Von unbekannt zu unbekannt
von Kusanowsky
Thorstena kommentierte zum vorhergehenden Artikel: „Internetkommunikation – Strukturen ohne Chefetage“
Habe neulich Sennetts Respekt in der Hand gehabt, in dem er sich u.a. mit den Schwierigkeiten auseinandersetzt, „respektvoll von ungleich zu ungleich“, zu kommunizieren – also zB über soz. Statusgrenzen hinweg. So etwas verlange „Ausdrucksarbeit“, schreibt er.
„respektvoll von ungleich zu ungleich„- damit haben wir es eben nicht zu tun, jedenfalls nicht mehr, sofern die Vermeidungsstrukturen einer funktional differenzierten Gesellschaft eine Strukturalternative zulassen. Insofern ist nicht zuerst die Frage relevant, wie Respekt entsteht. Respekt ist nicht das Problem, denn Formen des Respekts können nur zustande kommen, wenn die Kommunikation Strukturen zulässt, die Respekt beobachtbar machen. Aber dazu müsste die Kommuikation schon funktionieren. Deshalb steht nicht der Respekt am Anfang, weshalb wir uns keine Gedanken darüber machen müssen, was Respekt für mich oder für dich ist. Wenn wir uns kennen lernen, dann lernen wir auch Respekt kennen. (Oder auch nicht)
Auch haben wir es nicht mit „von ungleich zu ungleich“ zu tun, sondern mit „von unbekannt zu unbekannt“, wobei sich die Anonymität nicht auf Personen beschränkt, sondern auf die „Allgemeinen Geschäftsbedingungen“. Die sind unbekannt. Übrigens: Personen sind in der Internetkommunikation ohnehin nicht anwesend. Spätestens wenn sich heraustellt, dass Turing-Maschinen ein einigermaßen brauchbares Antwortverhalten zeigen, wird deutlich werden, was der Zweck dieser Übung ist. Nicht die Frage, wer du wirklich bist, wäre entscheidend, sondern: wie können wir Inklusion vermeiden, wenn Inklusion immer wahrscheinlicher wird? Die Antwort, man könnte einfach den Computer ausschalten, ist naiv, weil es ja auch Organisationen weiterhin Orte bereit stellen, wo man sich wiedertrifft und wo man sich über Ergebnisse der Internetkommunikation unterhält. Wer dann nicht informiert ist, scheidet aus.
Deshalb wäre der Zweck der Übung, die Allgemeinen Geschäftsbedingungen zu testen, und nicht diese zu postulieren, zu fordern oder durchzusetzen. Denn dazu bräuchte man eine Chefetage. Und wenn wir mit dem Testen anfangen, dann können auch Turing-Maschinen mitmischen. Denn es kommt dann nicht mehr darauf an, ob Antworten intelligent sind, weil man Intelligenz auch Turing-Maschinen zurechnen könnte. Es käme darauf an, herauszufinden, wer lebt. Denn der lebende Körper ist korrumpierbar, erpressbar, verführbar, nur das lebende System braucht nicht zu rechnen; es stellt die Bedingungen für eine kreative und disziplinierte Intelligenz bereit: Gefühle. Der Turing-Test bestünde also nicht darin herausfinden, ob die Maschine intelligent ist, sondern ob sie lebt. Der Weg wäre zu versuchen, sie zu verführen. Und stell dir vor, du verlierst den Test, und es ist keine Turing-Maschine. Denn auch du wirst ja auf Verführbarkeit getestet, wenn du für einen Unbekannten unbekannt bist, also eine Turing-Maschine sein könntest. Da finden wir die Quelle für die soziale Ungleichheit. Wer sich verklemmt zeigt, wer das rationale Vermeidungshandeln nicht vermeidet, wer meint, die Rationalitätsunterstellung sei die geeignete Rüstung, um sich der Zumutungen zu erwehren, wird sich wundern, worauf es tatsächlich ankommt. (Und wenn ich mich darin irre, dann irre ich mich eben!)
