Vertrauen durch Wissen oder Wissen durch Vertrauen?
von Kusanowsky
Die tägliche Beobachtung der Diskussion über die Dämonien, die das Internet hervorzaubert, sind eine wahre Schatzkiste für soziologische Betrachtungen über die Bedingung der Möglichkeit von Gesellschaft. Wie kaum etwas anderes zeigt sich, wie wenig selbstverständlich die Welt des Sozialen ist. Das merkt man an den aufbrechenden Fragen, die philosophisch und soziologisch schon immer höchst bemerkenswert waren, wie etwa die Diskussion um den „digitalen Radiergummi“ – es handelt sich dabei um ein gedächtnistheoretisches Problem; Datenschutz – dabei geht es ganz allgemein um ein Verhältnis von Kryptographie und Apokalyptik, um die Frage nach der brüchigen Identität des modernen Subjekts; Manipulationsskandale, die durch die Bedingung der Verführbarkeit und Erpressbarkeit von Menschen möglich sind; Diskussionen um das Urheber- und Leistungsschutzrecht, die immer deutlicher machen, wie sehr alles mit allem zusammenhängt, was insbesondere die gesamtgesellschaftliche Produktion aller Produkte betrifft und nicht, wie eine Privatwirtschaftsideologie immer noch meinen möchte, Ergebnis individueller Produzenten ist.
Und ein weiteres Phänomen bezieht sich auf den Punkt Vertrauen. Dieser Punkt hat nicht nur eine intersubjektive Dimension, die ein Verhältnis zwischen Menschen betrifft. Vielmehr geht es darum, wie sehr Methoden der Wissensproduktion nicht mehr länger durch Verfahren der individuellen Überprüfbarkeit und einem daraus resultierenden Fachexptertum legitimiert werden können, sondern durch nichts weniger als durch: Vertrauen.
So scheint bei Wikipedia sich gerade die Einsicht zu entwickeln, dass alle Wissensproduktion immer funktionierende Vertrauensbeziehungen voraussetzt. Und zwar wird diese Einsicht umso dringlicher, je auffälliger die Einsicht wird, wie wenig es dabei auf Vertrautheit der Menschen untereinander ankommt. Dies jedenfalls ist die erkenntnisleitende Beobachtung, die Methoden der Schwarmintelligenz zur Diskussion stellen kann. Im ganzen geht es dabei um eine Risikokalkulation, welche Ausdruck davon ist, dass Einzelne nicht über genügend Wissen verfügen, um als wichtig eingeschätzte Entwicklungen kompetent beurteilen zu können.
Risikobewusstsein ist dabei keineswegs eine vertrauensnegierende Sichtweise: Nicht nur Misstrauen, sondern auch Vertrauen beruht auf der vorherigen Wahrnehmung eines Risikos. Die Akzeptanz der Risikowahrnehmung als solcher ist damit notwendige Bedingung, um die Gewährleistung durch Vertrauen hervorbringen zu können. Man kann Risikobewusstsein nicht allein auf Misstrauen reduzieren, da sonst übersehen wird, dass erst in der Situation einer Risikobeurteilung ein Vertrauensgewinnung in Gang gesetzt wird. Methoden der Wissensproduktion können gerade dadurch an Akzeptanz verlieren, dass es den Beteiligten dann z. B. nicht möglich ist, Vertrauen zu addressieren, denn Vertrauen in Methoden ist immer Vertrauen auf Akzeptanz, für welche es in der Umwelt eines Wissenssystems Entsprechungen geben muss. Das gegenwärtig hartnäckigste Problem für ein Vertrauen in Methoden der Wissensproduktion dürfte in der immer noch verbreiteten Prominenz der Dokumentform liegen, die strukturell auch die Akzeptanz durch Wissensvermittlung determiniert. Akzeptanz ist aber immer auch eine Folge von Kompetenz, die durch spezifische Formen der Erfahrungsbildung erwartbar wird. Was passiert aber, wenn durch Bedienung vernetzter Computer beobachtbar wird, dass zu wenig Wissen für planendes oder kontrollierendes Verhalten zur Verfügung steht? Das macht ja nicht die Frage wichtig, wem man vertrauen kann, sondern wie Vertrauen zu finden ist. Die zunehmende Bedeutung des Selektionsmechanismus Vertrauen resultiert dann nicht aus dem Problem des Zu-wenig-Wissens, sondern stellt eine äquivalente, gleichwohl aber aus Ressourcengründen beschränkte Strategie des Umgangs mit Komplexität dar. Es ist ja gerade die funktionale Besonderheit von Vertrauen, dass es Komplexität fast ohne eigene Kompetenz reduziert. Diese Überlegungen machen deutlich, dass Verfahrensweisen, die immer noch der Dokumentform folgen, die Vertrauensproblematik vollkommen verkennen. Sofern es nämlich um Vertrauenssituationen geht, ist die Formel „Vertrauen durch Wissen“ gar nicht mehr angebracht. Will man die Diskussion über Methoden der Wissensproduktion verfolgen, so wird die erkenntnisleitende Frage andersherum lauten müssen, nämlich: Wissen durch Vertrauen.
