Die Inkommunikabilität von Gleichheit und Gerechtigkeit
von Kusanowsky
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Bei Wikipedia kann man lesen, dass die Bezeichnung „Elferrat“ als karnvevalistische Institution während der napoleonischen Besatzung im Rheinland eingeführt wurde, indem die Revolutionslosung „Egalité, Liberté, Fraternité“ verballhornend als Abkürzung benutzt wurde: ELF . Der Ausdruck „Verballhornung“ bezeichnet, als Anlehnung an den Namen des Druckers Johann Balhorn aus dem 16. Jahrhundert, den Effekt der „Verschlimmbesserung“: Indem man versucht, einen Druckfehler zu korrigieren, wird der Fehler unbemerkbar, weil die Sinnverfremdung durch die Verbesserung so groß wird, dass man anschließend den Druckfehler gar nicht mehr bemerkt. (Der Ausdruck „Verballhornung“ ist übrigens selbst eine Verballhornung, konnte der tüchtige Drucker Balhorn doch eigentlich selbst nichts dafür.) Es kann es zu einer vollständigen semantischen Verschiebung kommen, die erst dann auffällt, wenn man Rezeptitonsketten zurück verfolgt. Ein bekanntes Beispiel für eine solche Verballhornung ist der Sylverstergruß „ein guter Rutsch“. Dabei handelt es sich um die Übernahme einer jiddischen Redewendung, in welcher mit „rosch“ ein guter Anfang gewünscht wurde. Die Verballhornung machte aus „rosch“ „Rutsch“ und bezieht sich damit doppeldeutig auf die winterliche Wetterlage und auf diesen Sylvester-Gruß.
Leider gibt es wenig Zeit, sich mit dieser Thematik intensiver zu beschäftigen. Täte man dies, würde man feststellen, wie häufig und wie unverzichtbar solche Verschiebungen sind. Daher kommt es auch, dass man solche Verschiebungen, die ja immer auch Verschmelzungen von Sinngehalten sind, nur schwer erklären kann. Das, was zum Zeitverlust führt, führt auch zu solchen Verschiebungen: Die Kommunikation geht immer schneller voran als man ihr folgen könnte, weshalb ihre Folgen immer wieder überraschend erscheinen und dann niemand mehr weiß, wie es dazu kommen konnte.
Jedenfalls scheint gerade im Umkreis der Piratenpartei eine recht interessante Diskussion voranzuschreiten, in welcher man eine rechtzeitige semantische Verschiebung der Revolutionsslosung „ELF“ bemerken könnte, wenn man nur genügend Zeit hätte, diesen Verballhornungsprozess im einzelnen zu studieren; eine Unmöglichkeit, die auch dadurch vergrößert wird, dass jede Beobachtung dieses Prozesses diesen Prozess mit beeinflusst.
Eine kurze Chronik der Diskussion: Nach einem Vortrag von Julia Schramm anlässlich einer Veranstaltung der Piratenpartei veröffentlichte dieselbe bei Telepolis einen Artikel, indem welchem zum wiederholten Male aussichtslos versucht wurde, in das Gespräch mit Internetusern über Feminismus etwas Klarheit einzubringen. Dass dieser Versuch gescheitert war, kann man nun am nächsten Versuch ablesen: Jörg Friedrich versucht im „Freitag“ unter dem Titel „Die Identitätsfalle“ die Beobachtungsdefizite bei Julia Schramm zu beheben. Und dass auch er daran scheitern wird, hängt mit den eigenen Beobachtungsdefiziten zusammen, die man bei Jörg Friedrich fest stellen kann: Er argumentiert, dass aus der Zurechnung von Identitäten immer wieder Konflikte resultieren. Daher schlägt er vor, dass zur Lösung solcher Konflikte ein Dritter tauglich sein könnte, der allerdings, diese Betrachtung fehlt bei Friedrich, niemals verhindern kann, selbst als Identität beobachtet zu werden.
Man sieht also, dass dieser Vorschlag zur Lösung des Problems gar nicht tauglich ist, weil er nur das Beobachtungsdefizit wiederholt, indem die Selbstwidersprüchlichkeit der Beobachterposition ignoriert wird. Die Inkommunkabiltität von Gleichheit und Gerechtigkeit wird damit nur wieder verstärkt, und zwar gerade dadurch, dass beides wieder und wieder in die Kommunikation gelangt. Denn was könnte über Gleichheit noch kommuniziert werden, wäre sie hergestellt? Wenn also der Unterschied verschwunden wäre um den es geht? Das selbe gilt für Gerechtigkeit. Woran merkt man, dass einem Gerechtigkeit widerfährt, wenn die Ungerechtigkeit verschwunden wäre? Und: ist jemals Gerechtigkeit entstanden oder Gleichheit? Und wenn ja, wer hat das gemacht und wie? Welches geniale Vermögen besitzt ein Subjekt, das solches könnte? Und wenn man ein solches Genie identifizieren könnte, warum es nicht gleich zum Königsphilosophen erheben? Man merkt: irgendwie geht das alles nicht. Aber das hindert gleichwohl niemanden daran, eine Defizitbehandlung weiter zu betreiben, weil die Annahme hartnäckig genug bleibt, derzufolge diese Defizite auf menschliches Versagen zurück zu führen wären.
Und da Argumente nicht weiter helfen, muss die Kommunikation auf etwas anderes achten. Vielleicht darauf, wie das Problem anfängt dadurch zu verschwinden, dass es durch Verballhornung semantisch verschoben wird. Einen ersten Versuch dazu konnte man bei Julia Schramm festellen: statt von Feminismus zu sprechen, wäre es vielleicht besser den Ausdruck Equalismus zu benutzen; und statt „Benachteiligung“ „Nerdismus„? Wie auch immer das ausgehen wird, eines könnte man schon bemerken: dass das Recht, sich ungerecht behandelt zu fühlen, anfängt, gerecht auf alle verteilt zu werden. Im Grunde hat es daran bislang nie gefehlt, denn die einzige Gerechtigkeit, die bislang empirisch möglich war, war die Ungerechtigkeit für alle. Interessant ist aber, dass ein Recht darauf, als benachteiligt zu gelten, inzwischen gegenseitig zugestanden wird. Wer hätte das gedacht? Dass Emanzipation auch darin bestehen kann, sich gleichberechtigt als ungleichberechtigt zu verstehen?
