Differentia

Monat: März, 2012

Der Weg allen Fleisches

Der Weg ist noch nicht sehr deutlich zu erkennen, aber dennoch kann man schon damit beginnen, protosemantische Beobachtungsverschiebungen zu registrieren, die darauf hindeuten, dass sich die kritische Disziplin abzubauen beginnt.  Der Weg allen Fleisches (1. Moses 6,12,13; Hiob 16,22) ist auch der sozialen Form der transzendentalen Subjektivität nicht versperrt.

Die Frage, wie dieser Abbau vonstatten geht, hängt zunächst an dem „Was“: was müsste, was könnte durch Internetkommunikation abgebaut werden?

Vermutlich ist ein wichtiger Punkt die Gehorsamsverweigerung, die Sabotage zivilisatorischer Zuverlässigkeit, das Unterlaufen der Erwartungssicherheit bei gleichzeitigem Gewaltverzicht. Dies aber nicht etwa wie im Diskurs um Antiautorität, welcher nur das Autoritätsparadigma rationalistisch perviert hatte, indem durch Gewalt, durch Androhung von Gewalt oder auch durch Erziehungsmethoden, welche ja niemals frei sein können von Gewalt, die Beobachtung einer Paradoxie umgangen wurde. Denn Antiautorität ist eine Widerstandshaltung, die eine Widerstandsgewalt gegen eine andere, gegen die autoritäre Gewalt legitimiert, indem sie diese delegitimiert ohne sie gleichwohl aus der Welt zu schaffen und welche dadurch den antiautoritären Beobachter ins Nirwana verlegt, ihn also für sich selbst unsichtbar macht. Und damit war der Glaube an Antiautorität gleichsam nur der latente Umschlagpunkt einer auf die Spitze getriebenen Rationalitätsbeharrung. Die antiautoritäre Bewegung übte einen perversen Gehorsam. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Die Differenzierungsstrategien der Habitusbeobachtung konnten sich nur solange auf Menschenvermögen beziehen, wie Menschenvermögen – am Habitus ablesbar – als Kausalnexus der Entfaltung von Gewaltkommunikation verstanden wurde, was übrigens nachvollziehbar wird, wenn man in Rechnung stellt, dass psychische Systeme aufgrund ihrer Körpergebundenheit sehr leicht traumatisierbar sind und darum anfällig für Zurechungszumutungen, bzw. Zurechnungsabweisungen.

Und wo schließlich die Unhaltbarkeit der Antiautorität als pervertierte Autorität erkennbar wurde, wurde gleichsam als immer noch möglicher und schließlich auch als letzter aussichtsloser Ausweg der liebevolle Appell an die zivilisatorische Zuverlässigkeit durch Psychotherapie und ihre küchenpsychologischen Derivate versucht: „Seien wird doch einfach nett zu einander! Ich bin okay, du bist okay …“
So etwas findet man in kommunikationspsycholgischen Trainingsprogrammen aller Art: ob für Sektenmitglieder, Arbeitslose, Manager oder für Papa und Mama. Lass gut sein, lass uns nett sein.

Die Internetkommunikation liefert nun gleichsam den lang gesuchten Ausweg, indem weder durch Gewalt oder aufgrund jeder anderen mangelnden Durchgriffsmöglichkeit, verbunden mit dem Zerfall von Sanktionsrechten, noch durch Appelle Exkludierungen möglich werden: „Wir werden uns nie mehr los“ (Siggi Becker) – jetzt erst geht es, nämlich dann, wenn die Begegnung nicht mehr notwendig ist.

Daraus könnte man die Überlegung ableiten, dass man einen Umbau von Differenzierungsstrategien daran ablesen könnte, wie das Problem der Exklusionsvermeidung, das durch moderne Organisationssysteme hergestellt wurde, in eine Inklusionsvermeidung umgeändert wird, wenn nämlich Kommunikationsofferten nicht mehr auf eine strukturelle Integrität überprüft werden, womit eben das gemeint ist, was man am Trollverhalten feststellen kann: diese Trollerei stört nicht mehr nur die Stimmung, weil keine Stimmungsindikatoren vorhanden sind; es fehlen die Resonanzeffekte öffentlicher Wirkung. Diese Trollerei stört die ungestörten Störungsabläufe. Und mit dieser Durchkreuzung und Sabotage der strukutrellen Integrität fallen nun Formen auf, welche die Strukturen der transzendentalen Subjektivät semantisch aufzulösen beginnen.