Und darin zeigt sich dann der Blinde Fleck, den die Dokumenform immer nach sich zog: sie musste Vetrauen durch Wissen in Aussicht stellen ohne dabei auf die Bedingung dieser Möglichkeit zu achten. Die Bedienung vernetzter Computer macht notwendig auf die Verkehrung aufmerksam und damit auf den blinden Fleck einer auf Fähigkeiten des Subjekts vertrauenden Gesellschaft.
Siehe dazu auch: Wikipedia: Überlegungen zur Formbildung der „Schreibameise“
Es kommt selten vor, dass ein Autor seinen eigenen Artikel kommentiert, aber in diesem Fall geht es nicht anders. Bei Facebook hat ein Kommentator unter dem Link zu diesem Artikel auf meine Frage, wie es kommt, dass er so schnell mit einem „Gefällt mir“ reagiert, geantwortet: „Inhalt des Artikels rührt an Fragen die sich mir als Laien in letzter Zeit des öfteren stellen. (Und die sich im Zuge einer Wohnungsrenovierung derzeit in Form einer seit dem letzten Umzug geänderten Sicht auf meine Bücher darstellt, etwa: Was ist glaubwürdiger, ein angegrautes Sachbuch oder ein frischer Blogpost?)“
Vielen Dank für diesen Hinweis.
In diesem Zusammenhang ist dieser Link interessant:
http://www.gesellschaftundkontingenz.de/agenda/
„Sieht man von Vertrauen als Zutrauen in Bezug auf die Welt und ihr Fortbestehen als einer Umwelt, in der wir physisch überleben können, sieht man von dieser, für eine motivierende (Über-)Lebenssicherheit unabdingbaren Grundvoraussetzung einmal ab, richtet sich Vertrauen vor allem auf das Verhalten autopoietischer Systeme. Vertrauen drückt sich aus in Erwartungsstrukturen, die ein System bildet, um die hohe Komplexität kontingenter Verhaltensmöglichkeiten anderer Systeme sinnvoll zu reduzieren. Vertrauen im soziologischen Zusammenhang lässt sich dann beschreiben als eine optimistische Erwartungshaltung gegenüber dem Fortbestand von Kommunikation; und das wiederum ist nichts anderes, als die Erwartung, daß die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation häufig genug in Wahrscheinlichkeit transformiert und genau dadurch motiviert wird. In Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, beobachtet Luhmann, welche Möglichkeiten Vertrauen in unterschiedlich ausdifferenzierten Gesellschaften hat und welche Anpassungsleistungen mit der Entwicklung von zusätzlichen Verbreitungsmedien notwendig werden. Vor dem Hintergrund des jüngsten Verbreitungsmediums Internet wollen wir uns fragen, welche Anpassungen nun vorstell- und beobachtbar sind.“
@Klaus So wie ich die Sache sehe leidet die Wissensgesellschaft an einer merkwürdigen Schizophrenie. Sie wird technologisch immer komplexer, das Wissen wird immer mehr, der Einzelne braucht deshalb immer mehr Glauben, um dem Wissen zu vertrauen. Da jeder Einzelne nur Spezialist für ein Detail der Wissensgesellschaft sein kann, wächst mit der Komplexität auch das Maß an Glauben. Je weiter die Wissenschaft in die Grenzsphären der Wirklichkeit vordringt, desto größer werden die kollektiven Felder der Glaubenserkenntnis. Das Bild der Welt wird immer unanschaulicher, je weiter wir sie zu entziffern suchen. Wenn aber am Anfang und am Ende des Wissens Mutmaßungen, Modelle, Hypothesen, also Glaubensgeschichten stehen, dann ist die Moderne auch von dieser Seite zum Credo-Prinzip zurückgekehrt. Daran kann ich aber nicht so recht glauben 😉
