Die Erfahrbarkeit der Theorie. Überlegungen zu einem Essay von Peter Fuchs #systemtheorie

von Kusanowsky

Auf der Seite http://www.fen.ch/index_system.html ist bereits Anfang Mai ein Kurzessay mit dem Titel: „Die Unbeeindruckbarkeit der Gesellschaft – Ein Essay zur Kritikabilität sozialer Systeme“ von Peter Fuchs veröffentlicht worden, dessen Lektüre – wie könnte es anders sein – in mehr als nur einer Hinsicht interessant ist. Es kommt wie immer darauf an, welche Unterscheidungsmöglichkeiten sich innerhalb eines bestimmten Zeitraums an bestimmten Stellen angereichert haben, die es für Wert erscheinen lassen, angelieferte Materialien in Hinsicht auf ihre Merkwürdigkeit, also hinsichtlich ihres Unwahrscheinlichkeitscharakters zu betrachten. Der Essay von Peter Fuchs zeichnet sich, wie andere Schriften von ihm auch, zunächst dadurch aus, das er sich in seiner Stilstik, seinem Sprachhabitus, im ganzen Duktus bis hinein in die genaue Wortwahl und Satzkonstruktion als Nachahmung eines Vorbildes ausweist. Die spezielle Prosa von Luhmann, die sich in der soziologischen Schrifstellerei der 20. Jahrhunderts durch ihre Eigenwilligkeit gegen den normierenden Verfahren soziologischer Textproduktion deutlich abhebt, lässt sich in diesem Essay sehr gut beobachten.
Wenn man auch nicht bemerken kann, dass diese Art der Prosa durch Nachahmung ihren Charakter verliert, so kann man immerhin als merkwürdig vermerken, dass der Text im Ganzen wenig merkwürdig ist. Er fasst zusammen, was Luhmann bereits selbst an verschieden Stellen viele Male selbst zusammen gefasst hatte und lässt – soweit kann man den Betrachtungen von Peter Fuchs zustimmen – eine genaue Lektüre erkennen, welche sich durch das Merkmal einer beachtlichen Komplexität ausweist, die es kaum zulässt, all das auf Weniges und Zustimmbares zu reduzieren. Wenn dies aber dennoch ganz gegen jede Wahrscheinlichkeit gelingt, wie man das im Text von Peter Fuchs gut bemerken kann, so wirkt das immerhin beruhigend. Man ahnt, mit der eigenen Interpretation doch nicht ganz so sehr daneben gelegen zu haben.
Gerade deshalb kann die Frage, angesichts des Titels des Essays nach der Beeindruckbarkeit einer Systemtheorie gestellt werden, die ihre ja Kritikabilität selbst mit formulieren muss, weil sie sich notwendig unter ihren Gegenständen wieder findet und sich fragen lassen muss, wie sie selbst innerhalb einer Wissenschaftsorganisation möglich wird, die an wissenschaftlicher Haltbarkeit ganz andere Maßstäbe setzt als diejenigen, die von einer wissenschaftlichen Systemtheorie als maßgeblich erachtet werden. Denn die Verfahren von Beweis und Gegenbeweis, logische Analyse und Rationalität der Begründung und Kritik haben sich durch den Erfolg der Wissenschaft und durch Massenuniversität in ihre Kontingenz gleichsam aufgelöst und finden als triviale Formen Weiterverwendung. Trivial heißt hier: kostengünstig, leicht erlernbar und schnell zugänglich, insbesondere durch elektronische Verfahren der Datenverarbeitung, die nur einen sehr geringen Ermessenspielraum für Abweichung zulassen. Computer verrechnen sich nicht, sie sind nicht kreativ und unbestechlich. Und in dem Maße wie immer größer werdende Datenmengen immer schneller verarbeitet werden konnten – dies meint triviale Verwendbarkeit wissenschaftlicher Verfahren – wird die Frage nach der sozialen Erklärbarkeit dieser Verfahren relevant.
Dieser Prozess hatte gewiss schon in den 80er Jahren eingesetzt. Man denke nur an das empirische Praktikum während des Soziologie-Studiums, das in der Auswertung von Daten per SPSS bestand und für kreative Fragestellungen sehr bemerkenswerte Ergebnisse auspuckte, die – wenn noch Zeit dafür bleib – höchst aufregende Diskussionen entlang der Frage erzeugten: Wie kommt das nur? Die Antwort, dass dies erst durch zählen, messen und vergleichen möglich wird, dass also solche Operationen die Differenzen zuerst erzeugen, die später am Ergebnis abrufbar werden, konnte kaum verstehbar sein, solange die Trivialität der wissenschaftlichen Methode nicht suspekt wurde. Und ich möchte vermuten, dass die steigende Aufmerksamkeit für die Luhmannsche Variante einer Theorie der Gesellschaft in dem Maße stieg wie diese wissenschaftlichen Methoden trivial wurden und in Kontingenz zerfielen. Nicht nur die Gesellschaftskritik trivialiserte sich, sondern auch die Kritik der Kritik, wenn man bemerkt, dass ein großer Teil der empirischen Soziologie darin bestand, Hypothesen der Frankfurter Schule nach und nach mit empirischen Methoden durch Widerlegung zu liquidieren.