Nur eine lebende Intelligenz kennt Gefühle, eine Turing-Maschine nicht. Das wäre das zu Erlernende, wie ich meine, wenn die Kommunikation zwischen „unbekannt zu unbekannt“ funktioniert. Die Spaßvögel, die auf der Suche sind nach künstlicher Intelligenz werden sich wundern. Für sie ist der Intelligenztest deshalb so attraktiv, weil er rationalisierbar ist. Aber alle kreative und disziplinierte Intelligenz erschöpft sich nicht in Rationalisierbarkeit. Wir wissen das, aber wir können über Gefühle nur reden, wenn wir dabei die Mindeststandards rationaler Sinngrenzen einhalten. Und daran scheitert eben unser Wissen um Gefühle: wir müssen auch das noch vernünftig behandeln, was keine Vernunft kennt.
Ich vermute, dass das Internet dazu beitragen wird, dieses Vermeidungsproblem zu lösen, nicht ohne allerdings ganz andere Probleme zu schaffen.
dann kann damit aber nicht gedacht werden an das vorhandensein eines koerperlichen leibes in einem vorhandenen seienden. dieses seiende ließe wir als das seiende kennzeichnen, das man je selbst ist. das „bin“ hängt also am „bei“, so dass nicht das bloße vorhandensein entscheidender unterschied ist (das ist die turing-maschine ja auch), sondern das bei-sein: ich wohne, halte mich auf bei der welt. sein als infinitiv bedeutet wohnen bei, vertraut sein mit. mal sehen, wie das internet das lösen wird.
„Der Turing-Test bestünde also nicht darin herausfinden, ob die Maschine intelligent ist, sondern ob sie lebt.“
Und umgekehrt, ob der Mensch noch lebt oder schon Maschine ist („Wenn Menschen aber apparatisch handeln, ist es es für den Verlauf der Kommunikation unerheblich, ob es sich dabei tatsächlich um einen Menschen oder doch schon um eine Maschine handelt“ (http://www.thorstena.de/?p=4486).
Der Respekt steht nicht an erster Stelle, darin stimme ich Dir zu. Aber das heißt ja nicht, dass er nicht später nochmal wichtig werden könnte – weniger in den Echokammern, wo „von bekannt zu bekannt“ geredet wird, sondern eher dort, wo der Austausch über Grenzen welcher Art auch immer („von ungleichzu ungleich“) stattfindet.
@Thorstena Das Problem der Ungleichheit entsteht durch Organisationen, die darauf reagieren mussten, dass sich durch funktionale Differenzierung der Inklusions/Exklusions-Modus änderte. Partizipation löste sich nach und nach von der Herkunft aus Schichten und stellte als neues Legitimationsprinzip die Gleichheit der Chancen jedes Individuums auf die Teilhabe an den Funktionssystemen her. Gefordert war der Form nach eine All-Inklusivität, die angesichts nicht zu leugnender Ungleichheiten wie ein Ungleichheitsdetektor arbeitete, für das Organisationen entsprechende Selektionsroutinen ausbildeten. Die Exkludierung geschah deshalb vor allem über Habitus, landläufig auch bezeichnet als „Vorurteile“, welche sich insbsondere an der Fähigkeit orientierten, den Geschmacksfragen der Körpereinkleidung und Köperbeherrschung gerecht zu werden. Daher wusste man dann, mit wem man es zu tun hatte, wenn in Organisationen Unbekannte auf Unbekannte trafen. Daher auch das Interesse von Pierre Bourdieu an der Habitusforschung. Er glaubte daran, dass man dem Vorurteil entgehen könnte, wenn man die sozialen Mechanismen der Vorurteilsbildung analysiert. So glaubte Bourdieu daran, man könnte Menschne auch unmaskiert beurteilen, nicht merkend wie sehr er damit auf die Maskierungsstrategie des transzendentalen Subjekts herein gefallen war. Der wahre Mensch ist eben ein unerkannter, daran ändert auch die Forschung nichts. Er ist ein Konstrukt dieser Gesellschaft, wie schon Nietzsche richtig erkannte: „Es ist ein Vorurteil, dass ich ein Mensch bin.“ (Nietzsche contra Wagner).