@unterscheidung – auch bei Berücksichtigung dieses Einwands würde ich meine Standardfrage stellen: Woher kommt eigentlich das Problem? In dem Fall geht es um ein Verhältnis von Glauben und Wissen und man könnte sagen, dass diese Frage bereits in der Scholastik von Thomas von Aquin prominent gestellt wurde. Aber damit würde man die Frage nicht beantworten, sondern nur zurück datieren. Außerdem möchte ich auch annehmen, dass ein Verhältnis von Glauben und Wissen unter jeweils verschiedenen Beobachtungsbedingungen zustande kommt, es damit zwischen dem 13. und dem 20. Jahrundert keine Kontinuität gibt, es sich damit nicht um das selbe Problem handelt. Also frage ich danach, was die spezifischen Bedingungen sind, unter denen der Unterschied von Glauben und Wissen in der modernen Gesellschaft zustande kommt; und auch in dieser Hinsicht lande ich bei der Vermutung, dass es an der Spezifik einer Formatierung von Erfahrung liegt wie sie die moderne Gesellschaft höchst erfolgreich ausgebildet hat: Die Dokumentform stellt Überprüfbarkeit, Durchschaubarkeit, Kontrollierbarkeit und Beherrschbarkeit in Aussicht; und alle zuwiderlaufenden Überlegungen konnten die Dokumentform nicht überwinden, weil sie in der Dokumentform auffallen mussten. Das gilt insbesondere auch für die Marxsche Analyse der Warenform, die ja nur ein Sonderfall der Dokumentform ist; Analysen, die sich als Buch verkaufen mussten. Wenn man zum Beispiel Paul Feyerabend „Erkenntnis für freie Menschen“ liest, dann merkt man sehr deutlich, warum sich Feyerabend mit einer relativistischen Position begnügen musste. Entscheidungen über Wissenschaftlichkeit von Sätzen können erkenntnistheoretisch nicht hergeleitet werden, so Fyerabend, entsprechend müsse man die Frage nach der Wissenschaftlichkeit eben „demokratisieren“. Aber auch in einer Demokratie müssen Entscheidungen getroffen werden, die immer auch Kontingenz abschneiden. Und dafür braucht man wiederum eine Form der Erfahrungsbildung, die gleichsam demokratietauglich ist: für alle zugänglich, verstehbar, transparent – wenigstens im Prinzip. Damit wäre der Zirkel der Erfahrungsbildung perfekt, aber untauglich, wenn die daraus resultierenden Komplikationen selbstreflexiv behandelt werden müssen, wenn also Notwendigkeiten anfallen, die sich einem Meinungsbildungsdiskurs entziehen. Denn das Internet legitimiert sich ja nicht durch eine Mehrheitsentscheidung, sondern erzwingt andere Beobachtungsverhältnisse.