Die Systemtheorie, von der hier die Rede ist, wäre damit damit ein Reflexionsphänomen dieses Trivalisierungsprozesses. Sie hatte sich am Zerfall soziologischer Beweisverfahren erhärtet, und konnte als Heuristik wie ein Hypothesengenerator fungieren, weil sie zwischen den Stühlen saß, die eine Entscheidung zwischen empirischer und kritischer Soziologie, also Parteinahme erforderten. Bei Habermas lautete die Entscheidung: sowohl als auch, bei Luhmann: weder noch. Damit war ein Kapital gewonnen, das sich durch Indifferenz gegen solche Anforderungen ausdifferenzierte und schließlich, wer hätte es verhindern können, durch Erfolg selbst Parteilichkeit erzeugte, Begriffe erhärtete, Rezeptionszirkel ausbildete, Schulbildung nach sich zog und schließlich im akademischen Unterricht in den Setzkasten der gewöhnlichen Unterrichtseinheiten integriert wurde. Mit Luhmann wurde die Reihe der relevanten Klassiker nur erweitert. Seitdem gibt es eine Partei mehr, die Aufmerksamkeit auf sich zieht und Entscheidung verlangt.
Könnte man daraus nicht den Schluss ziehen, dass mit dieser Entwicklung der Treibstoff der Theorie verbraucht ist, weil die Beharrlichkeit einer ontologischen gepägten Umwelt die Theorie einfach assimiliert? Die Theorie wird so durch die Hartnäckigkeit ihrer akademischen Umwelt, deren Wirkmächtigkeit zu einem nicht geringen Anteil durch Bürokratie zustande kommt, re-ontologisiert und mit diesem Prozess auf gleiche Weise trivialsiert wie alles andere auch.
Nun lässt die Tradition der faustischen Gelehrsamkeit, die in Deutschland an den Universitäten seit dem 19. Jahrhundert staatlich organisiert wird, solche Einsichten nicht zu. Diese Tradition als eine in den Reglements des öffentlichen Dienstes gegossene Vorstellung vom indviduellen Genie als der autonome und souveräne Träger des Wissens kann die Authentizität der Wissenschaft nicht als Ergebnis demokratischer Verfahren anerkennen, so sehr sie selbst zur Legitimierung demokratischer Verhältnisse beiträgt und sich derenthalben als demokratisch beschreibt. Die Wahrheit, wie kontingent sie auch immer behandelt wird, ist niemals eine Frage der Mehrheit von Meinungen. Auch lässt es die Wissenschaft niemals zu, dass andere Verfahren der Akzeptanz von wissenschaftlichen Resultaten erprobt werden können, die selbst nicht wissenschaftlich sind, es sei denn, ein aufdringlicher Kostendruck würde eine Selektion nach Nützlichkeitserwägungen erzwingen. Aber auch dann, wenn Finanzierungsquellen nach der Weise eines feudalen Mäzenatentums erschlossen werden könnten, verbleibt eine solche Wissenschafts notwendig arrogant, heißt: sie verbleibt widerständig und bei aller Kontingenz unbelehrbar, weil auch ein Begriff von Kontingenz und seine Verwendbarkeit für die Forschung nicht eigenmächtig die Bedingungen ändern kann, unter denen die Wissenschaft einer funktional differenzierten Gesellschaft möglich wird. Natürlich ändern sich die Bedingungen, aber die Wissenschaft kann davon erst proftieren, nachdem sie sich gleichzeitig mit diesem Veränderungsprozess verändert. Und sie kann wohl – das könnte man dem Essay von Peter Fuchs entnehmen – diesen Veränderungsprozess zwar thematisieren, problematisieren, aber sie kann daraus keine Schlüsse ziehen, die ihre nicht-trivialen Fortbestand sicher stellen könnten, weil sich ihre Arroganz mittrivialisiert.
Noch einmal: die Arroganz, von der hier die Rede ist, entsteht irreflexiv durch die Tenazität von Unterscheidungsroutinen eines Systems, das nur innerhalb einer für es geeigneten Umwelt operieren kann. Das heißt, dass auch in den Umweltsystemen eine funktionale Arroganz garantiert sein muss, die es zuläßt, das Wissenschaftlichkeit durchgesetzt wird ohne den trivialen Charakter solcher Behauptungen beobachtbar zu machen. Bei Peter Fuchs wird dies am Ende des Essays deutlich:

