Zum Verhältnis von Anonymität und Pseudonymität in der Internetkommunikation
von Kusanowsky
Anonymität und Pseudonymität werden in der Internetkommunikation mit hoher Wertschätzung bedacht. Wodurch begründet sich der Wert der Anonymität, wenn man annimmt, dass die Internetkommunikation eine eindeutige Identitätszurechnung fraglich werden lässt?
Für alle Identitätskonstruktionen gilt, dass verschiedene Systeme verschiedenes darüber wissen wollen und nur verschiedenes darüber wissen können. Das gilt streng genommen auch für einen Orwellschen Beobachter wie Facebook oder Google, der, sollte er alle Daten kennen, keine Relevanzkriterien findet, nach welchen er die Daten sortieren und organisieren könnte. Ein vollständiges Orwellsches Beobachtungssystem wäre in einer symmetrischen Struktur gefangen, die keine Selektionserwartung zulässt. (Buridans Esel)
Das heißt, dass auch ein Orwellscher Beobachter einem Selektionszwang ausgesetzt ist, und er lässt sich wie alle anderen auch, auf selbsterzeugte Beobachtungsdefizite ein, womit prinzipiell ein Schlupfloch vorhanden ist, um unzumutbaren Zudringlichkeiten eines Orwellschen Beobachters zu entkommen. Genau darin bestehen die Irritationen um das Verbot von pseudonymen Accounts bei Google und Facebook. Ein Orwellsches Beobachtungssystem ist den Dämonien des Internets auf gleiche Weise ausgeliefert, nicht zuletzt deshalb, da sie auch durch jenes Beobachtungssystem miterzeugt werden.
Deshalb könnte man noch einmal die Frage aufwerfen, wie man im Internet anonym bleiben kann, wenn innnerhalb eines Interaktionsgeschehens zwischen Abwesenden Ansprechbarkeit und Erreichbarkeit für das Wiederauffinden von Gesprächspartnern unverzichtbar sind und im Verlauf Strukturbildungen hervorrufen, die sehr wohl Vertrautheit, Bekanntheit und Erwartungsicherheit ermöglichen? Man könnte antworten, dass Anonymität jederzeit garantiert, sich solchen Strukturzusammenhängen durch Selbstzerstörung aller Responsibilität zu entziehen. Das stimmt gewiss. Aber ist Anonymität eine Voraussetzung oder ein Folge solcher Kommunikationsabbrüche? Denn zunächst macht es für die Entfaltung von solchen Referenzstrukturen keinen Unterschied ob diese doppelt kontingent durch beiderseitige Anonymitätsgarantien zustande kommen oder nicht. Klar ist jedenfalls , dass die Unwahrscheinlichkeit des Gelingens von Kommunikation u.a bedingt ist durch die Unwahrscheinlichkeit des Auffindens von Adressen, was bedeutet, dass, wenn Kommunikation gelingt, Adressen selbst Ergebnisse von Kommunikation darstellen, die, wie alle anderen Ergebnisse auch, Beobachtungsdefizite zulassen.
Das Problem der Adressierbarkeit auf der Beobachtungsebene erster Ordnung kann dort also nicht vorkommen. Denn entweder es klappt oder nicht. Auf der Ebene erster Ordnung ist keine Irritation darüber möglich, dass die Kommunikation weiter geht. Gleiches gilt auch für die Zurechenbarkeit von Kommunikation.
Erst wenn Zurechnungsinstanzen, die Rückverfolgung z.B. durch eine Suchmaschine zulassen, durch die Kommunikation reflexiv behandelt werden kann, wird die Adresse zu einem irritierenden Problem, weil damit Unvollständigkeit die Irritierbarkeit steigert. Und erst, wenn auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung nicht nur genügend Irritierbarkeit, sondern auch regelmäßige Irritationsroutinen möglich sind, um Kohärenz sicher zu stellen, kann das vorkommen, woran ein Orwellscher Beoachter immer scheitert, nämlich an der Frage: wer spricht, schreibt, wer schweigt da eigentlich?
