Das Internet ist kein Massenmedium, Interview mit Niklas Luhmann 1997
von Kusanowsky
Herr Luhmann, wie beurteilen Sie die zukünftige Entwicklung der Massenmedien?
Niklas Luhmann: Wenn man Massenmedien definiert als eine technisch einseitige Kommunikation, dann sehe ich nichts, was sich wesentlich ändern könnte. Für Massenmedien selber werden die aktuellen technischen Innovationen wie das Internet oder individuell wählbare Informationen wenig Bedeutung haben. Sie werden sich neben Massenmedien wie Tageszeitungen oder auch das Fernsehen setzen, sie jedoch nicht verdrängen. Das Internet mit seinen Kommunikationsmöglichkeiten ist auch, wenn es massenhaft als Medium genutzt wird, kein Massenmedium, denn es ist ja gerade keine einseitige technische Kommunikation, sondern kann individuell genutzt werden. Die Sorge, dass neue Medien die traditionellen ersetzen, ist so alt wie unbegründet: Die Schrift hat die mündliche Weitergabe nicht verdrängt und die Presse auch nicht den Brief.
Auszug aus einem Interview mit Niklas Luhmann, 1997. Das ganze Interview hier.
Das finde ich ja in zweierlei Hinischt interessant:
„Das Internet mit seinen Kommunikationsmöglichkeiten ist auch, wenn es massenhaft als Medium genutzt wird, kein Massenmedium, denn es ist ja gerade keine einseitige technische Kommunikation, sondern kann individuell genutzt werden.“
Reich technisch die Frage: Kann Luhmann das ausschließen, wenn er die These nur mit einer „Kann“-Argumentation stützt. Kann, muss aber nicht individuell genutzt werden – oder meint er etwas anderes?
Zweitens: Kann Luhmann ausschließen, dass sich die „alten“ (Massen-)Medien selbst so verändern, dass sie ihre alte Funktion einfach aufgeben. Sozusagen als Paradigmenwechsel-Sache? Abschied der Massenmedien vom Massenmedium.
Nun weiß ich nicht, was Luhmann geanwortet hätte, aber vermutlich – und man muss ja sehen, dass das Interview von 1997 ist – könnte man diese Frage evolutionstheoretisch beantworten, indem man annimmt, dass die Evolution alles behält und unter veränderten Bedingungen weiter verwendet. Zurück liegend hatte ich das hier ansatzweise aufgeschrieben.
Zunächst zur Frage, was die „Kann“-Bestimmung angeht: tatsächlich könnte man sagen: noch kann man als Rezipient stumm und anonym verbleiben. Man liest, betrachtet nur, was woanders mitgeteilt wird. Aber: sobald alle Anschlussfindung durch Inter-Vernetzung hergestellt wird, muss man Internet benutzen, um etwa Formulare an Behörden zu schicken, Rechnungen zu bezahlen, Bestellungen aufzugeben usw. Sobald diese Inter-Vernetzung abgeschlossen ist kann man darauf nicht mehr verzichten. Das Internet macht sich wie alle anderen Techniken auch imperial durchsetzungsfähig. Man kann nicht mehr, man muss.
Für die Massenmedien würde ich annehmen, dass sich sich unter den Bedingungen einer Inter-Vernetzung weiter verwendbar machen, z.B durch Facebook-Fernsehen. Die Struktur (one to many) bleibt erhalten unter der Bedingungen einer simultanen Begleitkommunikation durch Netzwerke. Als Beispiel stelle ich mir ein Fußball spiel vor. Diese Sendung für alle das gleiche laufende Bild zeigen, aber innerhalb einer Netzwerkdifferenzierung unterschiedliche Kommentare.
Als Massenmedien bezeichne ich Zeitungen, Radio, Fernsehen, usw., also journalistische Artefakte, die funktional zwischen einer Redaktion und einem Publikum vermitteln, indem sie Signale vermitteln, die als Schrift, Bild oder Ton usw. interpretiert werden.
Anmerkung:
Der Ausdruck „Massenmedium“ wird im Alltag ziemlich diffus verwendet, da der Ausdruck eher als Eigenname für „das Informieren von Massen“ fungiert. So kann man anhand einer Vereinszeitung oder anhand eines Theater darüber nachdenken, ob Bedingungen wie: an eine unbestimmte (weder eindeutig festgelegte, noch quantitativ begrenzte) Zahl von Menschen und somit öffentlich an ein anonymes, räumlich verstreutes Publikum gerichtet sinnvoll sind.
Mein Begriff „Massenmedium“ ist auf einer anderen Ebene diffus: „Zeitung“ steht sowohl für das Exemplar, das ich im Briefkasten habe wie auch für das Unternehmen, zu welchem die Redaktion gehört. Radio und TV sind noch komplizierter. Ich sehe aber von all dem ab, und verwende die Redaktion als Kriterium. Wenn sich eine Redaktion bildet, produziert sie ein Massenmedium.
Das Internet sprengt das Konzept eines Massenmediums, weil es von Massenmedien genutzt wird. Das Internet ist – in der hier gewählten Hinsicht – kein Massenmedium, weil es kein Redaktion hat (und eben nicht, weil es keine „Masse“ bedienen würde).
Noch mehr Erläuterung:
Der Briefträger ist kein (Massen)medium, er transportiert – wenn er Zeitungen bringt – ein Massenmedium. Der Radio(empfangs)apparat gehört zum Massenmedium Radio, weil ich ihn wie die Zeitung verwende, wenn ich mich von der Redaktion informieren lassen will.
Ich verstehe. Was mich ja simpel erstaunt hat, ist, wie simpel die Rechnung aufgemacht ist. Es wird eine Voraussetzung beschrieben („Wenn man Massenmedien definiert als eine technisch einseitige Kommunikation …“) und dann kommt hinten natürlich nur das heraus, was unter dieser Bedingung stimmt bzw. ausgeschlossen werden kann. Dass es sich um das Jahr 1997 handelt, finde ich nicht so entscheidend.
Die erste Frage wäre für mich, ob es nach dieser Definition überhaupt Massenmedien gibt? Die Medien kommunizieren ja auch untereinander, wenn auch eher implizit. So wie bei dir im Facebook-Fernsehen-Beispiel.
Viele der Phänomene gibt es auch schon länger, wie „Offene Kanäle“ und „Freien Radios“ im Funk.
Interessant finde ich es, wenn du sagst: „Sobald diese Inter-Vernetzung abgeschlossen ist kann man darauf nicht mehr verzichten. Das Internet macht sich wie alle anderen Techniken auch imperial durchsetzungsfähig. Man kann nicht mehr, man muss.“ Ja. Ich überlege, auf welche Sphären das nicht zutrifft und spontan fällt mir ein: Kunst – jedenfalls zum größten Teil. Vielleicht sehe ich das aber auch falsch.
Noch ein Punkt. Was mich etwas bei Luhmann hier staunen lässt, ist, welchen Begriff er von Technik hat und wie er ihn verwendet. (technisch einseitige Kommunikation [Massenmedium] vs. individuelle Nutzung [Internet]). Ich bekomme das so einfach nicht auf eine logische Linie. Aber ich bin ja auch kein Fach- für Luhmann 😉
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