In einem für diese Theorie typischen Duktus läßt sich sagen, daß sich das Kritikpotential der Systemtheorie auf der Ebene einer Kritik zweiter Ordnung herstellt. Sie beobachtet, wie Gesellschafts- und Sozialkritik ihre (historisch konditionierten) Unterscheidungen wählen und welche Ontologien durch diese Wahlen aufgespannt und betrieben werden. Sie kann gelesen werden als eine Ökonomie der Ent-Naivisierung der Kritik erster Ordnung. Diese Ökonomie ist – cum grano salis – nicht intendiert, sondern so etwas wie ein Epiphänomen des Supertheoretischen an der Systemtheorie, die kein Konkurrenzunternehmen zur Gesellschaftskritik sein kann, aber eine Gesellschaftstheorie liefert, die die Gesellschaftsprojektionen der Kritik als unterkomplex diskriminiert, kombiniert mit dem Angebot möglicher Komplexitätssteigerungen.

Die Problemstellung, die hier durchscheint, ist sehr ernst zu nehmen. Was kann noch als Wissenschaft gelingen und als solche gerechtfertigt werden, wenn alle Kritierien der Falszifizierbarkeit ob ihrer Kontingenz selbst kritisierbar werden, wenn es keine Möglichkeiten gibt, eindeutige Logiken zu erhärten, wenn alle Konsenspflicht verschwindet, wenn gar moralische Kriterien keine Akzeptanz finden? Bei Fuchs lautet das Argument: Komplexitätssteigerung, die womöglich Reflexivität befördert, wäre die zu erprobende Grenze der Haltbarkeit wissenschaftlicher Forschung um der mangelhaft gewordenen Komplexität einer Geselleschaftkritik auf einer nächsten Ordnungsebene zu entkommen. Aber heißt das nicht, dass sich hier eine ganz gewöhnliche Widerständigkeit gegen diejenigen Trivialisierungstendenzen zeigt, denen das ganze Wissenschaftssystem, also auch eine wissenschaftliche Systemtheorie ausgesetzt ist? Man kann das leugnen, aber nur durch Verzicht auf empirische Beweise, weil diese prinzipiell widerlegbar sind. Entsprechend bleibt nur die beharrliche Behauptung, dass eine eine Systemtheorie dieser Art die helfende Rettung wäre.
Man könnte dieser Überlegung auch zustimmen, sofern man sie als antiquarische Merkwüdigkeit behandelt, die ihre Überzeugungskraft in den 80er Jahren erhärten konnte und seitdem dem selben Trivialsierungsprozess (bei Fuchs: Naivisierung) ausgesetzt ist, aber inzwischen nachfragelos geworden ist, weil die Kritik einer Systemtheorie genauso wie ihre Legitimierung in das System einer Wissenschaft längst eingegossen ist, die als System ihre Stabilität niemals ohne eine Bürokratie und mithin als staatliche Exekutive gewinnen kann. Frech formuliert: Systemtheorie ist nur einer von anderen Gegenständen, die mit denen sich ein organisiertes Wissenschaftsbeamtentum esoterisch und routiniert befasst. Zwar mag gelernt worden sein, dass es unter ganz bestimmen Bedingungen seine Erfahrbarkeit thematisieren kann, insofern die Bedingungen als wissenschaftliche Erfahrung anschließbar sind. Aber für diese Erfahrbarkeit kann es, bei aller Irritationsfähigkeit und Kontingenzbereitschaft, nicht auf sich selbst zurückführen, auch wenn es seine Selbstreferenzialität theoretisch einzusehen vermag, weil die Form der Erfahrung gleichsam unterdrückt wird, wenn ein Verwandlungsprozess der Erfahrungsform in ein Medium im Gang ist. Dieser Verwandlungsprozess lässt sich an den dämonischen Erscheinungen des Internets ablesen, welche deutlich zeigen, dass mit der Digitialisierung die für eine funktional differenzierte Gesellschaft typische Form der Erfahrung – und damit auch die Form der Erfahrbarkeit einer Systemtheorie – nicht diejenige bleiben kann, die sie ontologisch bleiben sollte.
Fuchs muss interssanterweise dabei bleiben, dass Theorieangebot einer Systemtheorie unter Bedingungen zu offerieren, die Dokumente als ontologisch geprägte Form benutzen, weil nur damit die Anschlussfähigkeit innerhalb einer Umwelt gesichert werden kann, die ihre Selbstbeschreibung ebenfalls in Form von Dokumenten erfährt; er braucht zur Erhärtung eines Theorieangebots eben genau jene Umweltbedingungen, die durch die Theorie erklärt werden sollen, wogegen ja nichts einzuwenden ist, solange alles so bleib, wie es ist. Aber was wird aus der Theorie, die sich an einer ontologischen Umwelt erhärtet, wenn sich diese Umweltbedingungen in der Weise ändern, dass sich eine andere Form der Erfahrung – und damit auch eine Form der Selbsterfahrung – aus einem Medium herausdifferenziert, die fraglich werden lässt, was man den mit Systemtherorie noch erklären wolle, wenn die Theorie in der Umwelt unter veränderten Bedigungen das Beobachtungsschema verliert, das sie braucht, um sich selbst und ihre Umwelt zu beobachten. Was wird aus der Systemtheorie, wenn ihre Umwelt durch Berücksichtigung und Verkoppelung systemtheoretischer Differenzen gleichsam davon läuft? Gewss: Einem Wissenschaftsbeamten kann dies gleichgültig bleiben; und allen, dies dann noch werden können, auch.
Die Theorie kann sich so leicht nicht beindrucken lassen, was Auswirkungen hat auf die Beobachtung ihrer Lernfähigkeit.

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