[…] als Gefährdung, welche Enttäuschung als Selbstverschuldung legitimierbar macht. Vielmehr entsteht Vertrauen als beanspruchbares Recht, das heißt: der Irrtumsfall ist durch ein Recht auf Vertrauen […]
[…] von Rationalität und Identität von Sprache in der Dokumenform zusammenfielen. Dieses Vertrauen in Linearitäten, in Eindeutigkeiten und damit auch in Rationalität zerfällt nun. Methoden der […]
[…] sicher gestellt ist. Man könnte im Fall der html-Dateien allenfalls das Problem auf Fragen der Glaubwürdigkeit von Personen verschieben, prinzipiell überprüfbar wären aber alle drei Behauptungen nicht.Ergebnis: das […]
Wissen entsteht (und entstand immer schon) m.E. in der Tat teilweise durch Vertrauen (aber auch durch Erfahrung), aber auch Vertrauen entsteht oft (aber nicht immer) durch ein Wissen – allerdings durch das Wissen um sein Nicht-Wissen. Vertrauen muss man, wenn man nicht weiß wie etwas (wirklich) ist/funktioniert/etc und es nicht selbst herausfinden kann oder dies zu anstengend oder zeitaufwendig wäre. Deshalb sucht man sich Wissens-Agenten (ich nenne sie nun so, beziehe mich hier nicht auf bestehende Theorie): Leute, die glaubhaft behaupten können etwas zu wissen, weil sie es selbst in Erfahrung gebracht haben (oder besser: untersucht – daher intersubjektiv nachvollziehbare Methoden der Wissenschaft),
Durch eine solche Kompetenzzuschreibung und -performanz an die bzw. der Wissens-Agenten erscheinen sie als „Experten“ und können als solche sprechen. Experten haben die Definitionsmacht inne bzw. einen Teil davon, bei Wikipedia macht die „Klugheit der Masse“ diesen kollektiven Experten: wer glaubt was da steht, glaubt was da steht, weil er glaubt zu darin vertrauen zu können, dass die Masse sich nicht irrt. Das ist aber nicht der einzige Weg. Ein zweiter Weg – der gegangen wird – ist z.B. dass man immer wieder (bewusst oder unterbewusst) mit der „prominenten“ Dokumentform vergleicht und bemerkt: das ist ja eigentlich ziemlich das was auch dort steht – nur zusammengetragen und auf den Punkt gebracht. Und genau das sind heute in einem schnelllebigen Lebens-, Lern- und Arbeitsalltag oft die Informationen, die man braucht, weil es zeitnah weitergehen muss. Vertiefen kann man dann an den Stellen, wo man genauere Information oder tieferes Wissen braucht… Wie dem auch sei: ein solcher Abgleich, der – jeder frage sich selbst – durchaus geschieht, zeigt, dass scheinbar heute beide Arten von Experten ihre Berechtigung haben: der kollektive Experte und der einzelne Experte bzw. ein geclusterter Haufen aus dienen (State of the Art…). Die Frage ist in der Tat – da ja der kollektive Experte gegenüber dem klassischen Experten in den letzten 10 Jahren extrem aufgeholt hat – ob er diesen auch ablöst?!
Das scheint mir – auch wenn ich sehr an tiefes gemeinsames Wissen glaube, zu dem man nur die Zugangswege (Internetplattformen, Foren und Wikis sind z.B. einer) finden muss, um es zu aktivieren, als eher unrealistisch. Denn genau an einem Punkt wird man immer scheitern, wenn man den kollektiven Experten befragt: an der tiefgehenden Beschäftigung mit einzelnen Aspekten von Phänomenen. Millionen haben sich mit dem Thema Persönlichkeitsentwicklung beschäftigt, doch wie viele mit dem Thema Persönlichkeitsentwicklung durch hawaianische Kulttänze? …
Ist der kollektive Experte also in gewisser Weise der Pragmatiker, der – auch wenn er gelegentlich Tiefgang zulässt – eher für relativ rasche und daher relativ oberflächliche, dafür aber direkt praxistaugliche Vermittlung von Wissen adressierbar ist und der klassische Experte derjenige den es zu Adressieren gilt, wenn man eben tief in ein Thema einsteigen will, weil man damit dann in der Breite arbeiten will (hier ist dann auch erst viel mehr Transfer in die Praxis nötig)?
