Differentia

Monat: Oktober, 2011

„Es ist alles ganz einfach…“ 2

zürück zu „Es ist alles ganz einfach…“ 1
Einer der wichtigsten Gründe für die Ausbreitung der Trollkommunikation im Internet scheint mir in einem Beobachtungsverhältnis zu liegen, das sich auf die Risiken zur Bewältigung der Ansprüche an die Fortsetzung der Kommunikation bezieht. Diese Ansprüche sind zu gleichen Teilen sehr gering und sehr hoch, abhängig davon, welche Zumutungen anfallen, die es erfordern, dass wechselseitig die Abarbeitung und Reduktion von Komplexität überhändigt wird.
Sehr gering erscheinen die Risiken deshalb zu sein

  • weil Sprachkompetenz wechselseitig zugerechnetet werden kann. Die Sprachkompetenz besteht in der einfachen Fähigkeit, die verwendete Sprache zu verstehen; und zu verstehen, dass andere sie verstehen. Dass es sich so verhält, kann man an Einwänden bemerken, die gegen die Sprachkompetenz anderer vorgebracht werden: falsche Wortwahl, falsche Begriffe, unklare und widersprüchliche Aussagen. Wichtig sind vor allem ästhetische Einwände, indem man Sprachgeschwurbel, Denglisch und Jargon-Gebrauch denunziert. Aber nicht nur diese Einwände, auch die Reaktionen auf diese Einwände, also die Kommunikationen, die Irritationen über Sprachkompetenz aufkommen lassen, zeigen deutlich, dass eine hohe Sprachkomptenz verteilt ist, welche die Annahme zulässsig macht, den noch unbekannten Folgewirkungen der Kommunikation jederzeit gewachsen zu sein.
  • weil Internetkommunikation nicht nur Alphebetisierung zur Voraussetzung hat, sondern auch die Bereitschaft, sich auf Einübungsroutinen den Schriftgebrauch betreffend einzulassen. Diese wiederum ist ein Effekt von Schulbildung, die hauptsächlich Methoden der Disziplinierung durchsetzt.
    Neben Sprachkompetenz ist also eine selbstreflexive Disziplinierungsbereitschaft Voraussetzung für erfolgreiche Reduktionsleistungen.
  • weil außer der Alphabetisierung auch eine Literalisierung durch Umgang mit Massenmedien verbreitet und eingeübt ist. Diese Literalisierung bewirkt ja nicht nur den Aufbau eines enormen Wortschatzes und Aneignung von Fremd- und Fachsprachenkenntnisse, sondern sie erzeugt auch eine Kultur des wechelseitigen Informiertseins über das verschiedene Informiertsein. Erst die Literalisierung, wie sie durch Massenmedien hervor gebracht wird, macht die Welt als eine komplexe Welt kommunikabel, in welcher jeder auf verschiedene Weise lernt, diese Kompelexität zu reduzieren, und außerdem lernt man, dass andere dies ebenfalls lernen. Dies ist keineswegs eine Banalität, auch dann nicht, wenn dies als solche erscheinen mag. Jedenfalls wäre dieser Effekt selbst ein Effekt, der durch Literalisierung entsteht. Denn erst Literalisierung macht die Beobachtung von Kontingenz wahrscheinlicher als die Beobachtung von Kongruenz. Kongruenz wird durch Literalisierung zum wahrscheinlichen Ausnahmefall, was nicht heißt, dass Erwartungen an Kongruenz gering wären. Im Gegenteil: gerade die nimmermüden Reproduktionsroutinen von Erwartungen, die Kongruenz in Aussicht stellen, zeigen, wie gering die Wahrscheinlichkeit auf Kongruenz ist und wie hoch die Rate des Scheiterns solcher Aussichten ist.
  • weil die beteiligten Körper, damit sind nicht nur die Gehirne gemeint, an der Geschwindigkeit des Ablaufs von Kommunikation so gut trainiert sind, dass sie beinahe mühelos und schmerzlos den Anforderungen gewachsen sind, auch dann, wenn die erfolgreiche Beteiligung an Kommunikation für die Körper höchst schmerzliche oder sonst wie einschränkende Folgewirkungen hat. Man denke an Bewegungsmangel, Rückenprobleme, an Kreislauf- und Konzentrationsschwierigkeiten. Oder überhaupt die Einwirkung auf die neuronale Basis des Gehirns.

