Genie und Ironie
von Kusanowsky
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Angeblich hat die Washington Post ein Experiment durchgeführt. Man ließ Joshua Bell, den berühmtesten Violinisten der Welt auf der besten Violine der Welt die bekanntesten Musikstücke der Welt in einer Washingtoner U-Bahn-Haltestelle als Straßenmusiker aufführen. Und niemand hat davon Notiz genommen. (youtube)
Experimente dieser Art sind nicht neu. 1968 hatte die Redaktion der deutschen Satirezeitschrift Pardon unter dem Pseudonym eines unbekannten Autors den Text des berühmten Romans „Der Mann ohne Eingenschaften“ von Robert Musil bei verschiedenen Verlagen als Manuskript zur Prüfung eingereicht. Das Ergebnis zwar ernüchternd. Die Lektoren lehnten eine Veröffentlichung mit Begründungen ab, die einen schmunzeln lassen. Selbst der Rowohlt-Verlag, der den Roman von Musil verlegte, kommentierte das Manuskriptangebot mit den Worten: „“Die Publikationschancen der Arbeit konnten für unser spezifisch literarisches Programm nicht sehr günstig beurteilt werden.“
Man könnte sich natürlich auch vorstellen, dass das andersherum funktioniert, indem ein bekannter Schriftsteller das Manuskript eines ahnungs- und talentlosen Studenten zur Prüfung einreicht. Wahrscheinlich dürfte es ohne Probleme gedruckt und verkauft werden. Übrigens ist dieses Motiv uralt, bekannt unter dem Motto: „Kleider machen Leute„. (Siehe dazu auch: Amina – Identität und Authentizität)
Das Gelächter, das mit solchen Experimenten verbunden ist, zeugt von einer ernstzunehmenden Angelegenheit. Schon häufiger sind auf Flohmärkten die wertvollsten Kunstwerke aufgetaucht, und andersherum: die teuersten Kunstwerke müssen es sich gefallen lassen, mit Müll verwechselt zu werden.
In all diesen Fällen wird das Scheitern von Erwartungen erzählt, die sich auf das Vermögen des Genies beziehen. Und erstaunlicherweise hat das bislang noch nicht dazu geführt, die Erwartungen an das geniale Schaffensvermögen abzusenken. Im Gegenteil erscheinen diese Erschütterungen nur als das unverzichtbare Gegenstück der Verteidigung des Genie-Aberglaubens zu sein. In den neueren Plagiatsaffären wird das deutlich. Die Enttäuschungen werden auf menschliches Unvermögen, auf charakterliche Defizite zugerechnet, wodurch sie andersherum die Erwartungen an herausragende charakterliche Eigenwerte bestätigen. Es geht um das „Subjekt der Moderne„: In diesem Irrenhaus haben die Türen offensichtlich nur von einer Seite eine Klinke. Ist man erst einmal drin, führt kein Weg hinaus.
Aber das Subjekt der Moderne ist das Genie. Das Genie ist nicht ein Ausnahmephänomen, wie es gemäß seiner Selbstbeschreibung in Erscheinung treten sollte, sondern ist aufgrund seiner ganz spezifischen historischen Figuration (Norbert Elias), welche diejenigen Bedingungen der Beobachtung entzieht, durch welche diese Figuration nur zustande kommen kann, gleichsam dazu geeignet, das eine mit dem anderen zu identifizieren. Denn der Subjektbegriff kann ja nur in einer solchen historischen Situation ge- und erfunden werden, wenn das, wodurch sich diese Situation ergibt nicht auch noch mitberücksichtigt wird. Nur wenn und solange noch unverstanden bleiben konnte, woher das Subjekt seine Fähigkeiten hat, konnte soziale Realität als objektiver Gegenstand überhaupt in Erscheinung treten: Sie wird von ihm gemacht. Und wenn unter dieser Voraussetzung nach den Bedingungen dieser Möglichkeit fragt, kommt man beinahe zwangsläufig zu einer Transzendentalphilosophie, an deren Scheitern erst die Erscheinung einer soziale Welt ablesbar wird. Bevor es allerdings soweit war, galt die immer schon erbrachte Selbsttranszendierung durch welche es dem Subjekt gelingt, den Täuschungsmanövern der Wahrnehmung und der Erfahrung zu entkommen, als dasjenige, was den Menschen zu einem „Zauberwesen“ machte.
