„Identitätsdienst“ – Beobachtung der Fremdwerdung der Gesellschaft
von Kusanowsky
Bei Facebook konnte man einmal lesen, Facebook helfe einem dabei, Freunde zu finden, was vielleicht tatsächlich daran liegen kann, dass in manchen Gegenden der Bevölkerung keine anderen Probleme mehr zu finden sind, bei deren Lösung man die Hilfe anderer braucht. Normalerweise braucht man Freunde, um Freunde zu finden. Wenn das nicht mehr geht, weil man keine Freunde hat, braucht man Facebook.
In einer Gesellschaft, in der sich die Wertschätzung des Individuums in der Weise zeigt, dass Autonomie und Selbstbestimmung von größter Wichtigkeit sind, kann es nicht überraschen, wenn man feststellt, dass es gleichzeitig keine Chance gibt, auch nur ein geringes Maß an individueller Autonomie zu garantieren. Das zeigt sich darin, dass nichts mehr gibt, was ein Individuum allein bewerkstelligen könnte. Wenn man zur Aufrechterhaltung der vitalen Organfunktion auf eine ganze Gesellschaft angewiesen ist, die das sicher stellen kann, kann es auch nicht wundern, wenn man schließlich sogar noch Sterbehilfe braucht. Das ist durchaus logisch. Wenn die Fortsetzung des Lebens bis über alle Grenzen des leiblich möglichen hinaus garantiert ist, wie könnte man noch sterben? Nicht nur allein weiter leben kann man nicht, man kann nicht einmal allein sterben.
Die Wertschätzung der Autonomie steht im krassestem Gegensatz zu den Chancen der Verwirklichung derselben. Dies nicht zu bemerken oder, wenn doch, dies mit allerlei Ausflüchten zu kommentieren, und ein „jetzt-erst-recht“ oder ein trotziges „dennoch“ zu wagen hieße, sich auf Weltfremdheit festzulegen. Und diese Weltfremdheit ist keine Ausnahmebeobachtung, kein seltener Fall von kognitiver Dissonanz, sondern eher der Normalfall einer Gesellschaft, die lernen muss, dass stets anderes die Bedeutung von Bedeutung hervorbringt, dass also alle Bedeutsamkeit fremdreferenziert erfahrbar wird. Eine Gesellschaft, die das Überlebensrecht unverbindlich, weil unadressierbar als Menschenrecht behauptet, kann schließlich nichts anderes und besseres hervorbringen als den Versuch zu wagen, die Unbedingheit des Daseins für andere mit aller Macht durchzusetzen, weil keine ansprechbare Adresse auffindbar ist, die herstellen sollte, was jeder braucht. Stattdessen müssen dies alle für andere tun; und die liberalistische Hoffnung, dass damit am Ende allen gedient wäre, steht als Weltfremdheitserfahrung an der Wiege dieser Ideologie.
Für andere zu arbeiten, anderen zu helfen und zu dienen, sich für das Wohl anderer zu engagieren, ja schließlich sogar nicht nur Menschen, sondern dem Leben überhaupt, der Natur Rechte zuzusprechen, deren Garantie nur durch das gleiche adressenlose Engagement möglich scheint, ist der Gipfelpunkt dessen, was bei Marx noch „Entfremdung“ genannt wurde. Nur naive marxistische Humanisten würden in der Umweltverschmutzung und Vergiftung die Entfremdung des Menschen von der Natur und sich selbst erkennen. Vielmehr ist auch die nichtadressierbare Natur, die sich keinen Deut um Menschen kümmert, sofern sie als Gegenstand des Moralisierens genommen und welcher Schutzbedürftigkeit unterstellt wird, nur ein weiterer Gegenstand, an dem sich das weltfremde Engagement des verzweifelten Subjekts heftet, um sich auf diese Weise seufzend von seiner eigenen Hilflosigkeit zu distanzieren, sich so zu entfremden, dass schließlich auch noch die Entfremdung selbst als Menschenrecht, ja schließlich als Humanismus verbrämt, zur Menschenpflicht degeneriert.
Welchen Aufwand müsste eine Gesellschaft erbringen, die anfängt, diese Weltfremdheit als merkwürdig und seltsam verstehbar zu machen? Dieser Aufwand dürfte kaum zu überschätzen sein, reichen doch alltäglich massenweise anfallende Beobachtungen nicht aus, um die Weltfremdheit der modernen Welt fremd werden zu lassen. Eine wie tausend andere unbedeutende Beobachtung besteht in der Bemerkung von Eric Schmidt, bei Google Plus handele es sich um einen „Identitätsdienst“.
Auf diesem Planeten fällt es ganz leicht tausend verschiedene Meinung darüber äußern, was damit gemeint sein könnte. Identitäsdienst? Und genauso schnell könnte man meinen, dass entweder jede Meinung zutrifft oder keine.
Aber wie weit müsste ein Planet von diesem hier entfernt sein, auf dem es die größten Schwierigkeiten bereitet, darüber auch nur nachdenken zu können? Was soll man dazu sagen? Was wird da angeboten und was wird gebraucht? Und hat so ein Identitätsdienst überhaupt noch irgendetwas zu tun mit einem Verhältnis von Angebot und Nachfrage? Was wird damit als Verständigkeit noch unterstellt? Und ich vermute, dass am Ende nur noch eine Zumtung bleibt, die darin besteht, sich von diesem Planeten so weit als möglich zu entfernen, um ihm auf diese Weise näher zu kommen.