All dies sind notwendige Voraussetzungen für die empirische Annahme, dass Reduktionsleistungen jederzeit erbracht werden können. Daraus ergibt sich, dass man gleichsam immer genügend Gründe findet, der Fortsetzung der Kommunikation jederzeit gewachsen zu sein.
Genauso oft werden Überforderungen beobachtet, aber – und das ist der entscheidende Punkt – diese Überforderungen werden meistens auf Strukturen zugerechnet, die sich aus dem Unvermögen anderer ergibt, welche angeblich der Kommunikation nicht nach denjenigen normativen Vorgaben folgen können, wie sie durch eine Kommunkation entstehen, die es für die Beteiligten zulässig macht, die Risiken der Fortsetzung als gering zu erachten. Das heißt: hoch komplexe soziale Systeme erbringen für Menschen, wenn nicht für das Handeln, aber wenigstens für das Erleben, gesteigerte Möglichkeiten der Entfaltung von Verstehenshorizonten, eine Art psychische Freiheit, die nur innerhalb der psychischen Grenzen ihre Entfaltung deshalb steigern kann, weil in der sozialen Umwelt zu wenig eindeutige Orientierungswerte gegeben sind. So kann es kommen, dass ein Bewusstsein seine Leistungsfähigkeit einerseits gerade dadurch steigern kann, weil es mit geringer Kongruenzwahrscheinlichkeit im Verhältnis zur sozialen Umwelt rechnen muss, aber immer dann, wenn diese Erwartung sich erfüllt, erbringt dies andererseits immer auch die Notwendigkeit einer Steigerung der psychischen Leistungsfähigkeit, welche die Grenzen ihrer Haltbarkeit immer, in jedem Augenblick auf eine Durchaltewahrscheinlichkeit testen muss. Auf dem Monitor der Kommunikation erscheint dieses Verhalten als „subjektiv“, weil für die Kommunikation nicht anders durchschaubar, und, aufgrund erfolgreicher Regelbildung, als zulässig, als rechtens und bald auch als notwendig. Damit wäre der Grund für die kommunikative Herausbildung von normativen Vorgaben formuliert: handele subjektiv, also individuell-selektiv, aber vermeide Arbitrarität. Und immer wenn dies gelingt, ereignet sich zugleich das, was durch die Vorgabe ausgeschlossen werden sollte: die Arbitrarität, also die Möglichkeit der unvollständigen Kontrollierbarkeit von Anschlussfindung, die für die Operativität von Kontextverschiebungen unverzichtbar bleibt. Würde dies nicht geschehen, würde jede Kommunikation ganz schnell aufgrund zu hoher Erwartungssicherheit zusammen brechen.
Kommt – wie bei der Interkommunikation – noch hinzu, dass einerseits die Körper verteilt vor Anschlussgeräten sitzen, welche affektiv nicht mehr auf lokale Identität und Anwesenheit anderer Körper reagieren können, und, dass Exklusionsregeln der Beteiligung noch nicht eingeführt sind, dann dürfte die Wahrscheinlichkeit der Überforderung so groß werden, dass beinahe alle Internetkommunikation als Störkommunikation auffällt, welche allerdings nicht mehr allein die Stimmung stört, sondern die Abläufe. Dies nicht zu bemerken ist nur ein Indikator für die Unerfahrenheit mit der Internetkommunikation, welche es unmöglich macht, dass normative Vorgaben noch einigermaßen anschlussfähig sind.

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Über die Empirizität der modernen Welt

Im Anschluss an die Diskussion bei autopoiet zum Artikel „contre mspro“ möchte ich einmal versuchen, ein in der Diskussion zutage getretenes Problem, nämlich die sogenannte „Krise der Buchdruckkultur“, etwas weiter aufzuspannen. Dringend und zum wiederholten Male möchte ich die Analyse der Warenform bei Karl Marx zur Lektüre empfehlen:

„Eine Ware scheint auf den ersten Blick ein selbstverständliches, triviales Ding. Ihre Analyse ergibt, daß sie ein sehr vertracktes Ding ist, voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken.“ http://www.textlog.de/kapital-fetischcharakter.html