Das Subjekt ist genial. Daraus könnte die Frage resultieren, wie das Genie gerettet werden könnte, wenn es verstehen lernen muss, dass es die Bedingungen, die die soziale Welt aufdringlich stellt, nicht aus sich selbst heraus, nach eigener Maßgabe und Souveränität behandeln kann. Es könnte ihm die Ironie bleiben, die sich als ironische Ethik verstehen lernt um auf diese Weise eine Reflexionstheorie einer Moral der Selbstbefassung zu erfinden, die ihre eigene Verwicklung in den Gegenstand der Reflexion immer noch als Distanz ausdrückt, ohne sich von ihr allzuviel zu versprechen.
„Nur wenn und solange noch unverstanden bleiben konnte, woher das Subjekt seine Fähigkeiten hat, konnte soziale Realität als objektiver Gegenstand überhaupt in Erscheinung treten: Sie wird von ihm gemacht. Und wenn unter dieser Voraussetzung nach den Bedingungen dieser Möglichkeit fragt, kommt man beinahe zwangsläufig zu einer Transzendentalphilosophie, an deren Scheitern erst die Erscheinung einer soziale Welt ablesbar wird.“
Und in Gestalt ihrer zeitgenössischen Überbietung, dem radikalen Konstruktivismus, zeigt sich, wie gering die Überlebenschancen einer Transzendentalphilosophie noch sind.
Plattitüden dieser Art muss man nicht verbieten. Aber man kann es ausprobieren, wenn man will.
[…] https://differentia.wordpress.com/2011/11/11/genie-und-ironie/ via Google+ […]
@kusanowsky „Platitüden dieser Art…verbieten.“ Der Gedanke gefällt mir. Funktioniert Theorie denn nicht allein durch geschicktes Kombinieren und Kompilieren von Platitüden? Was deren Geringschützung ex negativo deutlich macht.
„Aber man kann es ausprobieren, wenn man will.“
Dass man aber, wenn man will, kann, ist dabei eben doch nicht jener von der freien Verfügung über die eigene Hervorbringungsmacht überzeugte Subjektgenialismus, der hier zurecht und treffend hinterfragt wird.
Der Aufweis einer Genese der zeitgenössischen (aber in mancherlei Hinsicht bereits wieder im Sterben liegenden) Beobachtungstheorien aus dem Fundus von Tranzendentalphilosophie und deutschem Idealismus ist für sich genommen ja noch kein Affront und sachlich kaum von der Hand zu weisen. Durch ihr Sterben hielten sie sich am Leben.
Das abendländische Wissensparadigma beginnt im platonisch-sokratischen „Wissen, dass ich nichts weiss“ mit seiner eigenen als Gewinn verbuchten Bankrotterklärung.
Ebenso ist der Faustianismus identisch mit dem Eingeständnis „Und sehe, daß wir nichts wissen können“.
Wie wäre nun das Ende eines Paradigmas zu erkennen, zu dessen programmatischen und emphatischen Leitsprüchen die Verkündung seiner eigenen Unmöglichkeit gehört?