Jedenfalls gilt: Vertrauen wird beiden Arten des Experten entgegengebracht – doch in verschiedener Weise. Vielleicht vertraut man dem kollektiven Experten gerade dann, wenn es sich um kleinteilige und schnell verwendbare Wissenselemente handelt und dem klassischen Experten dann, wenn man sich z.B. thematisch mit einer Sache sehr gut auskennen will oder muss oder wenn es z.B. um sehr wichtige Entscheidungen etc. geht?
Ich weiß es nicht, aber mir kommt’s so vor.
@Nico Schrode – Danke für diesen ausführlichen Kommentar, der schon fast ein eigener Blogbeitrag ist. Zu deinen Überlegungen passt der bei den Sozialtheoristen von Stefan Schulz vor einiger Zeit erschienene Beitrag zu der Frage, warum Massenmedien Experten brauchen. Was ich interessant finde an seinen Überlegungen ist, wie leicht es inzwischen fällt, brauchbare und weiterführende Analysen und Betrachtungen, die einen gewissen Anspruch an Komplexität erfüllen, zu verbreiten. Die Annahme, dass dies offensichtlich an kompetenten und klugen Menschen liegt, akzeptiere ich nicht, weil Menschen dieser Komplexität prinzipiell gar nicht gewachsen sind. Es muss anderweitige, kommunikativ strukturierte Lösungen geben, wie sie nur von sozialen Systemen erarbeitet werden können, von welchen Menschen dann profitieren, insofern sie als ansprechbare Adressen fungieren und damit das „soziale Werk“ der Kommunikation immer wieder einschränken, ja mitunter vollständig verschleiern oder gar als nicht beobachtbar aussortieren. Dazu ausführlicher hier und hier.
@nico Was eine Soziologie des Vertrauens angeht, würde ich als jemand, der der Systemtheorie eher ablehnend gegenübersteht, an dieser Stelle gerne den Alteuropäer spielen und darauf insistieren, dass jede Theorie des Vertrauens sowie die Analyse konkreter Interaktionssysteme (z.B. Familien) doch recht spekulativ bleibt, wenn von „sozialen Strukturen“ gesprochen wird, ohne dass dabei die nicht-Trivialität der Anwesenden oder die kognitiven Dissonanzen der „Familienmitglieder“ berücksichtigt werden. Andererseits denke ich auch nicht, dass es Systemtheorien allzu schwer fallen sollte, individuelle Kognition zu thematisieren, ohne dabei die Gesellschaft als relevant für die Genese dieser (und keiner anderen) Kognition zu negieren. Selbstverständlich steht dann der Begriff der Autopoises auf der Kippe, aber dieser wird ja ohnehin nicht von allen Systemtheoretikern verwendet. Und wenn man Maturanas Vorschlag folgen will, dann ist er auch für die Beschreibung von Kommunikationssystemen nicht geeignet.
Beispielhaft für eine Art „systemtheoretische Sozialpsychologie“ wären die Arbeiten von Gregory Bateson. Man lese nur einmal die „double – bind“ Aufsätze über schizophrene Familien oder die „Theorie des Alkoholismus.“ Seine Argumentation dort ist m.E. weder soziologisch noch psychologisch, da er die Bescheibung individueller Kognition mit einer interaktionstheoretischen Erklärung auf sehr elaborierten Niveau koppelt.