Insofern ist die Verbreitung des Internets ein Zivilisationsbruch. Die Interkommunikation unterläuft die Habitualisierungen, ohne sie gleichwohl abzuschaffen, und erzeugt Beobachtungsverhältnisse, die etwas ganz anderes riskant machen, nämlich nicht, ob man dazu gehört, sondern unter welchen Umständen man sich noch entziehen kann. Denen dies nicht gelingt, sind dann die mit der Arschkarte.
Ich denke, dieser neuartige „Turing-Test“ auf Gefühle muss scheitern, er kann gar nicht zuverlässig durchgeführt werden.
Zunächst sind, wie du auch feststellst, Gefühle eine sehr private Sache, die von anderen nicht nachvollziehbar sind. Sie sind innerhalb des Menschen, innerhalb des Bewusstseins gefangen und können von anderen Menschen nur am Verhalten abgelesen werden. Das ist schon einmal das erste Problem, d.h. ein Mensch müsste unbedingt Gefühle zeigen für diesen Turing-Test, auch wenn es nicht zu seiner Persönlichkeit gehört. Das heißt, der Test wäre schon da völlig am Zielobjekt vorbeikonstruiert: am Menschen. Denn dieser müsste sich evtl. entgegen seiner „natürlichen“ Verhaltensweise präsentieren. Wir wollen doch aber „menschliches“ Verhalten und Gefühle testen, nicht Affektiertheit oder Reizbarkeit.
Im Übrigen ist Verführung ein völlig ungeeigneter Indikator. Verführbarkeit ist völlig abhängig von der Situation, von den Umständen, von demjenigen, der verführt etc. Man müsste für den Test viele Testreihen durchführen, ob die Entität am anderen Ende insgesamt verführbar ist. Denn während sie in einer Situation nicht verführbar ist, könnte sie es in einer anderen sein. Wenn man es strikt betrachtet, müsste man unendliche Testreihen ansetzen, denn es könnte sein, dass der Mensch nur in ganz ganz wenigen Situationen verführbar ist. Wir haben absolut noch nicht verstanden, wie Verführung sich zusammensetzt. Ist das überhaupt zu verstehen? Oder ist das wieder eine inadäquate Rationalisierung?
Außerdem gibt es das große Problem der Simulation, Verhaltenssimulation, wovon die Gesprächssimulation mit Turingmaschinen eine erste Stufe sind. Doch wenn Verhalten simulierbar wird (das wird es, sobald Intelligenz vollständig simulierbar wird), dann sind Gefühle als Verhalten codierbar und darstellbar. Somit lässt sich für niemanden feststellen, ob Mensch oder Maschine dieses Verhalten zeigen.
Dies wäre lediglich durch physische Anwesenheit möglich, im Zweifel durch EEG o.ä., wenn wir denn irgendwann soweit sind, Androiden zu bauen.
Danke für den ergänzenden Kommentar zu meinem Artikel. Du hast sehr gut illustriert, was ich meinte als ich aufschrieb: „… wir können über Gefühle nur reden, wenn wir dabei die Mindeststandards rationaler Sinngrenzen einhalten. Und daran scheitert eben unser Wissen um Gefühle: wir müssen auch das noch vernünftig behandeln, was keine Vernunft kennt…“ Insofern hast du völlig recht: „Ich denke, dieser neuartige „Turing-Test“ auf Gefühle muss scheitern, er kann gar nicht zuverlässig durchgeführt werden.“ Er muss scheitern, solange die Fähigkeit dazu, ihn zu bestehen, nicht trainiert wurde. Der Turing-Test ist nämlich ein Testverfahren für lebende Systeme, nicht für Maschinen.