„Daraus könnte die Frage resultieren, wie das Genie gerettet werden könnte, wenn es verstehen lernen muss, dass es die Bedingungen, die die soziale Welt aufdringlich stellt, nicht aus sich selbst heraus, nach eigener Maßgabe und Souveränität behandeln kann. Es könnte ihm die Ironie bleiben, die sich als ironische Ethik verstehen lernt um auf diese Weise einer Reflexionstheorie einer Moral der Selbstbefassung zu erfinden, die ihre eigene Verwicklung in den Gegenstand der Reflexion immer noch als Distanz ausdrückt, ohne sich von ihr allzuviel zu versprechen.“
Ich würde vermuten, das „Genie“ braucht überhaut keine reflexionsethische oder quasi-transzendentalphilosophische Rettung. Bisweilen leistet der Narzissmus hier ganze Arbeit. Und für eine selbst-ironische Geniemoral genügte Thomas Alva Edison bekanntlich der Satz: „Genie ist 1% Inspiration und 99% Transpiration.“
Bezeichnend, dass es in dem Artikel hauptsächlich um ‚Kunst-Genies‘ geht. Die Genies der technischen Erfindungen und wissenschaftlichen Entdeckungen sind in der Regel ja nicht von dieser Art des Verkannt- bzw. Relativiertwerdens bedroht. Sie werden allenfalls vom „Fortschritt“ überholt und irgendwann vielleicht vergessen. Aber man könnte sicherlich nicht mit dem selben Effekt wie die Musil-Fragmente bei „Nature“ ein pseudonymes „E=mc²“ einreichen.
Zur Beobachtung des Entzugs der (psycho-)sozialen Produktionsbedingungen eines (Kunst-)Genies übrigens immer wieder lesenswert: Klaus Theweleits „Buch der Könige“.
»Aber man könnte sicherlich nicht mit dem selben Effekt wie die Musil-Fragmente bei „Nature“ ein pseudonymes „E=mc²“ einreichen.«
Einstein ist möglicherweise nicht das beste Beispiel, denn seine Formel ist (im Gegensatz zu ihrem Verständnis) Teil der Populärkultur geworden. Ein musizierender Franz Beckenbauer wäre vermutlich aus dem einen oder anderen Grund identifiziert worden.
Das Genie – oder etwas bescheidener: der geistige Urheber – im Bereich technischer Erfindungen ist ja vor allem durch die Erfindung des Patentrechts gestärkt und selbst technisiert worden; mit dem Ergebnis, dass bloßes „Kopieren“ nur noch mit Vorsicht unternommen werden kann. Bemerkenswert scheint dabei doch die Tatsache zu sein, dass es sich bei Patenten und Patentrecht um Erfindungen (Alt-)Europas handelt – und das ist sicherlich nicht zufällig so. Eine kategoriale Unterscheidung von Kunst einerseits und Technik/Wissenschaft andererseits erscheint mir hier nicht angemessen; oder anders: die Qualität der quasi-transzendentalen Erhöhung des Originals unterscheidet sich nicht, sondern eher die Quantität ihrer kommunizierten Referenz.
[…] jemals Gerechtigkeit entstanden oder Gleichheit? Und wenn ja, wer hat das gemacht und wie? Welches geniale Vermögen besitzt ein Subjekt, das solches könnte? Und wenn man ein solches Genie identifizieren könnte, […]
@Sebastian: Ich würde einräumen, dass Einsteins Formel vielleicht nicht das beste Beispiel ist, aus dem von Dir genannten Grund (den Barthes ja auch einen „Mythos des Alltags“ nennt). Dennoch würde ich behaupten, dass die Differenz „Kunst einerseits und Technik/Wissenschaft andererseits“ in dem Zusammenhangs durchaus Sinn ergibt.
Zwar sehe ich auch den möglicherweise-oder-ganz-sicher-nicht-zufälligen Zusammenhang zwischen dem Genie-Diskurs und dem Urheberrecht. Doch haben die Produkte der Genies letzter Kategorie einen (gänzlich) anderen Status als Kunstwerke. Denn sie prägen den Alltag nicht nur der Bildungsbürger, sondern – je nach Nützlichkeit oder Beliebtheit der Erfindung: mehr oder weniger – das Leben aller Mitglieder moderner Gesellschaften.