Ein kleiner Einwand und ein kurzes Gedankenspiel zur Sache:
(1) „was könnte über Gleichheit noch kommuniziert werden, wäre sie hergestellt? Wenn also der Unterschied verschwunden wäre um den es geht?“
Hier würde ich einwenden, dass Gleichheit ja nicht Identität bedeutet. Zwei als „gleich“ klassifizierte Sachen würden ja darum noch nicht identisch und daher durchaus unterscheidbar sein.
(2) „Das selbe gilt für Gerechtigkeit. Woran merkt man, dass einem Gerechtigkeit widerfährt, wenn die Ungerechtigkeit verschwunden wäre?“
Wie wäre es mit Anerkennung und Einverständnis? Wenn die Akteure eines Gerechtigkeitsdiskurses die als „gerecht“ klassifizierte Situation akzeptieren? Bruder und Schwester teilen sich einen Apfel und sind zufrieden… Das Problem der Gerechtigkeit ist vielleicht einfach nur eine Frage des Maßstabes und der Art der zu (ver)teilenden „Güter“. Vielleicht scheitert die Verallgemeinerung der Aporie an ihrer Abstraktion.
„Hier würde ich einwenden, dass Gleichheit ja nicht Identität bedeutet.“ . Gut, wenn über Gleichheit nichts mehr kommuniziert werden kann, dann wird eben etwas anderes kommuniziert, wird aber wieder etwas über Gleichheit kommuniziert, und sei es, dass darüber etwas anderes kommuniziert wird als das, was bisher immer kommuniziert wurde, dann nur, weil der Unterschied beobachtungsmäßig stabil bleibt. Aber was wäre, es gäbe keinen Unterschied mehr? Ich habe bei dieser Debatte um Nerdismus und Equalismus den Eindruck, dass das ganze unlösbare Problem peu á peu ins Nirwana verschwindet. Der Weg geht über den Umweg der solidarischen Akzeptanz von gegenseitiger Anerkennung von Benachteiligung. So könnte man Fortschritt der Frauenemanzipation nicht an der Erfüllung der Forderung ablesen, denn dann könnte man ja nicht sagen, was sich erfüllt hätte, verschwände der Unterschied, sondern daran, dass der Unterschied solidarisch (fraternisierend) und egalisierend in Anspruch genommen werden darf: ich gestehe dir zu, dich ungerecht behandelt zu fühlen, wenn und weil du mir solches auch zugestehst. Und vielleicht könnte sich erst dann ein Freiheitsspielraum entfalten, der die Einsicht zulässt, dass wir uns, gerade weil wir uns ungerecht behandelt fühlen dürfen, uns gegenseitig nicht ungerecht behandeln können, weil wir uns fraterinsiernd ja schon gegenseitig mit Gerechtigkeit bedacht haben.
Ich würde die Universalisierung der Gerechtigkeitsparadoxie nach wie vor für einen Effekt der zu weit getriebenen Abstraktion und solidarische Anerkennung eines (beobachteten oder konstruierten) Gemeinsamen für den nicht-paradoxen Ausweg halten halten. Eine nicht-identische Gleichheit kann nur aufgrund einer Anerkennung von Differenzen funktionieren. Ein völliges Verschwinden von Unterschieden halte ich (zumindest im Bereich des Sozialen) für ausgeschlossen, und immer als eine Folge von Konstruktionen, die Unterschiede letztlich verdrängen. Auch wenn das Verdrängte nicht mehr in der Kommunikation („Zensur“) auftaucht, heißt es nicht, dass es nicht mehr da ist.
In Bezug auf den eigentlichen Anlass des Artikels würde ich Dir aber in der Beobachtung zustimmen, dass es sich hier um so etwas wie einen Umweg des Gerechtigkeitsdiskurses handelt, der über die Anerkennung gegenseitiger Unrechtsempfindungen oder -erfahrungen verläuft. Inwiefern er die „tatsächliche“ Situation (also die Selbstbeschreibung der Beschriebenen) wirklich trifft, oder sich nur die Kommunikation (bzw. den Verballhornungen) der beiden Autoren verdankt, vermag ich nicht zu beurteilen. Dafür bin ich in der Sache ein zu in-informierter Beobachter. Aber von einer Feind-Ontologie zu sprechen, wie Friedrich es vorschlägt, scheint mir durchaus übertrieben. So wie die Sache sich in den beiden Artikeln darstellt, handelt es sich wohl eher um eine Konkurrenzen in der Anerkennung von Exlusion.
Eine auf dem Umweg der Anerkennung von Benachteiligung führt meines Erachtens aber nicht (notwendig) zu einer Akzeptanz von Gerechtigkeit als eines gerecht verteilten Unrechts. In dem konkreten Fall geht es ja 1. um das Verhältnis von Selbst- und Fremdbeschreibung und 2. um die politische Durchsetzung individueller oder kollektiver Rechte. Was den ersten Punkt anbelangt, so könnte er tatsächlich über eine Verständigung bzw. Verballhornung der Kommunikation verlaufen (z.B. wenn alle Beteiligten sich darauf einigen würden „Nerds“ zu sein). Dann würde vielleicht auch eine Einigung möglich sein, worin eigentlich der zweite Punkt besteht: Wie ließe sich die umwegig gewonnene kollektive Selbstbeschreibung in eine politische Forderung nach Gerechtigkeit übersetzen?