Es lohnt sich, das in aller Ruhe zu lesen. Es geht dabei um die Frage, unter welcher Voraussetzung die bürgerliche Gelehrsamkeit die Welt versteht, die sie mit ihren Mitteln hervor bringt; und die Antwort lautet: sie versteht ihre Welt gemäß dieser Mittel, oder so: das Modell, die Theorie, die Erklärung, gemeint ist hier insbesondere ihre ökonomische Theorie, die die bürgerliche Gelehrsamkeit für die Welt erfindet, setzt sie mit der Welt gleich, die so erklärt werden soll. So verifiziert sie durch ihre Erklärungen nur ihre eigenen Unterscheidungen und scheitert damit irgendwann an der wachsenden Komplexität der Welt, die gemäß dieser Unterscheidungen als Ergebnis eines Wachstumsprozesses erfahrbar wird.
Eine wichtige Unterscheidung ist die zwischen der Privatheit der Arbeit, bzw. des Produktionsprozesses („Privatarbeit“) und die Erscheinung der Produktionsergebnisse in der Öffentlichkeit des Marktes. Von dort, also von der Öffentlichkeit aus gesehen, sind die Produkte für die bürgerliche Gelehrsamkeit „Wunderdinge“, deren Herkunft nicht anders als durch „natürliche“ Zusammenhänge erklärt werden kann. Der Grund ist einfach: Die bürgerliche Klasse unterscheidet privat/öffentlich und richtet ihre ganze Gesellschaft darauf hin ein, was bedeutet, dass der private Raum, gleichviel ob als Fabrik oder als Studierstube, öffentlich nicht zugänglich ist. In diesen privaten Räumen findet angeblich nichts Soziales statt, sprich: die „Arbeit“ findet nur in der Abgeschiedenheit statt, welche etwa durch eine Eigentumsordnung garantiert wird, die diese Unterscheidung ebenfalls benutzt, und entsprechend wird die Herkunft der Dinge, sobald die Ergebnisse durch Tausch zugänglich werden, erst in dem Augenblick der sozialen Beobachtung unterzogen, sobald sie ökonomisch relevant werden. Vorher nicht.

Daher beispielsweise die Erfindung der Urheberschaft. Irgendwo müssen die Ideen ja herkommen. So kann nur diejenige Person in Frage kommen, die öffentlich auf ihre Ideen ansprechbar ist. In ihrem privaten Raum ist sie es nicht. Was im privaten Raum stattfindet, kann sozial, bzw. ökonomisch nicht ermittelt werden; deshalb müssen dann als Erklärungsgrund die spezifischen und herausragenden Fähigkeiten von Menschen reichen. Daher erklären sich die Schwierigkeiten bei Urheberrechtsstreitigkeiten, die dadurch entstehen, dass niemand genau beweisen kann, was im privaten Raum geschehen ist: das Geschehen dort ist für den bürgerlichen Juristen nicht sozial beobachtbar.
Und weil die bürgerliche Gelehrsamkeit keine andere Möglichkeit der Erklärung hat, müssen für die zu erklärenden Phänomene „fantastische“ Erklärungsgründe gefunden werden, die als „natürlich“ erscheinen müssen, damit man sie als empirische Realität behandeln kann.
So erfindet die Gelehrsamkeit Personen, Erfinder, Urheber, Genies, aber auch Begriffe von Natur, Gesetz und Vernunft, welche sowohl als Erkenntnismittel verwendet werden, um die Welt erklären zu können, welche aber selbst in den Erklärungsgründen hineingeschrieben und dann re-verifizierend durch Verbreitung sozial abgerufen werden. So ensteht für die Gelehrsamkeit Theorie und Gegenstand durch den gleichen Schöpfungsprozess, der maßgeblich die Unterscheidung privat/öffentlich reflektiert, ohne die Reflexion gleichwohl durchrechnen zu können. Das geht nicht, weil die Hälfte der Welt privat verbleibt.
Was wir nun unter dem Stichwort „Krise der Buchdruckgesellschaft“ diskutieren möchten ist nichts anderes als das, was mit der Industrialisierung passiert ist: die bürgerliche Welt geriet seitdem aus den Fugen, weil mit Arbeitsteilung und serieller Produktion alles, aber auch wirklich alles in dieses Schema hinein genötigt wird. Und weil kein Ausweichen möglich ist, geht der Prozess in die immer komplexer werdende Differenzierung. Und diese Komplexität ist nunmehr „unser“ gegenwärtiges Ausgangsproblem geworden. Wir sind die Erben dieses Prozess und fragen uns unter veränderten Bedingungen, wie wie damit zurecht kommen sollen.
Und immer noch – so könnte man sagen – verwenden wir die Schemate der bürgerlichen Gelehrsamkeit, wenn wir danach fragen, wie diese Komplexität möglich geworden ist, wo sie her kommt, wie sie entstehen konnte. Allerdings, so müsste man hinzufügen, haben wir enorm schlechte Chancen, diese Unterscheidungen, dies gilt insbesondere auch für die Unterscheidung „privat/öffentlich“, noch durchzuhalten und durchzusetzen. Bündig formuliert: möglicherweise können wir bald aus dem Scheitern klug zu werden, aber das geht erst, wenn die sozialen Kapazitätern für den Aufbau weiterer Komplexität vollständig überlastet sind. Sind sie es schon? Ich vermute: noch nicht.
Erkennen kann man dies beispielsweise an der aktuellen Diskussion bei @autopoiet.