Die Evolutionsergebnisse von Gesellschaft überliefern die Kommunikabilität von an sich höchst unwahrscheinlichen Fähigkeiten. In Sachen Erkenntnisfähigkeit von Wirklichkeit würde ich verkürzt und ganz schematisch definieren, dass die tribale Gesellschaftsform die Fähigkeit zu Glauben erarbeitet hatte, die stratizierte Gesellschaft die Fähigkeit zur Wahrheit und die funktional differenzierte Gesellschaft die Fähigkeit zur Vernunft. Was erarbeitet die nächste Gesellschaft? Ich weiß es nicht. Meine Vermutung lautet, eben das, was die vorgehende Gesellschaft stets vermeiden musste, um ihre epistemologischen Fähigkeiten zu trainieren. Die tribale Gesellschaft musste Wahrheit vermeiden, weil Wahrheit auf Irrtum aufmerksam macht, die stratifizierte Gesellschaft musste Rationalität vermeiden, weil sie Abweichung möglich macht; und die funktional differenzierte Gesellschaft musste Emotionalität vermeiden, weil Emotionalität auf Wildheit verweist. Meine Fantasie besagt, dass ein freies Menschentum erst dann möglich wird, wenn der Cyborg der Zukunft nur noch eine schwache Ahnung davon hat, was Menschen einstmals waren. Der Cyborg wäre für meine Begriffe die zivilisierteste Form der Wildheit. Und wenn das alles Quatsch sein sollte, dann ist das alles Quatsch.
Ah, ich verstehe. Interessantes Konzept. Ich bin gespannt, ob es so kommen wird…
Ich sag dir Bescheid, wenn es soweit ist. Nebenbei: „Wer auf meiner Beerdigung weint, mit dem rede ich kein Wort mehr“ (Stan Laurel)
„Die Evolutionsergebnisse von Gesellschaft überliefern die Kommunikabilität von an sich höchst unwahrscheinlichen Fähigkeiten.“
Mit welchem Verfahren läßt sich das „Unwahrscheinliche an sich“ ermitteln?
@Kusanowsky / 3. Januar 2012 14:31
„Die tribale Gesellschaft musste Wahrheit vermeiden, weil Wahrheit auf Irrtum aufmerksam macht, die stratifizierte Gesellschaft musste Rationalität vermeiden, weil sie Abweichung möglich macht; und die funktional differenzierte Gesellschaft musste Emotionalität vermeiden, weil Emotionalität auf Wildheit verweist….“
Und die „vernetzte“ Gesellschaft? – Sind wir wieder beim (vernetzten) Stamm angelangt?
Oder eigentlich dort nie weg gekommen?
Mußte Mensch nicht bereits immer schon „Wahrheit vermeiden, weil…“, „Rationalität vermeiden, weil …“ und „Emotionalität vermeiden, weil …“ (auch heute das alles) – jeweils der gleiche Mensch / die gleiche Gruppe alles, nur jeweils einzeln in unterschiedlichen Situationen mal dies oder dies?
Die aufgeführte Generalisierung von Mensch nach situationsbedingten Erforderlichkeiten ist etwas einsilbig und linkisch zwangserdacht, nur wozu?
Mensch bleibt Mensch, gleich welche Konstrukte er über sich ergehen lassen muß.
Das wahre „Experiment“ ist der Mensch in seiner vollen geistigen und körperlichen Statur und Natur, und da ist das alles zusammen schon immer drin und schaut heraus, wenn er es jeweils so für erforderlich erachtet.
Vernetzt im Einzelnen, im Stamm, in der Schicht und in der Funktionsgruppe nach all diesen Kriterien treibt das erst heut so die richtige Blüte.
Schaut doch nur Addliss, den Notar, den Ludwig oder den Kusanowsky selber an:
Es ist alles dran.