„Auch wenn das Verdrängte nicht mehr in der Kommunikation („Zensur“) auftaucht, heißt es nicht, dass es nicht mehr da ist.“ Das stimmt, aber ich würde dann nur die Frage stellen: Was ist aus ihm geworden, wo ist es abgeblieben, wie, mit welcher anderen Unterscheidung taucht es wieder auf? Nehmen wir als Beispiel die „Erbsünde„, das Problem der mittelalterlichen Theologie. Wir können uns kaum noch vorstellen woher dieses Problem kam und warum es von dieser Dringlichkeit gewesen ist. Das Epistem (nach Foucault) ist aus der Theologie verdrängt worden, besser: die Theologie ist aus dem Epistem heraus gedrängt worden, aber wo taucht es, wenn auch durch die Alchemie der Kommunikation verwandelt, wieder auf? Ich vermute, in der säkularen Theoriebildung bleibt es in der Frage nach der Erreichbarkeit der Gesellschaft erhalten, aber unter säkularen Bedingungen als Paradoxie. So werden in der modernen Gesellschaft Forderungen an die Gesellschaft gerichtet, aber nur, sofern es niemanden gibt, der sie erfüllen könnte. Würde andersherum jemand gefunden werden, der bestimmte Forderungen erfüllen müsste, verschwinden sie sofort. Als Beispiel leuchtet mir die Kehrtwende in der deutschen Atompolitik der Angela Merkel ein. Jahrzehntelang konnte für die Forderung nach einem Ausstieg aus der Atomenergie keine Adresse gefunden werden, weil alle ansprechbaren Adressen die Forderung auf andere Adressen abgeschoben haben, sie sich also durch Ansprechbarkeit als unerreichbar erzeigten. Wird nun der Evidenzdruck so groß, dass die Nichterfüllung größere Risiken birgt als die Erfüllung, wird sie erfüllt. Auch hier ist das Fukushima-Beispiel bezeichnend. Durch die Havarie, durch dieses Umweltereignis, sind ja die deutschen AKWs nicht gefährlicher, aber riskanter ist die Evidenz geworden, aus welcher sich die Forderung ableitet. Vielleicht dürfte etwas ähnliches für die Gerechtigkeitsparadoxie gelten, indem die Forderung nach Gerechtigkeit, welche sich ja nur an eine unerreichbare Gesellschaft richten kann, erst dann verschwindet, wenn genügend Adressen erreicht werden, die einen Anspruch Ungerechtigkeitsempfinden anmelden dürfen. Auch dies geschieht wieder über den Umweg des Bestreitens solcher Ansprüche, was zu einem Wettrennen führt, in welchem gewinnt, wer die Erfahrung der Ungerechtigkeit am dringlichsten und plausibelsten vortragen kann. Und wenn dies den einen nicht mehr gelingt, dann auch nicht mehr den anderen. Dann dürfte auch dieses Problem auf eine anderes Gebiet verschoben werden, nur wird es durch Einführung weiterer Unterscheidungen anders kontextiert. So könnte ein Konservierungsergebnis dieser politischen Forderung darin bestehen, dass sie rituell parodiert wird, um nicht in Vergessenheit zu geraten. Etwas ähnliches dürfte für Demorkatie allgemein gelten. Ausührlicher: Stuttgart 21 – Dämonie oder Parodie der Masse? Insofern ist der rheinische Karneval als Allegorie vielleicht ganz gut geeignet um zeigen, was aus den Exklusionsregeln werden wird.
Der Zusammenhang zwischen dem verschwundenen/verwandelten Erbsündeproblem und der Frage nach der Erreichbarkeit der Gesellschaft scheint mir interessant, ich weiß nur nicht, ob ich das richtig verstanden habe. Aber ich versuch’s mal so: Die AKWs sind eine nukleare Erbsünde, also ein Unheilszustand, den unsere Vorfahren an uns vererbt haben und den wir an unsere Nachfahren weitervererben werden. Nach einigen Generationen weiß man nicht mehr, wer für das kollektive und ökologische Unheil, das aus ihnen folgt oder folgen wird oder folgen könnte, verantwortlich zu machen ist. Man weiß aber, wer für der Stabilisierung des drohenden Unheils bezichtigt werden kann: die „Atom-Lobby“. Infolge der Politisierung des Protests muss dann festgestellt werden, wer dazu gehört und wer dagegen ist. Geläufig ist es, diese Unterscheidung montetär zu begründen: Wer verdient daran auf wessen Kosten? Anhand dieser Differenz kann sich dann die Kommunikation des Unrechts und die Forderung nach Gerechtigkeit entfalten.
Man müsste dann aber noch unterscheiden zwischen den Kommunikationsformen Klage und Protest. Beiden geht es ja um die Artikulation von Unrechtserfahrungen. Während es der Klage aber nicht darum geht, irgendetwas zu ändern, sondern eben einfach nur ein Leiden an etwas bereits Geschehenem zu artikulieren, wofür dann eine mehr oder weniger appelationsfähige Instanz gesucht wird (Freunde, Leser, Ahnen, Hausmauern, Gott), geht es in einem Protest ja um eine Forderung nach Abänderung eines bestehenden oder zukünftigen Leidens. Dafür muss eine appelationsfähige Instanz gefunden werden, der eine entsprechende Korrektur-Macht zugeschrieben wird. Die Einlösbarkeit politischer Forderungen hängt stets vom Erfolg der Herstellung einer solchen Appellationsfähigkeit ab. Diese kann freilich eher mythisch oder korporativ oder beides sein.