Diese Diskussion, ihr Anlass, ihr Gegenstand und das Verfahren, durch das sie betrieben wird, scheint von Subjekten geprägt, die sich in der Diskussion der Kritik aussetzen und auf diese Weise die Diskussion fortsetzen: man betreibt Kritik und Gegenkritik. Aber woher kommt das zu diskutierende Problem? Gewiss würde man sagen: durch die Fortsetzung der Kommunikation. Aber schaut man darauf, wie sich Kritik und Gegenkritik rechtfertigen, wie sie also durch Kommunikation als gerechtfertigt erscheinen, dann stellt man fest, dass die Kritik langsam ihre Überzeugungskraft verliert, weil die die Plausbilität der Gründe zerfällt.
So schreibt autopoiet über einen Artikel von mspro bei Telepolis: Es handelte sich um

eine schräge aber lesenswerte Bricolage, die so oder ähnlich sicherlich schon das eine oder andere Mal als Blog-Artikel aus der Feder Seemanns zu lesen war. Das alles wäre nicht weiter bemerkens– oder beklagenswert, würde der Autor in sei­nem Artikel nicht mit großer Geste elementare Erkenntnisse ambitionierterer Forschung zur Computergesellschaft … beiseite wischen und durch eine Form von Text ersetzen, die zwischen Deskription und Normativität oszilliert, an entscheidenden Stellen kategorial fehlerhaft ist und … übermäßige Textlektüre zweifelhaft erscheinen lässt. In dieser kurzen Antwort möchte ich den Artikel nicht en détail kritisieren, dafür ist er in weiten Teilen auch zu assozia­tiv.

Die Begründung ist beeindruckend: sie reflektiert ihre unzureichende Überzeugungskraft, ohne rhetorisch auf Kritik zu verzichten. Und man kann feststellen, dass in der Gegenkritik eine ähnliche Position formuliert wird:

Zunächst: der Text — das ist richtig — war nicht als wissenschaftlicher Text, vielleicht sogar als betont unwissenschaftlicher, zumindest als kühner, utopischer Spinnertext gedacht. Es war schließlich ein Vortrag auf der Open­mind, wo es — nach meiner Interpretation — um das möglichst frei Herumspinnen geht.

Interessant ist hier, wie sich eine Regel einzuspielen beginnt, die es zulässig macht, dass trotz aller Defizite, die sowohl da als auch dort eingestanden werden, die kritische Diskussion fortgesetzt wird. Für den „genialen Urheber“ des 19. Jahrunderts, was gewiss auch noch für manches trivial-faustische Genie dieser Tage gelten dürfte, wären solche Argumente höchst unerträglich: sie fangen an, sich gegenseitig auf Spinnerei zu einigen. (Siehe dazu: „Der Umgang mit Verbreitungsmedien zerstört die Grundlage, durch welche sich Verbreitungsmedien als anwendbar bewähren können.“ Die Zerrüttung der Dokumentform)
Was fehlt eigentlich noch, um den Gegenstand der Kritik verschwinden zu lassen? Denn der Gegenstand der Kritik ist ja hier die Meinung des anderen. Die Vermutung muss natürlich lauten, dass der Gegenstand verschwindet, wenn die Meinung des anderen verschwindet. Aber wie könnte das geschehen? Durch die Zerstörung der Entstehungsbedingung, welche die Herstellung von Meinung als subjektiven Prozess versteht, der sozial unzugänglich ist: gemeint ist damit der private Raum.
So ist es ein ganz normaler Treppenwitz, dass jemand wie mspro, der eine versponnene „post-privacy“-Utopie verbreiten will, nichts andere kann als die Bedingungen zu ignorieren, durch die der private Raum der Ideenfindung verloren gehen könnte. Man könnte ja gleich dazu übergehen, Texte kollaborativ, assoziativ und öffentlich zu schreiben. Da aber niemand wissen kann wie das geht, muss immer noch Kontra gegeben werden, wenn irgendjemand Pro sagt.

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