Ich weiß, das war nicht an mich gerichtet, doch der Mensch verändert sich unter sozialen Bedingungen natürlich! Es „steckt“ nicht „alles schon in ihm drin“, sondern auch er wird gefüttert mit Inhalten, auch wenn einiges vielleicht als Möglichkeit in ihm angelegt ist.
Mensch bleibt nicht Mensch. Schon allein das unterschiedliche Verständnis, was der Mensch eigentlich sei, lässt ihn unterschiedlich erscheinen und unterschiedlich handeln. Einen Großteil seiner Welt machen Konstrukte aus, daher haben sie auch einen so großen Einfluss auf ihn.
@Addliss / 6. Januar 2012 13:40
„… doch der Mensch verändert sich unter sozialen Bedingungen natürlich! Es „steckt“ nicht „alles schon in ihm drin“, sondern auch er wird gefüttert mit Inhalten, auch wenn einiges vielleicht als Möglichkeit in ihm angelegt ist.
Mensch bleibt nicht Mensch.“ –
Doch!
Tut mir leid, addliss.
Kennst du den Liedtext „Und weil der Mensch ein Mensch ist …“?
Solange der „Mensch ein Mensch ist“, bleibt das, was ihn zum Menschen macht, denn sonst wäre er kein Mensch mehr …
Die Basis, der Kern, das Elementare, das Artifikat Mensch, nur das, zeichnet ihn als Menschen aus, wird das verändert, haben wir leider keinen Menschen (mehr).
Er ist selbst Konstrukt, wenn ich so will, als Artifikat – wird DAS verändert, ist das ein anderes Konstrukt, nicht mehr Mensch.
Die Jahreszeiten schwurbeln etwas an der Erde herum, ohne aus ihr grundsätzlich etwas anderes zu machen, das können sie nur, solange die Erde das ist: ERDE.
So ist das auch mit MENSCH, noch, dankenswerterweise.
Was ihm nicht ist, nicht in ihm ist, kann nie herauskommen …, wann es das eventuell tut: Da, erst da nimm deinen Text dazu …
Mein Ansatz zu einer Anthropologie ist ein anderer. Liedtext hin oder her, das ist ja nun beliebig, ob das jemand singt oder nicht. (Und nein, ich kenne den Liedtext nicht)
Ich sehe den Menschen nicht zwingend mit einem oder mehreren Merkmalen ausgestattet. Es gibt auch genug Anthropologien, die ihn als Potential verstehen, als Möglichkeit, etwas aus sich zu machen. Es gibt Anthropologien, die es als Wesen des Menschen ansehen, kein Wesen zu haben und nicht feststellbare Wesenseigenschaften, nichts Elementares, keinen Kern zu haben. (Dazu: Gehlen, Blumenberg, Plessner) Solange sich der Mensch verändert, bleibt er Mensch, das ist sein besonderer Entwurf – dass er sich selbst so frei bestimmen kann.
Ich möchte diesen Gedanken nicht vollständig zustimmen, doch ich würde ihnen eine gewisse Plausibilität zusprechen, die für mich darin resultiert, den Menschen nicht feststellen zu wollen („Der Mensch ist das nicht festgestellte Tier“, Nietzsche) und auf bestimmte Eigenschaften reduzieren zu wollen.
[…] Der Öffentliche Dienst müsste seine gesamte Organisationskultur umkrempeln und nicht nur den Leistungs-Sendern, sondern auch den -Empfängern Autonomie einräumen. Anfangen müsste er bei seiner Art, Menschen miteinander kommunizieren zu lassen – möglicherweise ist die Internetkommunikation dafür ein super Experimentierfeld: Da fehlt nämlich die Chefetage, die die Rederegeln festsetzt. […]
Ein Beobachter, der sich regelmäßig unter der selben Adresse ansprechbar macht, kann dauerhauft nicht anonym bleiben. Dabei kommt es nicht darauf an, welche Art von Adresse er der Kommunikation überlässt. Ob dies lediglich eine Blogadresse, ein Account bei Twitter oder Facebook ist, auch solche Adressen, die nicht direkt auf eine Personenadresse hinweisen, verhindern nicht, dass früher oder später Anonymität verschwindet, bzw. aufgedeckt wird.