Ich denke daher, das weder Schütz noch Mead hier die systemtheoretisch fruchtbaren Anschlüsse bringen, sondern Bateson und – daran anschließend – eventuell auch die theoretischen Argumentationen und „empirische“ Befunde der „systemischen Familientherapie.“
@unterscheidung – Bei der double-bind-Hypothese geht es ja darum, dass die Kommunikation die Anwesenden gegenseitig in Widersprüche verstrickt und sie in eine Zwickmühle führt, die die Gefahr herstellt, dass egal was man macht, es immer falsch macht. Ich vermute, dass dieses double-bind-Problem praktisch durch Vertrauen verhindert wird, in dem Prüfungen über logische Unwidersprüchlichkeit unterbleiben. Das heißt aber auch, dass Vertrauen Verlässlichkeit genauso ermöglicht wie Risiken, wenn man es sich in einer jeweiligen Situation leisten kann weder die Verlässlichkeit zu erwarten noch ein Risiko zu befürchten. Man überlässt Bestätigung oder Enttäuschung der Zukunft. Das double-bind-Problem entstünde dann erst durch den Versuch, die jeweilige Beziehung vollständig durchzurationalisieren, auf Vertrauen zu verzichten und genau das zu tun, von dem man behaupten kann, es sei erwartet worden.
Beispiel: Am Wühltisch eines Warenhauses ist ein Schild zu lesen: „Zugreifen! Es lohnt sich!“ Handelt jemand jedoch nach dieser expliziten Aufforderung, wird sein Handeln als Ladendiebstahl geahndet, und lohnt sich also nicht. Oder: In der psychiatrischen Klinik steht an der Tür eines Arztzimmers: „Bitte Klopfen!“ Und man stelle sich einen Patienten vor, der immer dann an die Tür klopft, wenn er auf seinem Gang über den Flur daran vorbeikommt. Dass er in diesem Fall gar nicht verrückst ist, kann der Arzt allerdings nicht nachvollziehen, weil er ja auch in einer double-bind-Situation verstrickt ist. Das heißt, dass er seiner Wissenschaft immer mehr Vertrauen muss als der Intelligenz seiner Patienten.
Die Kurzschließung von systemtheoretischem „Vertrauen“ mit dem Bindungskonzept der Psychologie interessiert mich als Psychologin stark, ich komme da aber noch nicht ganz klar: Denn nicht erst im Erwachsenen-Alter ist unser Verhalten durch das, was wir Vertrauen nennen können, gesteuert. Vertrauen im psychischen System ist in vor-bewussten Formen schon früh im Leben verhaltenssteuernd, ist in den kogntiven Strukturen, die gleichzeitig stets affektiv sind, als existent von aussen beobachtbar. Beobachtbar sind bei einer Person die wiederholten Verhaltensstrukturen in kritischen Situationen des Vertrauens. Diese Strukturen sind das Ergebnis von vergangenen Erfahrungen des Vertrauens und werden immer wieder neu reaktualisiert und reorganisiert. Soweit ich das überblicken kann, tut sich aber die Systemtheorie mit der Vorstellung schwer, dass ein „vor-bewußter“ Mechanismus „Verhalten steuert“. Aber die Frage der „Steuerung“ wird meiner Meinung nach auch zunehmend in der Psychologie problematisiert und umgedeutet.
@jana Ich kenne mich in der psychologischen Fachdiskussion nicht so gut aus; und wenn es stimmen sollte, dass auch in der Psychologie Steuerungskonzepte inzwischen anders interpretiert werden, dann halte ich das für eine sehr bemerkenswerte Entwicklung. Soziologisch gesehen konstituiert sich alle soziale Realität als Problem einer Intersubjektivität in der Situation einer doppelter Kontingenz. Da selbstreferenzielle Systeme eine quasi monadischen Charakter haben, wird ihre Operativität nicht zuerst in sprachlich gestiftetem Sinn verankert. Luhmann z.B. geht davon aus, dass das Kontingenzproblem in einer kommunikativen Tiefenschicht dieser Intersubjektivität angesiedelt ist, deren Analyse zu einem präsemiotischen Sinnbegriff zwingt. Damit ist aber nicht gemeint, dass damit „vor-bewusste“ Weltgehalte entstehen, da sich hinsichtlich psychischer Systeme die Grundelemente der Prädikation schon aus Wahrnehmungsstrukturen ableiten ließen. Vielmehr ist alle sprachliche Entwicklung bereits auf die basale Unterscheidung zwischen Worten und den durch sie bezeichneten Gegenständen angepasst. Aber wie könnte man einen Verzicht auf eine strikt phänomenologische Interpretation der Vor-Sprachlichkeit des Sinns leisten? Die soziologische Wendung besteht darin, dass man Vor-Sprachliches zugleich als Nach-Sprachliches auffassen könnte. Diese Form des wechselnden Hintereinanderschaltens von Wahrnehmung und Sprache ist zugeschnitten auf die Selektionszwänge und die Rolle der bereitstehenden Handlungsoptionen in der doppelt kontingenten Grundsituation, aus der die soziale Ordnung schrittweise erwächst. Die Grundsituation wäre dann so arrangiert, dass die Beteiligten über Sprache schon verfügen; freilich über eine Sprache, die nur einen semantischen Fundus enthält, der keine normativen Vorgaben impliziert und insofern auch frei von jener Vorvertrautheit ist. Zusammgefasst ergibt sich daraus, dass eine jede Beziehung, die Vertrauen zu ihrer Fortsetzung benötigt, bereits durch eine kommunikative Entwicklung von Vertrauen determiniert ist.