Unter letzteres fallen z.B. antisemitische Verschwörungstheorien, wie sie von den Nazis propagiert wurden und überhaupt Verschwörungstheorien im allgemeinen. Sie sind eine merkwürdige (fast könnte man sagen „pathologische“) Kompromissbildung aus verweigerter Klage und verhindertem Protest. Das „Erbsündeproblem“ („Warum geht’s uns allen schlecht?“) wird einer konspirativ sich entziehenden Instanz zugerechnet. Die Unerreichbarkeit der Gesellschaft wurd durch ein imaginäres Arkanum gerade durch die entzogene Appellationsfähigkeit appellationsfähig gemacht. Interessanter Weise tendiert jede monetär begründete Unrechtsartikulation irgendwann zu verschwörungstheoretischen Narrationen. Das Geld ist letztlich immer der mächtigste Verschwörer. Seine Verbündeten meist Männer, hauptsächlich weiße Männer, in der Regel europäisch-amerikanischen Ursprungs usw.
Eine andere merkwürdige (weniger „pathologische“, sondern im Ritus symbolisch kompensierte) Form vergeblicher Gerechtigkeitsforderungen ist tatsächlich der Karneval, zumindest in der Kölner Variante z.B. mit der Nubbelverbrennung. Die Verbrennung des Strohmanns hat einen ähnlichen Wert wie eine Klage. Die Verwandlung des kollektiven Leidens in öffentlich zelebrierte Ironie fungiert als eine gesellschaftliche Kompromissbildung. Alles darf bleiben wie es ist, wenn man sich nur in der „fünften Jahreszeit“ albern aufführen darf. Im Unterschied zu Stuttgart 21 ist der Grund der Veranstaltung aber völlig unspezifisch bzw. in der performativen Konservierung vergessen worden.
Was meinst Du also mit dem Satz: „Etwas ähnliches dürfte für Demokratie allgemein gelten“? Läuft Demokratie aus Deiner Sicht eher auf den Erfolg einer Herstellung gesellschaftlicher Instanzen korporativer Appellationsfähigkeit hinaus; oder auf die Unvermeidlichkeit ritualisierter Kompensationen vergeblicher Gerechtigkeitsforderungen; oder auf die Produktion verschwörungstheoretischer Kompromissbildungen aus verweigerter Klage und verhindertem Protest?
„Der Zusammenhang zwischen dem verschwundenen/verwandelten Erbsündeproblem und der Frage nach der Erreichbarkeit der Gesellschaft scheint mir interessant“ Die Erbsünde bezeichnete den Abgrund (Sund) zwischen Welt und Gott, der von Menschen nicht überbrückt werden kann. Daraus entstand die menschliche Heilsbedürfigkeit. Gott blieb zwar durch das Gebet und das gute Werk appellationsfähig, war aber im Prinzip für Menschen unerreichbar. Diese Vorstellung scheint mir unter säkularen Bedingungen erhalten geblieben zu sein, allerdings nicht mehr durch die Unterscheidung Gott und Welt, weil Gott von uns nicht mehr außerhalb der Welt gedacht werden kann. Für uns ist das Heil nur durch innerweltliche Kräfte zu erreichen; und: durch Menschen. Aber: welche Menschen? Die Lösung dieses Problems wurde durch Inkaufnahme einer zirkulären Paradoxie gelöst. Eigentlich ist jeder Mensch für die ganze Welt zuständig, aber nur unter der Voraussetzung, dass jedem Menschen Rechte zu stehen, mithin auch das Recht auf Indifferenz. Für die Sicherstellung dieser Menschenrechte sind dann wieder Menschen zuständig usw. So hat man immer eine appellationsfähige Instanz, die aber gleichwohl nicht mehr allmächtig ist, wodurch die Beobachtung der daraus resultierenden Defizite, da sie von niemandem behoben werden können, nicht einschlafen kann. So kann eine Erreichbarkeit der Gesellschaft illusioniert werden, weil das beständige Scheitern immer nur als ein Scheitern von Menschen erscheint. Zieht man aber daraus den Schluss, dass die Gesellschaft unerreichbar ist, so heißt das auch, dass sie nicht aus Menschen besteht. Die Erbsünde wäre dann aufgehoben in der Auffassung, dass die Systeme für einander unzugänglich sind.
„Läuft Demokratie eher auf den Erfolg einer Herstellung gesellschaftlicher Instanzen korporativer Appellationsfähigkeit hinaus; oder auf die Unvermeidlichkeit ritualisierter Kompensationen vergeblicher Gerechtigkeitsforderungen; oder auf die Produktion verschwörungstheoretischer Kompromissbildungen aus verweigerter Klage und verhindertem Protest?“ Das ist eine gute Frage, weil sie der Komplexität gerecht wird, um die es geht. Insbesondere der Punkt der Produktion verschwörungstheoretischer Kompromissbildungen scheint mir sehr interessant, über den ich noch mal nachdenken werde. Würdest du für Herstellung gesellschaftlicher Instanzen korporativer Appellationsfähigkeit bereits irgendwelche Ansatzpunkte finden?
„Die Erbsünde bezeichnete den Abgrund (Sund) zwischen Welt und Gott, der von Menschen nicht überbrückt werden kann.“
Das deutsche Wort Sünde hat eine gemeinsame Wurzel mit Worten anderer germanischer Sprachen (Englisch sin, Altenglisch synn, Altnorwegisch synd). Der Ursprung ist nicht genau geklärt. Möglicherweise geht das Wort auf die indogermanische Wurzel *es- zurück, das Partizip des Verbes sein, soviel wie seiend im Sinne von „derjenige (der es war) seiend“ bedeutend. Im Deutschen wurde Sünde erstmals als christlicher Begriff gebraucht.
