zivilisationsmythos der moderen Gesellschaft entwickelte sich um die Beantwortung einer Vertrauensfrage. Diese schlug sich nicht nur in der berühmten Frage von Immanuel Kant nieder: „Was ist der Mensch?“ Vielmehr und viel bedeutender war die Frage nach seinem Vermögen, seiner Vernunft. Dieses Vertrauensproblem war deshalb notwendig geworden, weil der eschatologische Wahrheitsanspruch der antiken-christlichen Tradition nicht mehr durchsetzungsfähig war. Denn mit dem Anspruch auf eine letzte und absolute Wahrheit war immer ein prinzipielles Misstrauen gegen das menschliche Vermögen verbunden; der sündige Leib, das sterbliche Erdendasein, das täuschungsfähige Bewusstsein konnten nie und nimmer als Ausgangspunkt für die Sicherstellung einer Wahrheitserkenntnis sein. Wenn aber Wahrheit als die Grundlage des Glaubens und damit die Basis für eine zivilisatorische Disziplin verstanden wurde, war alles Menschenvermögen prekär.
Man kann die Entwicklungen seit dem 17. Jahrhundert verstehen als einen zivilisatorischen Vertrauensgewinnungsprozess in das Vermeidungsproblem der apollinischen Kultur, indem eine „faustische Seele“ ( frei nach Oswald Spengler) lernte, sich durch Selbstsanktionierung zu disziplinieren und diese Disziplin normativ ausdifferenzierte, was schon bei Jean-Jacques Rousseau in die Einsicht mündete, dass die Selbstberrschung der einzige und legitime Weg in die soziale Freiheit sei. Das moderne Subjekt wäre frei, sobald es gleichsam eine Polizeifunktion in sein leib-seelisches Programm integiert und sie darin auf Dauer stellt. Aber erst seit Nietzsche und Foucault kann darüber nachgedacht werden, wie die Polizeifunktion in das Subjekt hinein kommt, womit zugleich ein neues Vertrauensproblem aufgeworfen wurde, das spätestens seit dem Faschismus bis heute unerledigt ist.
Nachdem sich nun in den Wohlstandsgebieten eine höchst differenzierte Komplexität aus gegenseitig zugestandenen und bestreitbaren Sanktionsrechten entwickelt hat, könnte eine neues Vertrauenproblem aus der Frage resultieren, wie denn noch die zivilisatorische Zuverlässigkeit garantiert werden könnte, wenn das Subjekt dies nicht mehr kann. Das Internet macht nun auf dieses moderne Vermeidungsproblem aufmerksam und könnte damit zugleich Elemente für eine Lösung liefern. Und die Testfrage lautet, ob man auch den Internettrollen – die keine Subjekte mehr sind – noch eine eingebaute Polizeifunktion zurechnen kann.
Was wäre aber nun, dass man auf ein solches Misstrauensprogramm genauso gut verzichten würde?
Bei Maren Lehmann in: „Das Gedächtnis der Organisation“ heißt es: Soziale Ordnung impliziere sich selbst, weil sie auf der Unterscheidung von Selbstorganisation und Organisation beruhe. Es handele sich also um eine Unterscheidung, die auf beiden Seiten ihrer selbst wiederholt werden kann, die alle ihre Beobachter in sich selbst einschließt und in der deshalb Unruhestifter und Ordnungshüter nicht zuverlässig auseinander gehalten werden können.
Aber das bereinigt die soziale Ordnung nicht um die Unterscheidung, weil jede Seite diese Unterscheidung für sich in Anspruch nehmen kann. Bekannterweise ist auch der Kriminelle auf Sicherheit angewiesen und in den allermeisten Fällen erweist sich sein Komplize als das größere Sicherheitsrisiko, wohingegen verdeckte polizeiliche Ermittler als Komplizen sehr viel zuverlässiger sind, weil sie nämlich, wenn sie sich an kriminellen Operationen beteiligen, ein sehr viel größeres Risiko der Aufdeckung tragen als Kriminelle. So entsteht zwischen Verbrecher und Polizist eine symbiotische Verbindung, welche sich durch ein geteiltes Sicherheitsrisiko auszeichnet, das durch diese Verbindung erst entsteht, aber andererseits von jeder Seite aus nach Maßgabe interner Selbstbeobachtungsprozesse auch wieder verraten, also gekündigt werden kann.
