Monument und Dokument

von Kusanowsky


Man kommt in eine unbekannte Stadt und schlendert durch die Straßen. Plötzlich findet man sich vor einem Bauwerk, etwa einer Kirche, die durch die edlen Proportionen, durch die Harmonie aller Teile, durch ihre Schönheit auffällt. Man erkennt in ihr, sagen wir: ein gotisches Monument, möchte aber gern mehr wissen. Und dann erfährt man, daß es sich um einen Bau des 19. Jahrhunderts handelt. Man fühlt sich beschämt und fühlt auf eine seltsame Weise den Boden unter den Füßen fortgezogen … (D)as ästhetische Erlebnis war für den modernen Betrachter offenbar nur ein Teil eines Gesamterlebnisses. Er glaubte in dem Werk eine Botschaft zu hören und hört nun eine Lüge … Er hat das Werk nicht nur als ästhetisches Gebilde genommen, sondern, so können wir mit einem Worte sagen, als Dokument. Oder das umgekehrte Beispiel. Man hört ein Gedicht. Es macht keinen großen Eindruck, es sagt einem wenig. Und dann erfährt man, daß es von einem Dichter stammt, den man besonders schätzt. Liest man es nun noch einmal, so ist es fast ein anderes Gedicht geworden, obwohl sich kein Wort verändert hat. Es erscheint nun als vielsagend und gehaltvoll. Man empfindet es jetzt wieder in dieser Erweiterung: als Dokument, als Ausdruck eines Schöpfers. Das Erleben als Dokument ist ein Erleben des Individuellen und damit den Geschichtlichen.

zu finden in: Wolfang Kayser: Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft. Bern 1951, S.22. (*)

Siehe dazu auch: E pluribus unum – Aus vielem eines
oder Monumente – Dokumente – Performate
Foto: Die Dankeskirche in Bad Nauheim, neugotisch, gebaut: 1903 – 1906