Interessant ist, dass alle anderen Beteiligten diese Frage im Normalfall gar nicht genau beantworten müssen, weil sie durch Beobachtung des Orwellschen Beobachters bereits beantwortet wurde, indem man sich – anders als der Orwellsche Beobachter – damit begnügen kann, nicht genau zu wissen zu müssen, mit wem man es zu tun hat. Das heisst letztlich, dass Adressen, wenn auch unverzichtbar, auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung der Beobachtung entzogen werden können ohne, dass die Kommunikation zusammenbricht. Wer weiß schon, wer hier schreibt? Wenn man es weiß, was tut das zur Sache? Und wenn man es nicht weiß, was wüsste man dann nicht? Gewöhnlich würde man meinen, dass sich Adressen in Interaktionszusammenhängen durch ihren Gebrauch stabilisieren. Das ist im Normalfall sicher richtig, aber was sich in diesem hier zu diskutiereden Fall stabilisiert ist die Irritation über die Adressierbarkeit einer jeden Gesprächsofferte ob des Umstands, dass Adressen nicht eindeutig identifiziert werden müssen, um das Gespräch fortzusetzen.
Und die interessante Frage ist, was passiert, wenn dieser Umstand offenbar wird, wenn also erkannt wird, dass Adressen, wie unverzichtbar sie für eine gelingende Kommunikation auch immer sein mögen, kein entscheidendes Irritationsproblem sind.
Eine Adresse ist eine spezifische kommunikative Struktur; sie ist eine Bündelung und Führung von Störanfälligkeit und Anfallsstörrigkeit. Eine Adresse fungiert wie eine elastische strukturierte Erwartungswolke, die mit einem Namen, gleichviel ob Personennamen oder Namen von Unternehmen oder auch Staaten verküpft wird. Spezifischer formuliert könnte man sagen, dass Adressen strukturelle Knotenelemente im Verweisungsnetzwerk der Kommunikation sind, die gleichsam als Schaltpunkte gebraucht werden, um Komplexität hin und her zu schaufeln. Allgemein könnte man Adressen als Links ansehen, die sich nur durch ihre Benutzung selbst konstruieren und nur für die Dauer ihrer Benutzung stabil sind.
Für ein Wechselverhälnits von Anoymität und Pseudonymität spielt die Verwendung von Adressen in der internetkommunikation eine wichtige Rolle. Man könnte das an einem Beispiel so erklären: Für anonyme und pseudonyme Beobachter gilt zunächst das selbe. Von Anonymus X wird erwartet, eine bestimmte Rolle zu spielen, und von Pseudonymus Y auch. Beide werden als Adressen konstruiert und als Anziehungspunkte in Anspruch genommen. In dieser Hinsicht gilt: Adresse ist Adresse. Es ist aber zu bemerken, dass Adressen, wenn auch unverzichtbar, auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung der Beobachtung entzogen werden können ohne, dass die Kommunikation zusammenbricht, indem im Beobachtungsgeschehen das Verhältnis von Anoymität und Pseudonymität gewechselt wird. Anonymität und Pseudonymität entstehen an der Wechselstelle paradoxiengenerierender Beobachter, die sich mit ihren eigenen Unterscheidungen nicht beobachten können. Der Anonymus X unterscheidet bekannt/unbekannt und macht sich entsprechend als Unbekannter bekannt. Deshalb kann er nicht sagen, wer er ist. Dem steht natürlich nicht entgegen, dass unterschiedliche Beobachtungssysteme anhand unterschiedlicher Referenzen Identitätsaussagen machen, deren Warheitsgehalt woanders nicht bezweifelt wird. Entscheidend ist hier aber der Beobachtungsstandpunkt desjenigen, der als Anonymus in Erscheinung tritt, indem er als Unbekannter bekannt wird. Ähnlich verhält es sich mit einem Pseudonymus nur mit dem Unterschied, dass hier der Unterschied von Identität und Alterität die Adressabilität sicherstellt.