Welt am Sonntag: Interessieren Sie sich für Facebook?
Friedrich Kittler: Nein, damit habe ich nun wirklich nichts am Hut. Ich habe das unheimliche Gefühl, dass die Leute derart unwichtig geworden sind für die, die herrschen und wirtschaften, dass die Selbstdarstellung ihre letzte Rettung ist. Als ich das erste Mal in Kalifornien ankam und die Telegraph Avenue in Berkeley in Richtung Campus hochging, da kam ich an einer Spielwiese vorbei, auf der lauter Selbstdarsteller herumliefen. Leute, die sich als Harlekin verkleideten, bettelten oder kifften. Als ich dann den Campus betrat und die Leuten dort anschaute, schlugen sie die Augen nieder. Entweder sind die Menschen völlig depressiv, oder sie veranstalten eine riesige Selbstdarstellung und telefonieren im Zugrestaurant.
http://www.welt.de/print/wams/kultur/article12385926/Wir-haben-nur-uns-selber-um-daraus-zu-schoepfen.html
[…] eine Entfremdung 2.0, die da Klaus Kusanowsky mit Gewährsmann Marx vor Augen […]
[…] notwendig. Dieser Diskursbedarf macht jedoch nicht vor den Mauern von Unternehmen halt. (Einen interessanten Gedankengang gibt es dazu auch im “Differentia”-Blog von Klaus Kusanowsky und bei Netzpolitik findet […]
[…] nicht. Wie auch immer, es wird beobachtbar, dass es darauf bald nicht mehr ankommt, und zwar durch Übertreibungsmaßnahmen, wie sie etwa im Klarnamensgebot von Google zum Ausdruck kommen. Das Kennzeichen dieser […]
[…] erzeugen, zur Zwecken der kommerziellen Auswertung speichert. Offensichtlich kann ein Identitätsdienst wie Facebook auf Massenmedien noch nicht verzichten, weshalb es auch nicht wundert, dass es […]
[…] von Körperidentität. Wenn sich also Identitätskonzepte retten wollen, die so etwas die „echte Menschen“ kommunikativ beibehalten wollen, so haben sie auf der Basis von Internetkommunikation eine […]
Das Anliegen dieses Artikel ist nicht klar verstehbar. Manchmal glaube ich, dass erst, wenn die ganze Gesellschaft, von jedem einzelnen, unverstanden bleibt, wieder Klarheit in die Sache kommen kann. Wäre auch noch nicht das letzte Wort in eine Hieroglyphen verwandelt, so befinden wir uns immer noch auf dem steinigen, mit Stolpergefahr gepflasterten Weg. Alles muss unverstanden und fremd werden, alles muss rätselhaft und seltsam wirken. Solange noch irgendwer sich zutraut, über die Ereignisse auch nur ein verständiges Wort zu äußern, solange geht alles wieder auf Anfang zurück. Es ist wie in einem perfekten Konzert: ein einziger, unangebrachter, schräger Ton versaut das ganze Erlebnis. Es muss solange geübt werden bis alles stimmt, bis – wie Fall der modernen Gesellschaft – gar nichts mehr stimmt.
„Identitätsdienst?“ — Streng genommen muss man optimistisch werden, wenn auf der Chefetage des erfolgreichsten Konzerns aller Zeiten die Trolle und Nonsense-Quatscher den Ton angeben.
„wenn auf der Chefetage des erfolgreichsten Konzerns aller Zeiten die Trolle und Nonsense-Quatscher den Ton angeben.“ – Darum geht es im wesentlichen, obwohl ich selbst keinen Grund zum Optimismus finde. „Identitätsdienst“ Diesem Begriff merkt man an, dass auch noch versucht wird, die Problemvermeidung durch das Internet fortzusetzen, obschon man doch eigentlich erkennen kann, dass dies durch das Internet gar nicht mehr geht, macht es doch deutlich, was gar nicht mehr gebraucht wird, nämlich: ein Identitätsdienst. Diese Aufgabe, so könnte man salopp sagen, wurde tradtionell von der Staatsbürokratie übernommen. Und jetzt schickt ein Konzern sich an, die Internettrolle mit einem Identitätsdienst zu versorgen? Vielleicht deshalb, weil der Staat selbst anfangt, seine Identitätskontrolle nicht mehr einzuhalten? Ich denke dabei an die Probleme des Verfassungsschutzes, der von Verfassungsgegnern durchgeführt wird. Wer kann das eine noch vom anderen klar unterscheiden?
Ist der Verfassungsschutz verfassungsfeindlich?
Nachdem neulich mit der Staatstrojaner-Affäre in Erfahrung gebracht wurde, dass die staatliche Sicherheit selbst riskant wird, wird nun in Erfahrung gebracht, dass der Staat seinen Verfassungsschutz aus dem gleichen Grund nicht verbieten kann, aus welchem die NPD nicht zu verbieten ist: der Staat, namentlich die V-Leute des Verfassungsschutzes, ist in den Gegenstand seiner Beobachtung verwickelt …
https://differentia.wordpress.com/2011/11/17/ist-der-verfassungsschutz-verfassungsfeindlich/
[…] aus: Identitätsdienst – Beobachtung der Fremdwerdung der Gesellschaft: “… Für andere zu arbeiten, anderen zu helfen und zu dienen, sich für das Wohl […]