Eine falsche, volksetymologische Deutung führt es auf das germanische sund zurück, weil Sund eine Trennung bezeichne. Allerdings bezeichnet „Sund“ im Gegenteil etymologisch eine Enge, also eine Verbindung, zum Beispiel eine Landenge.
http://de.wikipedia.org/wiki/S%C3%BCnde
„Eine falsche, volksetymologische Deutung“ – falsche Deutungen haben mich seit jeher fasziniert, insbesondere die „Falschheiten des Volkes“. Dieses „Verballhornen“, Verdrehen, Vertauschen, Verschmelzen, Verhören, Verschreiben, Vermischen, also all der Hokuspokus der Kommunikation ist so normal, dass man es gar nicht für möglich halten will. Wer nicht zum Volk gehört, wer also korrekt zwischen richtigen und falschen Deutungen unterschieden kann, ist da immer im Nachteil. Mithin: noch so ein Fall der Benachteiligung. Daraus ergibt sich, dass der „Nerdismus“ in der modernen Gesellschaft schon immer vorhanden war: der Besserwisser, der Genau- und Richtigwisser konnte es noch nie ertragen, dass die Verdreher der Sprache auch mit reden dürfen. Da sie aber in der Mehrheit sind, ist der Nerd immer der Außenseiter. Schlimm.
„Zieht man aber daraus den Schluss, dass die Gesellschaft unerreichbar ist, so heißt das auch, dass sie nicht aus Menschen besteht.“
Systemtheoretisch gesprochen, ja. Aber man könnte auch sagen, dass sie nicht nur aus Menschen besteht. Man könnte auch mit Latour (und darüber hinaus) versuchen zu sagen, dass Gesellschaft eine Assoziation von Menschen, Artefakten, Medien, Infrastrukturen und Diskursen ist. Das ist zwar erst einmal wesentlich unordentlicher, als wenn man es nur mit Systemen zu tun hat, die ja irgendwie immer Gleiche unter Gleichen sind (eine aristokratische wenn nicht gar kommunistische Sozialontologie?). Aber gerade die neuen Differenzen, die sich dann beobachten liesen, könnten auch aufschlussreich sein für die Beschreibung der konstituierten und sich wieder entziehenden Appellationsinstanzen. Zum Beispiel das Geld oder das Internet (welchem System gehört das Internet eigentlich zu?). Was würde man gewinnen, wenn man diese auch als Akteure beschreibt? Letztendlich tun wir das ja immer schon grammatisch, etwa wenn wir davon sprechen wie das Geld oder das Internet die Gesellschaft verändert (hat). Indem wir sie als Subjekte adressieren, versetzen wir sie in den Stand der Apellationsfähigkeit (ein Begriff übrigens, den ich mir von Hans Blumenberg geborgt habe, siehe z.B. seine „Arbeit am Mythos“).
Daran anschließend würde ich auch meine Antwort auf Deine Frage formulieren: „Würdest du für Herstellung gesellschaftlicher Instanzen korporativer Appellationsfähigkeit bereits irgendwelche Ansatzpunkte finden?“
Diese Prozesse würde ich zunächst einmal (noch relativ unproblematisch) auf Ebene der gesellschaftlichen Institutionen beantworten. Institutionen sind genau solche Instanzen. Wirtschaftliche Institutionen firmieren z.B. als Rechtssubjekte. Die Gesellschaft mit beschränkter Haftung wird zwar von Menschen betrieben, doch führt sie ja ein merkwürdiges Eigenleben, und dies nicht nur als Rechtssubjekt. Alle Mitarbeiter, auch die Chefs können ausgetauscht und die Firma gekauft werden, sie gibt es immer noch. Bei Parteien verhält es sich ja ähnlich. Etwas komplizierter wird es bei technischen Systemen, aber auch hier verhält es sich ähnlich, nur dass die Kontrollinstanzen solcher Systeme zunehmend keine Menschen mehr, sondern selber Maschinen sind. So stellt sich denn auch die Frage: „Wann steht der erste Roboter vor Gericht?“ Mit solchen Fragen könnten wir es in Zukunft vielleicht ernstlich zu tun haben.
Über solche „handgreiflichen“ Akteure, wie Menschen und Maschinen hinaus, würde ich auch ethnische oder soziale Gemeinschaften beschreiben, bei denen es zunächst erst einmal schwer fällt, sie als „System“ zu beschreiben, die aber in der Kommunikation entweder als Identitäten oder kollektive Akteure adressiert werden. Protestbewegungen sind auch so ein Fall. Wenn spontane, themenbezogene Versammlungen auftreten, deren Zusammenkunft nicht auf einer gemeinensamen Identität, sondern auf einem gemeinsamen Interesse oder Ziel beruht, sei es nun Stuttgart 21 oder Anonymus etc., handelt es sich zwar nicht um Institutionen oder Rechtssubjekte, aber um etwas, das korporative Effekte zeitigt. Der Korporationsprozess verläuft dann über Selbst- und Fremdbeschreibungsvorgänge, durch die das soziale Ereignis appellationsfähig wird und über die dann bestimmte Zuschreibungen oder Identifkationen in Gang kommen können („will wollen dies und jenes“, „wir sollten dies und das tun“, „die Anhänger/Teilnehmer von X sind so und so“). Der Koporationsprozess vollzieht sich dann in der Regel hauptsächlich durch Öffentlichkeit und Medien. Die Adresse der Apellationsfähigkeit ist dann also ein wie auch immer geartetes „Wir“.
Darüber hinaus gibt es auch noch nicht-diskursive Kollektive. Solche werden z.B. durch die marxistische Theorie als Klassen bezeichnet. Oder durch Sozialstudien oder Versicherungen als bestimmte Gruppen identifiziert. Sie bewirken durch ihr gemeinsames Verhalten oder ihre gemeinsame Situation korporative Effekte, die dann nachträglich beobachtet und appellationsfähig gemacht werden können („die bildungsferne Schicht“, „wir sitzen im selben Boot“, „Proletarier aller länger vereinigt Euch“). Die Adresse der Apellationsfähigkeit ist dann zunächst ein kollektives „Es“ oder ein „Ihr“, das vielleicht später oder auch nie zu einem „Wir“ werden kann.