Werden nun der Pseudonymus und der Anonymus als Adressen ansprechbar, dann kann ein Orwellscher Beobachter innerhalb aller ablaufenden Kommunikationen durch Benutzung der zugeordneten Unterschiede nicht nur nicht sagen, mit welcher Identität er es zu tun hat, sondern auch nicht, wo er sie wiederfindet, weil er nur auf der ersten Beobachtungsebene operieren kann. Ein möglicher Einwand wäre, dass doch eigentlich das Wiederfinden die Adresse stabilisiert, was zugegebenermaßen richtig ist; aber sie zerfällt sofort, wenn die Unterschiede auf der zweiten Ordnungsebene wiederholt werden. Für Systembeobachtungen, die es unter dieser Voraussetzung mit einem Orwellschen Beobachter zu tun haben, würde sich in der Folge ergeben, dass man es mit einem Dauerzerfall adressierbarer Operationen zu tun hat, die praktisch nirgendwo ankommen, weil die Adressaten keinen Grund finden, sich zu suchen. Sie können sich als immer schon für einander identifiziert betrachten. Für einen Orwellschen Beobachter erscheinen die Adressen dauerstabil zu sein, aber diese Illusion ist das Schlupfloch der Internetnutzer, indem sie durch Verkehrung ihrer Ansprechbarkeit von Anoymität auf Pseudonymität sowohl für einander als auch für den Orwellschen Beobachter stets niemals dort sind wo sie vermutet werden.
Der Orwellsche Beobachter ist damit seinen eigen Dämonien hilflos ausgesetzt und versucht daher, seine durch ihn in Gang gesetzte dämonische Gewalt zu ignorieren, indem er auf bekannte und entwickelte Verbots- und Sperrverfügungen zurückgreift, von welchen er selbst wissen kann, dass sie nicht durchgehalten werden können.
Finde ich interessant. Ich frage mich aber, ob man Pseudonymität und Adressabilität auf die Weise gleichsetzen kann. Anonymität bezieht sich ja (nur) auf einen Namen. Es ist ein prominenter Fall von Adressierungsmöglichkeiten. Auf einer praxisnäheren Ebene, etwa zum Thema Google+, wäre es bestimmt sinnstiftend, genauer zwischen Adressabilität an sich und darüber hinausgehendes Bekanntsein der Adresse zu unterscheiden.
Die Frage wäre, ob konstruktive Kommunikation, also Kommunikation die nicht ständig ihre Adressen verliert, möglich wäre, auch wenn die Adresse einander unbekannt bleiben. Die „online social networks“ zeichnen sich ja dadurch aus, dass sie eben dieses unadressierte Hineinrufen motivieren. Aber ganz so verloren, wie es sich anhört, ist man ja dann doch nicht. (Oder doch?)
Zunächst geht es nicht um Gleichsetzung von Anonymität und Pseudonymität, sondern um ihre Unterscheidung. Anonymität entsteht durch eine Differenz von bekannt/unbekannt, Pseudonymität durch eine Differenz von Identiät und Alterität. Und es geht in beiden Fällen nicht um Namen, sondern um Adressen. Anonymität versucht – durchaus riskant – alle Adressabilität durch Negation von Responsibilität zu vermeiden (bekannter Fall im Straßenverkehr: unerlaubtes Entfernen des Fahrers vom Unfallort), Pseudonymität versucht dagegen, genauso riskant, Ansprechbarkeit durch Differenzen der Erreichbarkeit zu unterbrechen und alle Ansprechbarkeit für Wechselfälle der Kommunikation zu reservieren, bestes Beispiel: Spionage, Gegenspionage und Doppelspionage. Google hat hier eigentlich kein Problem mit Anonymität, weil der Internetuser durch seinen Account nicht anonym bleiben kann, der Algorithmus verhindert das. Allerdings können sich Internetuser durch Pseudonymisierung einer Responsibilität gegenüber einem Orwellschen Beobachter entziehen. Dieser will und muss wissen, mit wem er es zu tun hat, die Benutzer müssen dies nicht in gleicher Weise. Daher wird beispielweise auch den Nutzern keinen Zugriff auf den Algorithmus gewährt, er bleibt geheim und verschlüsselt, weil er eine mathematisch errechnete Idenität ist. Durch Pseudonymisierung können sich die Nutzer daher eine Art Anonymitätsfreiraum gegenüber ihrem Algorithmus verschaffen, etwa durch Doppelacccounts oder dadurch, dass man seinen Account an eine andere Person weitergibt, die durch andere Gewohnheiten den Algorithmus durchkreuzt. Entscheidend für solche Dinge ist die Prominenz von Adressen und ihre Konnektivität außerhalb des Zugriffs eines Orwellschen Beobachtungssystem.
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