Anonymität wäre allenfalls dann zu retten, wie sie sich mit einer Pseudonymität vertauscht, wenn also die zahlreichen Verwechselungsmöglichkeiten der Irrtumskommunkation genutzt würden. Aber auch dann kann man nicht grundsätzlich verhindern, der Anonymität entrissen zu werden.
Nehmen wir als Beispiel einen sonst anonymen Blogautor, der sehr engagiert und kompetent unter einer wiederansteuerbaren fremdgehosteten Domain wie bei WP regelmäßig Artikel über ein Thema schreibt, das sich als interessant und relevant für andere Nutzer erweist, so z.B. ein Blog, das sich mit den Plagiatsaffären befasst. Das Engagement erkennt man an der Häufigkeit und Regelmäßigkeit der Artikel, die Kompetenz an der Sprachfähigkeit, dem Grad der Differenziertheit der Texte und die Individualität an der Charakteristik der Wortwahl, des Satzbaus und der Eigenwilligkeit wiedererkennbarer Urteile und Schlussfolgerungen.
In dem Maße, wie ein Autor, der sonst keine Personenadressse hinterlässt, sich solchermaßen der Beobachtung aussetzt, ist er schon weniger anonym als er glauben will. Zwar mag der Autor als Person nicht erreichbar zu sein, als Autor ist er sehr wohl erreichbar, da er eine Kommentarfunktion aufschaltet, Kommentare freischaltet, beantwortet und sogar in anderen Blogs eigene Kommentare und damit auch ein IP-Adresse hinterlässt.
Wird nämlich auf diesem Wege Engagement, Kompetenz, Individualität und Charakteristik festgestellt, so hat all dies einen sozialen Ursprung. Ein sozialer Ursprung bedeutet, dass es keine ausschließliche Quelle des Zustandekommens solcher Merkmale und Zuschreibungen gibt. Vielmehr ist all dies immer schon in Beobachtungs- und damit in Strukturzusammenhänge eingelagert, die keine Ausschließlichkeit der Zugänglichkeit haben. Wer solche Zuschreibungen vornimmt ist weder der erste noch der einzige, dem dies auf diese Weise gelingt. Mögen andere Beobachter hinsichtlich dieser Adresse zwar auch keine identischen Zuschreibungen festellen, so doch – wenigstens im Laufe der Zeit – auch keine gänzlich verschwiedenen. Entsprechend heißt das, dass sich Erwartungen bilden, die sich, wenn auch kontingent, relativ einheitlich fügen.
Kommt schließlich eine nächste Beobachtungsebene hinzu, auf der nicht nur die Trefflichkeit der Zuschreibungen beurteilt wird, sondern auch die Beobachtung dieser Art des Beobachtens, so wird durch Abstraktion der Autor selbst gar nicht mehr relevant, sondern nur sein Versuch, anonym zu bleiben und dies unter der Voraussetzung, dass es es schon weniger ist. Das verlagert und konzentriert die Beobachtung auf eben diesen Versuch, womit er zwar noch nicht gänzlich gescheitert ist, aber das Fragenstellen und Antwortenfinden, zumal wenn diese Antworten jederzeit verbreiten werden können, findet selbst Sammelstellen und damit Verknüpfungsmöglichkeiten, für die wiederum das selbe gilt wie für die Beobachtung des Autors: sie kann gelingen, wenn ich auch zugebe, dass dies Zeit in Anspruch nimmt.