Deswegen sind allein schon solche Experimente oder Ereignisse, wie sie Kusanowskys Artikel beschreibt, in der Form gar nicht durchführbar. Nehmen wir einmal das Beispiel Glühbirne, Aspirin und iPhone. Auch wenn man Edison und Jobs im Gegensatz zu Eichengrun besser kennt, so würde einem neben dem Pillenpatentträger Bayer auch der entsprechende Vorläufer oder Urgroßvater des Telefons Bell noch einfallen.
Entsprechende Dekontextualisierungs-Performanzen würden daher, wie Du auch schreibst, sofort als „Kopie“ wahrgenommen. Selbst wenn man davon absähe, würde das Einreichen eines Patentplagiats wohl nicht zu entsprechenden Relativierungen führen wie bei den pseudonymisierten Kunstwerken. Man würde nicht sagen „banal“ oder „unverkäuflich“, sondern „gibt’s ja schon“.
Von daher würde ich schon sagen, dass sich „die Qualität der quasi-transzendentalen Erhöhung des Originals“ im Bereich Kunst und Technik unterscheidet, nicht nur aufgrund der „Quantität ihrer kommunizierten Referenz“. Der Unterschied hat überdies nicht nur mit den ökonomisch Gründen des Urherberrechts zu tun, würde ich meinen, sondern auch etwas mit dem – in sozialen Alltagsroutinen implementierten – praktischen Gebrauch der Erfindungen.
@stromgeist:
Ich möchte auch gar nicht anzweifeln, dass Kunst und Technik in vielerlei Hinsicht sehr verschieden zu behandeln sind und es in der Regel auch sinnvoll ist, sie verschieden zu behandeln. Dennoch halte ich Kusanowskys Artikel für mehr als ein Experiment; die Tatsache, dass die Gesellschaft es sich heute leisten kann, Patentrechtsverletzungenen als Banalitäten zu prozessieren, erlaubt uns nicht, ihnen post hoc ergo propter hoc tatsächlich ein Mehr an Banalität zu attestieren. Fragt man nach der Funktion der Installation eines solchen Rechts sieht man, dass die breite Implementierung in Alltagsroutinen nur stärker zur Suche nach technisierten Lösungen des Umgangs mit dem Problem des Originals motiviert(e). Nicht zufällig schwinden daher die Differenzen zwischen den etablierten Beobachtungsschemata von Kunst und Bedarfstechnik, wenn man den Kunstmarkt beobachtet.
Die Tradition der Denunzierung der Kopie liegt historisch aber wesentlich tiefer. Ich habe das hier hier mal angerissen (Diskussion). Vielleicht interessiert Dich ein solches Gedankenspiel. Möglicherweise stößt Du dort aber auch einfach auf den Verweis auf Byung-Chul Hans „Shanzhai“ – ein bemerkenswerter kleiner Merve-Band zum Thema.
@Sebastian: Die Lektürehinweise sehe ich mir mal an, danke!
Zunächst nur zwei kurze Kommentare: 1. Ich habe nicht Kusanowskys Artikel als ein Experiment bezeichnet, sondern mich bezogen auf: „Experimente oder Ereignisse, wie sie Kusanowskys Artikel beschreibt“. 2. Den darauf folgenden Satz verstehe ich wiederum nicht: Was genau bedeutet: „Patentrechtsverletzungenen als Banalitäten zu prozessieren“?
@stromgeist
1. Alles klar. Nochmal gelesen. Mein Fehler.
2. Verunklart für: die evolutionäre Errungenschaft einer funktional differenzierten Gesellschaft, solche Streitigkeiten als Rechtsstreitigkeiten behandeln zu können. Sobald eine solche technisierte Lösung vorliegt, erscheint das Problem kultürlich lösbar (und damit ggf. „banal“).
Sind Systeme von Luhmann nicht ebenfalls als Genies konzipiert? Als Selbstgenügsame Auto-Poeten, die alles aus sich selbst schöpfen, eingesperrt in ihre Systemgrenzen, an den Bildschirm ihres Beobachtungsschemas gefesselt?