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Die Freiheit der Person, des Gehirns und die Freiheit „Denkfehler“ aufzudecken

Am 6. März hat Ansgar Beckermann einen Vortrag zum Thema “Gehirn, Ich, Freiheit” gehalten. Beckermann geht kritisch auf die Argumente von Neurowissenschaftlern wie Gerhard Roth oder Wolf Singer ein, die behaupten, die Libet-Experimente würden zeigen, dass es keine Willensfreiheit gibt. Offenbar, so Beckermann, vertreten Roth und Singer nach wie vor den Cartesischen Dualismus von Körper und Seele. Unter dieser Voraussetzung kann es keine Bestätigung für einen freien Willen geben. Stattdessen müssten sie sich von der künstlichen Trennung von Gehirn und Person verabschieden. Das Video ist ein Ausschnitt eines anderen Vortrags von Beckermann an der Uni Heidelberg, in dem er das Argument mit den Libet-Experimenten erläutert (Fundort).

Es wurde also wieder einmal ein Denkfehler aufgedeckt.

Alles, was gegenwärtig zum Thema Willensfreiheit ja oder nein geschrieben wird, bedarf keiner intensiven archivalischen Betreuung, weil im Grunde alles bald ohnehin wieder auf den Tisch kommt. Die Argumentationsschleifen wiederholen sich alle paar Monate. Interessant ist dann nicht die Frage, was schon gesagt oder noch nicht gesagt wurde, sondern wichtig wird bald die Frage sein: wer hat noch nicht, wer will noch mal?
Die letzte mir bekannte Runde in diesen Diskussionsspiel wurde vor einiger Zeit in der Frankfurter Rundschau gedreht. Dabei handelt es sich um eine Replik des Strafrechtlers Michael Walters auf die Überlegungen von Gerhard Roth und Grischa Merkel, die aufgrund von neurowissenschaftlichen Forschungen über die Nichtnachweisbarkeit eines freien Willens die Ansicht vertreten, dass in Strafrechtssachen neue Überlegungen über den Umgang mit Straftätern angestellt werden müssten. Liest man diesen Artikel genau, stellt man fest, dass sich die Frage nach Beweis und Gegenbeweis hoffentlich bald auflösen wird und ein Gespräch über die Herkunft des Problems beginnen könnte. Aber soweit ist es noch nicht, weil der Autor, wenngleich schon gegen Ende des Artikels Abweichung von Argumentationsmustern bemerkbar macht, hartnäckig an einer äußerst liebgewonnenen Unterscheidungsroutine festhält: „Dennoch“, so schreibt der Jurist, „geht die moderne Psychologie von einer innerpersönlichen Instanz, einem Ich, aus, das den Umgang mit entsprechenden Vorerfahrungen regelt. Diese Prozesse können gestört sein, sie sind indessen in gewöhnlichen Fällen keineswegs ausgeschlossen. Wir können nicht zu passiven Opfern individualgeschichtlicher Vorfälle reduziert werden.“ Hat man also gerade erst bewiesen, dass es ein „Ich“ als zentrale Instanz irgendwo im Inneren von Menschen gar nicht geben kann, fängt mit der gegenteiligen Behauptung alles wieder von vorne an.
Man merkt sehr deutlich wie unzugänglich die Systeme für einander sind; sie verbleiben bei aller Irrtierbarkeit in den von ihnen jeweils präferierten Unterscheidungen, auch dann, wenn ihre Gültigkeit durch kein überzeugendes Verfahren verifiziert werden kann. In dem Fall bezieht man sich einfach auf ein: „Und dennoch ist es so.“ Die Systeme koppeln sich aneinander durch ein synchrones „Ja-nein-ja-nein“-Wechselspiel, das entlang von Differenzierungsroutinen entfaltet wird. Keines der System kann auf eine übergeordnete autoritative Ebene verweisen, durch die der Streitfall entschieden werden könnte. Entsprechend bleibt nichts anderes übrig als den alten Sisyphos um Rat zu bitten, um den Versuch zu wagen, sich selbst als oberste Entscheidungsinstanz letztendlich einzusetzen. Die Vergeblichkeit ist vorprogrammiert.