In dieser Richtung jedenfalls würde ich die Frage beantworten. Bei großen sozio-technischen Systemen oder Realabstraktionen verhält es sich dann etwas komplizierter („Autobahnen zerstören die Umwelt“, „Wir müssen das Internet schützen“, „Wir müssen den Euro retten“).
Und bei den verschwörungstheoretischen Kompromissbildungen verhält es noch einmal anders.
„Aber gerade die neuen Differenzen, die sich dann beobachten liesen, könnten auch aufschlussreich sein für die Beschreibung der konstituierten und sich wieder entziehenden Appellationsinstanzen“ Was ich an der Latourschen ANT nicht recht begriffen habe ist der theoretische Vorteil, der entstehen könnte, wenn man den Akteuresbegriff erweitert. Eher scheint mir dies eher ein Rückschritt zu sein, weil dann wieder mit einer Handlungstheorie anfangen müsste, die vor Luhmann zu keiner kohärenten Bestimmung und Erklärung von Handlung geführt hatte. Ein erweiterter Akteursbegriff hätte dann nur wieder einen erweiterten Handlungsbegriff zur Folge; und angesichts der Komplexität handlungstheoretischer Ansätze wüsste ich kaum zu sagen, ob in dieser Hinsicht jemals etwas Entscheidendes und Weiterführendes übersehen wurde. Mir scheint dagegen diejenige Überlegung besser zu sein, die nach der Herkunft dieser Komplexität (und Inkohärenz) fragt. Und dann kann man nicht damit anfangen, das Akteure diese Komplexität herstellen. Außerdem scheint mir dieser Akteursbegriff auch wieder nur ein erweiterter Subjektbegriff zu sein. Solche Definitionserweiterung sind übrigens häufig: Erweiterer Kulturbegriff, erweiterter Kunstbegriff, erweiter Politikbegriff, erweiterter Theorie- und Naturbegriff und dergleichen. All diese Erweiterungen scheinen mir Reaktionen auf die Beobachtung der Inkohärenz zu sein, die noch einmal gesteigert werden kann und möglicherweise auch erst noch einmal gesteigert werden muss, bevor man nach der Unterscheidung fragt, die dem Beobachtungsschema zugrunde liegt, durch welches das immer wiederkehrende Scheitern ignoriert werden kann. Denn die Erweiterung ist ja der Versuch zu retten was sich als unrettbar erwiesen hat, die Erweiterung zerrüttet beinahe jede Erwartungssicherheit und macht es wahrscheinlich, dass man bald von etwas anderem reden kann, wenn man ohnehin nicht mehr weiß, worum es noch geht.
Insofern bin ich aus der ANT noch nicht so recht klug geworden. Nichtsdestotrotz ist dein Hinweis auf die Konstitution von Appellationsinstanzen sehr gut, weil wir wieder – das habe ich irgendwo schon mal in einem Kommentar geschrieben (mal sehen ob ich ihn wieder finde..) – Gründe haben oder finden werden, uns über „Gespenster“ zu unterhalten. Aber nicht über die Frage, ob es Gespenster wirklich gibt, sondern darüber, wie man sie beobachten kann, wenn man berücksichtigt, dass man ja immer auch Gespenstern beobachtet wird. Es geht dabei ja nicht nur um die Zurechnung von Handlung und Verhalten, sondern um die Beurteilung von Formen und wie sie Unterschiede ermöglichen, die weitere Unterschiede möglich machen. Insbesondere was die Appelltationsfähigkeit angeht dürfte diese Frage interessant sein. Als Beispiel nenne ich die noch immer weit verbreitete Hoffnung auf Wachstum zur Lösung ökonomischer Probleme. „Wir brauchen mehr Wachstum!“ – heißt es. Was mich interssiert ist: warum ist es eigentlich so schwer, in die Diskurse das Argument einzubringen, dass die Probleme durch Wachstum entstanden sind und alle Wachstumshoffnung nur die Hoffnung auf Verschlimmerung der Probleme ist? Gewiss, wir haben es mit Selbstdeterminierung zu tun. Aber damit wäre nur ein Wort gefunden für das, was begriffen werden müsste, nämlich die Tenazität, das Durchhaltevermögen, die Beharrlichkeit mit der weiter geschehen soll, was nicht mehr weiter gehen kann. Wie kann sich das im evolutionären Verlauf der Systemdifferenzierung einspielen?
»Hauntology supplants its near-homonym ontology, replacing the priority of being and presence with the figure of the ghost as that which is neither present nor absent, neither dead nor alive.« http://fs.oxfordjournals.org/content/59/3/373.full (via http://en.wikipedia.org/wiki/Hauntology)
Die Annahme, dass es Geister gibt, scheint, wenn sie ernst gemeint sein soll, nur in Anführungsstrichen formulierbar, weil Anführungszeichen als Zeichen für Selbstdistanzierung vom Bezeichneten fungieren. Anführungszeichen sollen entsprechend zeigen, dass etwas anderes als das gemeint ist, was man sagt; sie sollen gleichsam die Differenz von Information und Mitteilung markieren und sind dennoch auf diese Differenz als Vorausssetzung angewiesen, damit sie als Zeichen interpretierbar sind. Das heißt, dass diese Differenz nicht bezeichenbar ist. Sie entzieht sich der Bezeichenbarkeit und damit aller Dokumentierbarkeit, sie entschwindet permanent und ist dennoch zugleich immer anwesend.
Vollständig: https://differentia.wordpress.com/2010/12/22/bemerkungen-zur-realitat-von-simulationsmedien-5-systemtheorie/
Was Latour betrifft, so würde ich sagen, dass die Erweiterung des Akteurs-Begriffs auch zugleich eine Selbst-Einschränkung dieses Begriffs ist. Er selbst ist mit dem Begriff ja auch nicht zufrieden (und ihn wiederholt einer Selbstkritik unterzogen), aber was m.E. damit definitiv damit nicht gemeint ist, ist eine Wiederholung der überkommenen Subjekt-Objekt-Differenz, sondern gerade ein Versuch ihrer Auflösung.