Erkennbares Engagement, Kompetenz, Individualität und Charakteristik lassen nun die Vermutung nicht zu, dass sich all dies, wenn auch durch Internetkommunikation beobachtbar, ansonsten jeder anderen Art von Kommunikation entziehen könnte. Denn mindestens kann der Autor nicht einsam sein. Er wird woanders an Kommunikation teilnehmen, wo er tatsächlich eine Personenadresse hinterlässt und wo er – wissentlich oder nicht – selbstreflektierend auf diesen Zusammenhänge zu sprechen kommt. Da andere Anwesende ebenfalls Zugang zu Internet haben und entprechende Andeutungen oder Anspielung entweder wahrheitsgemäß oder irrtümlich verknüpfen und verbreiten, so lässt sich gerade aufgrund einer anhaltenden Irrtumskommunikation des Netzes dauerhaft nicht vermeiden, den Autor irgendwann auch als Person adressieren zu können. Zwar kann er versuchen, sich als Personen durch Internetkommunikation unerreichbar zu machen, dies kann er aber nicht in jeder Hinsicht. So ist es unter Umständen eine Frage der Zeit, verknüpft mit dem Anstieg von Relevanzchancen eines solchen Themas, das eine Person sich nicht dauerhaft anonym halten kann.
Außerdem muss man kein Sherlock Holmes sein, wenn man die bekannten Merkmale, wenn sie auch eher dürftig sind, versucht zu profilieren: männlich, Geistes- oder Sozialwissenschaftler, nicht viel älter als Mitte 30, wohnhaft oder Aufenthalt in Berlin (ermittelt durch IP-Adresse), intelligent und irritationsfähig. Damit ist zwar nicht viel festgestellt, aber verbreitet ist es schon mal. Mag ein erster Profilierungsversuch auch mit Irrtümern behaftet sein, so verhindert das nicht, dass ggf. weitere Beobachtungen von anderen beigesteuert werden.
Schwieriger wird es nur, wenn der der Autor von Pseudonymisierungen Gebrauch macht, wenn er also eine oder verschiedene Personenadressen hinterlässt, deren Verwechselungsgrad sehr hoch ist. Aber dann ist es nicht eine Frage des Prinzips, sondern nur eine Sache der Dringlichkeit, mit der es gelingt, Anonymität aufzudecken.
Enttarnung von Pseudonymen gab es schon. Die Dringlichkeit ist wichtig. Und es ist eine Frage der Zeit. Und der Umstände:
„Denn mindestens kann der Autor nicht einsam sein. Er wird woanders an Kommunikation teilnehmen, wo er tatsächlich eine Personenadresse hinterlässt und wo er – wissentlich oder nicht – selbstreflektierend auf diesen Zusammenhänge zu sprechen kommt. Da andere Anwesende ebenfalls Zugang zu Internet haben und entprechende Andeutungen oder Anspielung entweder wahrheitsgemäß oder irrtümlich verknüpfen und verbreiten, so lässt sich gerade aufgrund einer anhaltenden Irrtumskommunikation des Netzes dauerhaft nicht vermeiden, den Autor irgendwann auch als Person adressieren zu können.“
Wichtig ist, dass verschiedene Identitäten nebeneinander, nicht miteinander existieren. Engagement, Kompetenz und Individualität unterscheiden nicht genug. Charakteristik ist vielleicht unverfügbar. Zusammen mit Geschlecht, Profession, Generation, Wohnort und Fähigkeit kann man zu raten beginnen. Gut, dass keine Datenbank über das verfügbar ist. Nur der NSA.
Frage der Zeit und der Dringlichkeit zeigt: Dringlichkeit des Verschwindens steigt mit der Zeit. Tod der Identität. (Problem: Reinkarnation ist leicht als solche erkennbar, daher großes Risiko.) Frage der Umstände zeigt: Das Verhalten muss auf Anonymität ausgerichtet werden.
[…] Kusanowsky schreibt hier über den Zusammenhang zwischen Respekt und Anonymität zwischen Unbekannten, und fragt sich, wie […]