Interessant wird diese Überlegung, wenn man auf die Einspielung einer Trolldisziplin achtet. Denn definitorisch ist eigentlich jeder Internetnutzer ein Troll, besser: jede zurück gelassene und wiederansprechbare Adresse kann als Trolladresse beobachtet werden, wohingegen diejenigen, die keine Adresse hinterlassen, auch keine IP, auch keine nachvollziehbare Identität in einem Internetcafé, eigentlich für die Trollkommunikation gar nicht relevant sind, weshalb gerade solche nicht identifizierbaren Adressen für die Trollkommunikation die schärfsten Eskalationsoperationen vornehmen können. Das zeigt wie sehr eine Komplizenschaft zwischen Subjekten, also eine kritik- und sanktionsfähige Menschenumwelt, mit der internen Kommunikationsumwelt der Trollkommunikation vorhaden ist. Und es zeigt, wie hilflos eine an Menschen adressierbare Polizeigewalt reagieren muss, wenn sie es mit den Trollen von Anonymous zu tun bekommt. Der Ausweg für eine Polzeigewalt scheint mir darum nur darin zu liegen, sich unter die Trolle zu mischen, was auch heißt, keine Adresse mehr zu hinterlassen. Und für das Nachdenken über die Konsequenzen muss man sich notgedrugen 20 Jahre Zeit lassen, wie sich das hier z.B. zeigt:
http://digiom.wordpress.com/2011/11/24/von-4chan-zu-anonymous-und-anonaustria/
Das sieht sehr danach aus, dass die Differenz von Sicherheit und Unsicherheit eigentliche kein Einheit mehr findet. Und schade eigentlich, dass der Begriff „Anarchie“ semantisch kaum noch relevant erscheint, obwohl ich zugeben muss, dass ich das Gegenteil für bedenklich halten würde.
Die Geschichte mit den Trollen ist schon ein alter Hut, stammt (mit einer anderen Wortwahl) aus dem postmodernen Diskurs. Da wurde ein dezentriertes, flexibles, „proteisches Selbst“ beschrieben, das sowohl ein multiples und prozessuales, aber auch integriertes Selbst ist, also ein Selbst, das seine Identität als Gesamtheit von Rollen erfährt, die sich verändern, mischen und kombinieren lassen, und trotzdem noch zu voller Verantwortung und ethischer Betrachtung fähig ist. Das moderne Subjekt dagegen pflegte alles zu unterdrücken, was sich nicht einfügt, was illegitim oder unstimmig war. Das proteische Selbst aber besitzt alle möglichen Facetten, indem es aus unterschiedlichen Aspekten schöpft, die nicht voneinander getrennt sind wie der gestig verwirrten multiplen Persönlichkeit, sondern die fließend miteinander im Ausstausch stehen und die Dynamik der Veränderung, Entwicklung und dauernden Fluktuation vorantreiben.
Nachlesen kann man das bei Marina Núnez, Genetische (und ideologische) Unordnung. In: Leitner, Claudia (Hg.), Über die Grenzen des natürlichen Lebens, Berlin 2009, S. 264.
Diese Überlegung hatte ich vor ziemlich genau einem Jahr schon mal aufgegriffen und ist bislang ein noch einigermaßen unverknüpfter Faden:
In den Abhandlungen zur Sexualtheorie von Sigmund Freud findet sich die Bemerkung, das Kind sei ein polymorph-perverses Wesen. Entgegen dem üblichen Sprachgebrauch meint dies lediglich, dass beim Menschen keine eindeutige sexuelle Determinierung zu finden sei, vielmehr unterliege auch die Sexualität einer Ontogenese, die im Laufe einer sozio-psychischen Evolution unterschiedliche Gegenstände der Lustempfindung ausprobiere. “Polymorph-pervers” ist damit nur ein Bezeichnung für die Unbestimmtheit einer Entwicklung, die sich insbesondere durch die Fähigkeit zur Vielgestaltigkeit und zur Wandelbarkeit auszeichnet.
https://differentia.wordpress.com/2011/04/13/das-proteische-selbst-als-eine-polymorph-perverse-masse/
Assoziologisch gesehen scheint mir gerade dieses Thema von besonderer Wichtigkeit zu sein, aber wie das so ist: allein kommt man mit einer Assoziologie nicht sehr weit. Danke für den Hinweis.