So wie ich Latour verstehe ist der Akteurs-Begriff eine Ableitung bzw. Funktion vom Begriff des Prozesses. Prozesse (Operationsketten) sind primär und ein Akteur ist dann einfach alles, was nicht aus diesem Prozess eliminiert werden kann, ohne den Prozess zu verändern. Austauschbare Instanten (er nennt sie „Zwischenglieder“) sind keine Akteure.
Damit verschiebt sich natürlich die Frage darauf, was ein Prozess ist, wie man ihn bestimmt. Ein Problem, was ich hier tatsächlich sehe, ist eine Form latenter oder manifester Zweckrationalität. Das interessante dabei ist aber, dass der Zweck keiner ist, den ein Akteur bestimmt, sondern gewissermaßen aus ihren Interaktionen emergiert. So wie möglicherweise auch Systeme emergieren.
Den Unterschied zur Systemtheorie würde ich bei der ANT vielleicht darin sehen, dass dem Akteurs-Netzwerk nicht die Eigenschaft der Autopoesis zugeschrieben wird. Vielleicht erweisen sich beide Theorien in dem Punkt ja sogar als anschlussfähig: Dann würde es darum gehen müssen, den Punkt zu bestimmen, an dem ein komplexer Handlungszusammenhang in ein System umschlägt.
Eine ähnliche Frage scheinst Du ja auch zu stellen, die ich in dem Zusammenhang noch einmal leicht paraphrasieren würde: Wie kann sich überhaupt etwas im evolutionären Verlauf der Systemdifferenzierung einspielen?“
Was Dein Beispiel mit der Wachstumsforderung betrifft, diese Frage stelle ich mir auch immer wieder. Aber die Antwort scheint in einer gewissen Zwangsnatur der Sache zu liegen. Man kann eben keinen Kapitalismus ohne Wachstum(sforderung) haben. Das geht nicht. Man kann (oder will) sich aber auch keine Alternative vorstellen oder etwas ganz anderes anfangen. Man müsste ein ganzes System deinstallieren, umprogrammieren. Das traut man sich nicht (zu) oder weiß nicht wie. Daher sucht man lieber Gründe, warum nicht Wachstum, sondern etwas anderes das Problem ist, was man dann eben „Wachstumshemmnis“ nennt.
Wie aber hat sich das Ökonomiesystem des Kapitalismus denn etabliert? Vielleicht war am Anfang ja erst einmal die Handlung bzw. der Handel. Also so etwas wie ein „Akteurs-Netzwerk“. Und dann poppt irgendwann das System auf. Der Begriff „Ausdifferenzierung“ erklärt ja auch nicht den Prozess, sondern beschreibt nur dessen Ergebnis. Oder irre ich mich da?
„Dann würde es darum gehen müssen, den Punkt zu bestimmen, an dem ein komplexer Handlungszusammenhang in ein System umschlägt.“ Das scheint mir gerade der springende Punkt bei Luhmann zu sein, dass er dieses Verhältnis genau umkehrt, und damit die Inkohärenz der Handlungstheorien auflöst: Erst ein funktionierendes System sorgt dafür, dass Handlungszusammenhänge von dem System beobachtet und für das System stabilisierend wirken können; das System macht die Handlung als Handlung beobachtbar. Erst indem Kommunikation sich als Handlung ausflaggt wird sie beobachtbar. Das verschiebt die Beobachtung der Kommunikation auf die Handlung und macht so die Handlung zur Kommunkation. Alle vorhergehenden handlungstheoretischen Versuche gingen immer davon aus, dass Kommunikation durch Handlung entsteht, gestützt war dies durch Subjekttheorien, die Subjekte als unvermeidbare und unhintergehbare Ausgangspunkte von Kommunikation ansahen: das Subjekt handelt. Aber weder Handlung noch Subjekt bilden in zirkulären Verweisungs- und Selektionsprozessen den Anfangspunkt. Soweit habe ich Latour auch verstanden. Nur verstehe ich nicht, warum er einen Akteur gleicham als Selektor einsetzt, wo doch für die Stabilsierung der Fortsetzbarkeit von Operationsketten nicht einmal ein Selektor notwendig ist, weil die Synchronisierung von Selektionen durch Wahrscheinlicheitserrechnungen autopoetisch funktioniert. Was mich daran fasziniert ist tatsächlich die evolutionäre Stabilität von Strukturen, und noch mehr sind es die Wege, die Irrungen und Wirrungen, durch die sich Regeln einspielen. „„Die Sitte gilt und muss gelten, aber daß sie’s muß, ist mitunter hart.“ Wie kommt dieses „Müssen“ zustande? Was den Kapitalismus angeht, dürfte es noch etwa 20 oder 30 Jahre dauern bis man erkklären wie er funktioniert, vielleicht deshalb, weil man bis dahin heraus gefunden, dass er nicht mehr funktioniert. Von einer „Zwangsnatur der Sache“ kann man sprechen, wenn sich dieser Zwang heraus gestellt hat. Aber wie kann das sein? Wo kommt er her, wenn es niemanden gibt, der ihn herstellen kann? Wobei mich weniger die Frage interessiert, wer die Welt geschaffen hat (niemand war’s), sondern mehr: wie konnte vergessen werden, dass und wie sie zustande kam? Ausdifferenzierung ist darum nur eine Evolutionsstrategie, die in Gang kommt, wenn einen Attraktor Erfolgswahrscheinlichkeit von Formfindung in Vermeidungsverhalten transfomiert: definieren, probieren, scheitern und deshalb differenzieren. Oder so ähnlich…
„Erst ein funktionierendes System sorgt dafür, dass Handlungszusammenhänge von dem System beobachtet und für das System stabilisierend wirken können.“
Das ist sicherlich wahr, aber wohl nur darum, weil es auch eine Tautologie ist. Einmal als System etabliert, lässt es sich in dieser Weise als System beschreiben. Wie aber entsteht ein „funktionierendes System“? Auch der Begriff der Emergenz muss sich ja genauer erläutern lassen, wenn er nicht nur ein Zauberwort sein soll, d.h. der Begriff müsste nicht nur erklären können ‚x emergiert aus y‘, sondern auch, warum z.B. nicht ‚z aus x oder u‘ emergiert. Es muss offensichtlich Bedingungen einer Systemkonstitution geben, in der ein Unterschied von Genesis und Funktion von Systemen beobachtbar wäre. Oder mit anderen Worten: nicht aus jeder kontingenten Kopplung (von Akteuren oder Systemen) entsteht ein System. Kann die Systemtheorie nicht nur die Funktion, sondern auch die Entstehung von Systemen erklären?
