Neugier oder Belohnung? Das Risiko faustischer Gelehrsamkeit
In der Moderne ist die Neugierde die Garantin aller zukünftigen Wissenschaft. Was aber bleibt in der gegenwärtigen Wissensgesellschaft tatsächlich von ihr erhalten? Betrachtet man die Programmatik aktueller akademischer Karriereplanungen, so lässt sich sagen: Neben der Förderung von Strukturen und Projekten wird bei der Qualifizierung junger Wissenschaftler zu wenig auf die Pflege und Entwicklung der Neugierde als Erkenntnisprinzip geachtet. (Herkunft: Motive der Forschung: Ist der Kandidat denn auch gut vernetzt? Von Peter-André Alt, F.A.Z. 10.01.2012)
Der zitierte F.A.Z- Artikel enthält eine kleine, aber sehr übersichtliche Betrachtung über den Niedergang faustischer Gelehrsamkeit, allerdings fehlt darin noch die letzte Konsequenz, dass nämlich Entwicklungen nicht revidierbar sind. Einspielen konnte sich das Ideal einer vom Erkenntnistrieb geprägten Wissenschaft durch die soziale Akzeptanz von Verhaltensregeln, welche sich wesentlich auf das Vermeiden von Manipulationen richtete und sich um Präzisierung von Messungen und der damit einher gehenden Verstärkung von beobachtungsintensivierender Konzentration bemühte, weil aussichtsreiche Gründe dafür vorlagen, auf diesem Wege aller Täuschung und allem Blendwerk begegnen zu können. Daher der Mut Fausts, sich auf den Teufel einzulassen, weil nur die Auseinandersetzung mit dem härtesten Widersacher die Erfolgsprobe für Intellektualität und moralische Integrität darstellte; daher die Begeisterung seit dem 18. Jahrhundert für den Fauststoff, welche sich nicht mehr für den Abschreckungscharakter der Faust-Erzählung interessierte, sondern für den Mutwillen, der sich in der Erzählung aussprach, nämlich die Fähigkeiten transzendentaler Subjektivität, sich der letzten Vorbehalte aristotelischen Misstrauens gegen die „ratio“ zu entledigen und das Wagnis um die Haltbarkeit des Unterschieds von Wahnsinn und Vernunft einzugehen. Die evolutionären Ergebnisse sind bekannt: Sowohl Schulen für alle als auch die globale Nutzung der Atomkraft sind ein Ergebnis dieses Wettstreits zwischen Vernunft und Wahnsinn; und niemand kann eindeutig sagen, welche Macht stärker war, aber der alte theologische Einwand ist inzwischen wieder zulässig, der ehedem der „ratio“ mit Vorbehalten entgegentrat. Wenn man die Fähigkeiten menschlicher Vernunft höher schätzt als alle Gottesfurcht, so kann dies auch böse enden. Wer will das bezweifeln? Auch dann, wenn man von Gottesfurcht nichts mehr wissen will.
Wohl niemand, aber das Idealbild der faustischen Gelehrsamkeit soll immer noch als Leitbild dienen? Man bedenke, dass der Genie-Kult des 18. Jahrhunderts das Selbstbeeindruckungsprogramm einer Gelehrsamkeit war, die – aufgrund spezifischer sozialer Bedingungen im Umstellungsprozess auf eine funktionale Differenzierung – mit dem „menschlichen Geist“ ein allgemeine Zurechnungsinstanz für ihre Forschungsergebnisse gefunden hatte, welche aber dieses Allgemeingut nur für eine Elite reservierte, nämlich für herausragende Männer eines herausragenden Geistes. Eine faustisches Genalität „für alle“ war undenkbar, und ist auch im praktischen Vollzug einer Organisation von Wissenschaft gar nicht möglich, schon aufgrund eines Mangels an Ressourcen, die ein solch humanintensives Investment in Erziehung und Bildung gar nicht zulassen.
Stattdessen ist mit dem Ausbau der Massenuniversität etwas ganz anderes passiert. Aus den Universitäten wurde ein industrialisierter Dienstleistungsbetrieb, welcher allerdings seine Erwartungshoffungen auf etwas ganz anderes richtet, nämlich auf faustisch-geniales Humanvermögen, wohingegen die alltägliche Erfahrung in der Wissenschaftsorganisation davon spricht, dass etwas sehr viel handfesteres als Motivation zur Fortsetzung der Forschung tauglich ist, nämlich: Belohnung.
Der prototypische Gelehrte des 17., vor allem des 18. Jahrhunderts hätte noch mit aufklärerischer Gewisseheit darauf bestanden, das Gute auch dann zu tun, wenn man dafür nicht belohnt wird; eine Einsicht, die ab der Institutionalisierung und Überführung des Geniekonzepts in die Verrechtlichung des öffentlichen Dienstes unhaltbar geworden ist. Wer heute auf Belohnung verzichten könnte (oder muss), könnte genauso gut auch auf akademische Weihen verzichten, wenn man darauf sieht, dass diese Weihe ein höchst fragwürdiges, ein vollständig intransparentes bürokratisches Verfahren geworden ist. Die Plagiats-Affären neueren Datums beweisen dies, da gewiss nicht annehmbar ist, dass es sich dabei um wenige Ausnahmefälle handelt. Denn wie sollten die in der Intransparenz auffallen können? Eher ist es andersherum: die Intransparenz macht es möglich, dass die meisten Fälle gar nicht bemerkt werden, weil etwa der Versuch, dem eigenen „Doktorvater“ Plagiate nachzuweisen, streng und unerbittlich aussortiert werden würde. Und da aufgrund dieser Intransparenz alle Belohnung sich auf minimale Reputationsgewinne beschränkt, bleibt nichts anderes übrig als durch „Netzwerk-Arbeit“ die Hoffnung auf Belohnung und auf Reputation nicht aufzugeben.
Die lebenslange Alimentierung von Professoren fand darin ihren Grund: Forschung muss scheitern können, damit man weiter kommt, weshalb Forschung nicht nur für den Erfolgsfall belohnt werden kann. Sie muss freigestellt sein von Belohnung, weil die Akzeptanz von Forschungsergebnissen höchst unwahrscheinlich ist. Wer will den Erfolg garantieren, wenn der Forscher kein anderes Gewaltmittel hat als Argumente? Und solange glaubhaft war, dass nur eine Elite dazu in der Lage wäre, diesen Zumutungen Stand zu halten, konnte sich die Exklusivität des Wissenschaftsprogramms einigermaßen halten. Aber nachdem die Wissenschaftsorganisation durch ihre Komplexitätssteigerung jede Gewalt des Arguments eingebüßt hat, denn welche Argumente wären noch zwingend, ist ihr nur der Verlass auf eine Bürokratie geblieben, welche gänzlich stupide Stempel für alles mögliche verteilt, das den Vorschriften noch gerade so entspricht.
So war es gemäß des faustischen Ideals gar nicht die Neugier, die als Motivationsgrund genommen wurde, sondern das Risiko, damit auch das Risiko, dem Teufel nicht gewachsen zu sein. Welches Risiko ist durch die Trivialisierung des Faustkonzepts zurück geblieben? Wohl nur noch das Risiko, nicht belohnt zu werden. Und so gering dieses Risiko schon lange nicht mehr.