Menschliches Versagen

von Kusanowsky

Der moderne Volksmund hat eine sehr pragmatische Weisheit für den Umgang mit einem Fachexpertentum entwickelt. Diese Weisheit lautet:

1. Regel: der Experte hat immer Recht.
2. Regel: ist dies nicht der Fall, so gilt Regel Nr. 1.

Was sich so ganz naiv ausnimmt, hat tatsächlich einen philosophischen, aber differenzierungsbedürftigen Kern, den man beim Verfolgen der Berichterstattung über die Ereignisse in Fukushima sehr deutlich analysieren kann. Besonders eindrucksvoll kann diese Weisheit werden, wenn man sie doppelt anwendet, wenn also jede der beiden Regeln durch ihre Negation ergänzt wird. Man käme dann zu folgender Übersicht:

‚1. Regel: der Experte hat immer Unrecht.
‚2. Regel: ist dies der Fall, so gilt Regel Nr. ‚1.

Wenn man das genauer betrachtet, so stellt man fest, dass es sich dabei um einen Anwendungsfall des sogenannten Lügner-Paradoxons handelt, das aus der Antike überliefert ist und die Frage nach dem Wahrheitsgehalt einer Aussage stellt, die von einem Kreter geäußet wird und besagt, dass alle Kreter Lügner sind.
Die moderne Wissenschaft und das aus ihr hervorgehende Fachexpertum ist ja nichts anderes als eine spezifische Habitualisierung, die ein sich durch Aufklärung erhebendes Subjekt gegen eine Masse von Unaufgeklärten und Nichtinformierten stellt, und für sich in Anspruch nimmt, besser, vollständiger, ja auch verständiger, moralischer informiert zu sein als alle anderen. Damit aber nicht genug. Denn die moderne Wissenschaft muss ihr Wahrheitsideal in Kontigenz auflösen, um Wahrheit behaupten zu können. Das heißt, dass die Unwahrheit niemals prinzipiell ausgeschlossen werden kann, jedenfalls ist der Unterschied nicht apriori vorgegeben. Emprisch heißt das, dass jeder Fachexperte, der mit Gewissheit urteilen will, notwendig einen zweiten Fachexperten zulässig machen muss, der, freilich unter Berücksichtigung wissenschaftlicher Methoden, das Gegenteil behauptet darf. So wird es möglich, dass Fachexperten sich gegenseitig durch beidseitige Verwendung eines übergeordneten Urteilsanspruchs mit vollständig konträren Aussagen konfrontieren können.

1. Die Wahrscheinlichkeit eines schweren Reaktorunfalls ist gering.
2. Die Wahrscheinlichkeit eines schweren Reaktorunfalls ist hoch.

In beiden Fällen gilt, dass ein Experte immer Recht hat, weil immer ein anderer Unrecht hat. Da nun aber die Wissenschaft einen Letztbegründungsanspruch prinzipiell ausschließt, müsste man annehmen können, dass empirsche Daten zur Verifikation oder Falszifikation der einen oder anderen Aussage solche Streitfälle lösen könnten. Genau darin besteht der Aussichtsreichtum einer Wissenschaft, dass sie aus Erfahrung klüger werden könnte. Tatsächlich aber stellt man fest, dass dieses Versprechen durch die Wissenschaft zwar gegeben, aber nicht erfüllt werden kann. Kein Erfahrungswert kann apriori als Voraussetzung zur Beurteilung einer Wahrheit genommen werden, weil in diesem Fall ein Widerspruch in Fragen der Letztbegründbarkeit auftreten würde, dem nur durch Behandlung eines anderen Widerspruchs entgangen wird. So reagiert die Wissenschaft auf ihre Widersprüchlichkeit widersprüchlich und ermöglicht damit allererst ihre enorme Leistungsfähigkeit, da sie ihr Beobachtungsdefzit nicht einfach nur fahrlässig in Kauf nimmt, sondern ganz im Gegenteil, dieses methodisch zu kontrollieren versucht. Und im Fall der Atomenergie zeigt sich, dass sie dieses Verfahren bis an die Grenze der vollständigen Vernichtung ihrer Bedingungen ausprobieren muss, weil nur auf diese Weise die Prüfung der Haltbareit zivilisatorischer Errungenschaften auf die Probe gestellt werden kann. Kein Mensch hat in Fragen der Wissenschaft das letzte Wort.
Daraus ergibt sich schließlich auch die allzu häufig vorgetragene Behauptung, dass im Falle katastrophaler Schäden diese niemals aus der Integrität einer Wissenschaft abgeleitet werden können, sondern immer nur aus menschlichem Versagen, wodurch sich der Wissenschaftsanspruch jedesmal verstärkt: alles Versagen ist immer nichtwissenschaftlicher Herkunft; und aus den eingangs zitieren Regeln ergibt sich auch warum dies so ist. Alle Wissenschaftlichkeit lässt immer Wahrheit und Unwahrheit zu, ein Unterschied, der nirgendwo eindeutig bestimmbar ist. Da aber Katastrophen wie Fukushima irreversible Eindeutigkeiten schaffen, können diese niemals als ein Versagen der Wissenschaft deklariert werden. Daraus ergibt sich dann auch die Einsicht, dass alle Wissenschaft gar nicht von Menschen gemacht sein kann, weil in der Wissenschaft nirgendwo Menschen beobachtbar sind, die nicht versagen, was man an der Beliebtheit eines Fachexpertums bemerken kann, das ein Rechthaben für jeden in Aussicht stellt, sofern man nur wissenschaftliche Methoden benutzt, die zwar immer begründbare, aber niemals letztendliche Urteile zulassen. Der Anspruch eines Fachexpertentums auf übergeordnete Urteilsfähigkeit erzwingt eine Unterwerfung aller Beiligten unter die Bedingungen der Kontingenz aller wissenschaftlichen Einsichten. Das ständige Versagen eines Fachexpertentums sorgt damit für die Ausbildung eines Attraktors, der stets das unerreichbare Gegenteil erfolgreich in Aussicht stellt.