wie konnte vergessen werden, dass und wie sie zustande kam?
Vielleicht liegt es ja daran, dass Systeme nicht nur Beobachtung ermöglichen, sondern gerade in der rekursiven Struktur von Selektionen mit der Kontingenz eben auch das Bewusstsein von ihr tilgen (der ‚blinde Fleck‘). Man macht dann irgendwann eine Sache nur noch deshalb, weil man sie so macht. ‚Es ist so wie es ist‘, fungiert dann als eine Tautologie, die in dem Moment einen Zwangscharakter gewinnt, wenn sich alle daran halten. Das ist doch die Crux sozialer Realitäten, oder?
Auch wenn sich damit andere große Probleme verbinden, so kann ich mir im Kontext von Netzwerktheorien (sei es nun die ANT oder die der Network Sciene) zumindest vorstellen, wie Komplexitäten aus der Interaktion diskreter Elemente (‚Akteur‘) emergieren und sich stabilisieren können. Bei der Systemtheorie habe ich in der Hinsicht immer Schwierigkeiten. Die Stabilität scheint irgendwie immer schon da zu sein.
„Es muss offensichtlich Bedingungen einer Systemkonstitution geben, in der ein Unterschied von Genesis und Funktion von Systemen beobachtbar wäre“ dem könnte ich zustimmen, aber die Einschränkung wäre nur, das alles weitere Unterscheiden niemals den zirkulären und darum auch tautologischen Verweisungsprozess beenden kann. Die Willkür des Anfangs muss zulässig bleiben, („Die Welt ist alles was der Fal ist“), für jedes System. Ein jedes muss zulassen können, was Wittgenstein so formulierte: „Meine Sätze erläutern dadurch, dass sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist. (Er muss sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.)“ Dieses „Leiterwegwerfen“ geschieht dann, wenn das Phänomen emergent wird. Das System lässt sich dann nicht mehr auf die Bedingungen reduzieren, aus denen es hervor gegangen ist. Es erscheint. Und man wundert sich, woher es kommt. Umso interessanter ist dann ja, das Evolutionstheorien überhaupt möglich sind. Denn gerade eine Evolutionstheorie ist ja ohne einen Begriff von Kontingenz gar nicht möglich, dass gilt auch für die Evolution von lebenden Organisamen (Émile Boutroux). Aber wie kommt man darauf? Wie kann man, wenn man davon ausgeht, dass man nur von dem ausgehen kann, was sich letztlich als Ergebnis zeigt, wissen, dass auch etwas anderes hätte passieren können? Eben dies zeigt, wie unhaltbar die Einwände gegen zirkulär-tautologische Argumentationsweisen sind, zeichnen sich diese doch gerade dadurch aus, dass es höchst schwierig wird, etwas anderes zu finden als das, was schon gefunden wurde, wenn man zulässt, dass alles, was gefunden wird schon gefunden wurde. Dass Tautologien in Beliebigkeit enden ist Quatsch, aber: warum konnte dies nicht als Quatsch bemerkt werden, sondern im Gegenteil als notwendige Voraussetzung von Logik und Wissenschaft ganz allgemein? Meine These ist ja, dass dies evolutionär mit der Dokumentform zusammenhängt, die sich als Form der Erfahrungsgewinnung bilden konnte, solange es möglich war, die Erfahrungsbedingungen beinahe vollständig fremdreferenziell zu analysieren und da, wo Selbstreferenz unausweichlich wird – wie bei Kant – sie schließlich als selbstreferenzielle Fremdreferenzialität zu entalten (etwa als kategorischer Imperativ), ohne dass dies bemerkt wird.
Und zur Systemstabilität: gerade das ist in der Luhmannschen Systemtheorie ein Problemansatz: wie kann es überhaupt sein, dass Systeme gerade angesichts all dieser höchst unwahrscheinlichen Zusammenfälle stabil bleiben können? Die Verwunderung darüber ist bei Luhmann wohl größer als die Gewissheit.
Frauen sind in vielerlei Hinsicht doppelt benachteiligt. Zum Beispiel beim Scheidungsrecht. Frauen, die gar nicht verheiratet sind, sind vom Scheidungsrecht grundsätzlich ausgeschlossen. Damit sind sie doppelt benachteiligt: erstens, weil Frauen in der Gesellschaft allein aufgrund ihres Geschlechts immer schon benachteiligt sind und zweitens dadurch, dass sie nicht verheiratet sind. Das ist bei Männern anders. Es gibt zwar auch viele unverheiratete Männer, aber weil Männer im allgemeinen weniger benachteiligt sind, trifft sie dieses Unrecht nicht ganz so hart.
Deshalb muss eine Änderung im Scheidungsrecht eingeführt werden. Auch unverheiratete Frauen müssen das Recht erhalten, sich scheiden lassen zu können, damit diese doppelte Benachteiligung beseitigt wird.