Interessant ist nun die Beobachtung von sogenannten „Denkfehlern“. Auch im hier zitierten Artikel ist von einem „Denkfehler“ die Rede, und – wie könnte es anders sein – findet man den Denkfehler immer als Vorwurf an andere. In dem Blogartikel von Postdramatiker zum selben Thema findet sich ebenfalls eine Irritation über einen Denkfehler, aber diese richtet sich dort auf die eigene Argumentation, die eine hübsche hypothetische Schleife vollzieht:

Wäre der positive naturwissenschaftlich-neurophysiologische Nachweis, dass es den freien Willen gibt, nicht zugleich der Beweis, dass es ihn nicht gibt? Denn unterlägen nicht die elektrophysiologischen Ereignisse, die als “freier Wille” zu interpretieren wären, den determinierten Gesetzen der “Natur”? Und würden also der Freiheit durch die Notwendigkeit ihrer eigenen Geltung die Existenz absprechen müssen? Sodaß das Ergebnis der naturwissenschaftlichen Betrachtungen eigentlich ist: Es ist möglich, dass es ihn gibt. Wenn es ihn gibt ist er nach gegenwärtigem Stand nicht messbar (weil es ihn ja sonst nicht geben könnte). Scheint mir schlüssig. Wo ist der Denkfehler?

Schade, dass so ein Gehirn nicht reden kann. Es wäre interessant zu wissen, was es von der ganzen Sache hält. Bild: Wikipedia

Schade, dass so ein Gehirn nicht reden kann. Es wäre interessant zu wissen, was es von der ganzen Sache hält. Bild: Wikipedia

Nicht wahr? Wo ist der Denkfehler? Denken wir uns, das Gehirn wäre der „Denker“? Könnte es fehlerhaft denken? Denken wir uns, das Gehirn wäre der Entscheider, könnte es fehlerhaft entscheiden? Wenn man annimmt, dass der Glaube an die Willensfreiheit nur eine Illusion ist, ein determinierter Wille aber die Wahrheit, dann hätte ein Gehirn beim Nachdenken über sich selbst immerhin die Wahl zwischen Wahrheit und Illusion.

An Ende des hier zitierten Artikels aus der Frankfurter Rundschau blitzt in der Argumentation von Walters ein erster Funke an Originalität auf. Er kommentiert die die Überlegungen von Roth und Merkel mit den Worten:

Denn die Freiheit verneinenden Ausführungen sind ja ersichtlich in der Absicht verfasst, die Leser in der Sache zu überzeugen und zu Folgeentscheidungen zu veranlassen, die aus besserer Einsicht und in freier Abwägung der Gesichtspunkte und Argumente getroffen werden. Auch wenn ich diesem Wunsch nicht nachkommen kann, mag ich mich des Schmunzelns darüber nicht zu erwehren, dass Roth/Merkel wenigstens in dieser Beziehung einen „Alternativismus“ für möglich halten.

Abgesehen von einem hübschen performativen Selbstwiderspruch, der sich auf die Unmöglichkeit einer nicht eigenwilligen Entscheidung bezieht, wird immerhin angemerkt, dass auch Neurowissenschaftler Alternativen zu formulieren imstande sind. Wie ihre Gehirne das auch immer hinbekommen sollten, weiß man nicht. Immerhin kann man bemerken, dass der Weg in die Problemfindung langsam  möglich wird. Nicht die Frage, wer Recht hat, wäre entsprechend zu diskutieren, sondern wie die Entscheidungssituation, hier die Frage nach Wahrheit oder Illusion, überhaupt zustande kommen könnte. Wollte man die Beantwortung dieser Frage an ihre Gehirne adressieren, hätten die Diskutanten, ob pro oder contra das selbe Problem: Gehirne antworten nicht.

Siehe dazu auch folgenden Artikel
Handlung und Wahlfreiheit – eine Kurzanalyse

 

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