Polizeifunktion?
+ Kategorischer Imperativ bei Kant (das moralische Gesetz in mir)
+ Über-Ich bei Sigmund Freud
+ Der große Andere bei Lacan
[…] Bedingungen als Garantiefaktor genommen werden, um zu leisten, was der moderne Mensch leisten muss: Selbstbeherrschung, welche zu gewinnen war unter stetig wachsenden Schwierigkeiten, die sich auch in der Konsistenz […]
„Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“
Diese beiden Sätze aus einer sehr bekannten Schrift von Martin Luther sind gegensätzlich und widersprüchlich. Für einen kurzen Kommentar muss nicht die ganze Theologiegeschichte aufgerollt werden. Es reicht völlig, wenn man mit der Überlegung beginnt, dass man in diesen zwei widersprüchlichen Sätzen den nucleus eines transzendentalphilosophischen Konzeptes erkennen kann, nämlich: die, für Luther noch nicht explizierbare, aber für spätere Gelehrtengenerationen besser vollziehbare, Behandlung eines Widerspruchs, der für heutige Menschen eine alltägliche Banalität ist.
Luther hatte und kannte kein Verständis für soziale Realität. Für moderne Menschen ist die Beschäftigung, die Behandlung, das Zurechtkommen mit sozialer Realität die einfachste Sache der Welt. Die Einfachheit ergibt sich aufgrund der souveränen Behandlung zweier – bei Luther nur andeutungsweise als Wahrheitssätze formulierten – widersrüchlichen Anweisungen. Diese lauten:
1. „Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“ Das heißt: unterwirf dich den Versuchen anderer, dich zu beeindrucken. Lass dir die Welt zeigen, lass dich entführen in fremde Welten, lass dir Dinge zeigen, die du dir selber niemals ausdenken könntest. Lass dich verführen, lass dich beeindrucken und: informiere dich; zeig dich aufgeschlossen, zeig dich tolerant, zeig dich weltoffen! Sei bereit zu lernen; sei bereit, dich überraschen zu lassen; verzichte auf Vorurteile; befreie dich, indem du die Freiheit der andern, sichmitzuteilen, akzeptierst.
Das ist ist die erste Anweisung, welche Luther nur in die Semantik einer Stratifzierung ausdrücken konnte: „Sei jedermann untertan.“
Die zweite Anweisung lautet aber: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan“. Eine Transzendentalphilosphie kleidet diese Anweisung in die Worte: Sei skeptisch, habe Zweifel, glaube nicht einfach, was man dir sagt; widersetze ich; habe den Mut zu widersprechen; leiste Widerstand, auch, wenn du Strafe zu fürchten hast; akzeptiere keine Tradition, keine Autorität, keinen Gott; keine Wahrheit, die du nicht selbst ermittelt hast; leiste Widerstand, auch um die Gefahr deines Lebens. Und wenn alle Höllenmächte sich gegen dich verschwören wollten – bestehe auf deine Fähigkeit, auf dein Recht, auf deine Freiheit dem Widersinn mit Widersinn zu begegnen.
Mit dieser widersprüchlichen Anweisung ist in groben Strichen das Konzept transzendentaler Subjektivität (Subjekt = das Unterliegende, der Unteran) skizziert. Wir leisten so etwas täglich, schon wenn wir fernsehen oder radiohören. Eine Geschichte dieses Konzepts wäre der soziale Selbstentfaltungsprozess dieses Wissens- und Handlungskonzeptes.
Die Luthersche Theologie war eine Proto-Transzendentalphilosphie.