@Kusanowsky Das ist alles sehr abstrakt und sehr theoretisch. Geht es nicht auch ein bißchen allgemeinverständlicher?
@jana Nein. Allgemeinveständlichkeit ist eine Forderung, die keiner erfüllen kann, weil es keine allgemeinverständliche Übereinkunft über Allgemeinverständlichkeit gibt. Dazu empfehle ich den Blogpost „Verständlichkeit“ bei autopoiet/blog.
[…] Vertrauen durch Wissen oder Wissen durch Vertrauen? […]
[…] keiner alle Fakten überprüfen kann, muss Vertrauen hergestellt werden. (Also: täusche […]
Wenn man von autopoietisch geschlossenen und strukturdeterminierten Systemen augeht, bedeutet das, dass es unmöglich ist, eine Aussage über eine absolute Wirklichkeit zu treffen. Außerdem ist jede Aussage eine Aussage auf der Basis von
Sprache und gehört nach Maturana in den konsensuellen Bereich. Deshalb sei jedes Wertesystem, jede Ideologie und jede Beschreibung eine Operation in einem Konsensbereich, dessen Gültigkeit nur durch diejenigen Aussagen hergestellt wird, die ihn durch ihren konsensuellen Cahrakter validieren.(1) Insofern sind auch Gut und Böse oder Wahr und Falsch keine kontextfreien absoluten Werte und sind zugleich nicht beliebig, also kontingent. Das führt zu der Einsicht, dass Werte wie Akzeptanz, Toleranz, Bescheidenheit, Liebe, Solidarität, Gerechtigkeit oder die Erfahrung von Empathie, das Bedürfnis nach Vertrauen, Anerkennung und Mitgefühl einen wesentlicheren Stellenwert erhalten müssen. Maturana zufolge können diese Werte eine Grundlage für die Bildung sozialer Systeme sein, die Ausbeutung und Tyrannei ablehnen. Maturana sieht die Liebe und das gegenseitige Vertrauen als „biologisch elementare Bindemittel menschlicher sozialer Systeme, denn sie führen durch die Schaffung zwischenmenschlicher Sicherheit und Zusammenarbeit zu individueller existenzieller Harmonie.“ (2) Liebe ist hier allerdings nicht gemeint als Gefühl, sondern im Sinne Luhmanns, wo Liebe ein Medium ist, eine Verhaltensweise, die eine bestimmte soziale Funktion erfüllt. (3) Matthias Wallich weist darauf hin, dass Liebende ein autopoietisches System bilden: „Das Verhältnis der Liebenden ist […] so wechselseitig, dass es kein Außerhalb der Liebe gibt und jede Handlung bzw. jedes Erleben in ihrer Wirkung auf den Partner wichtig ist.“
(1) Vgl. Maturana, Humberto: Erkennen. Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit.Ausgewählte Arbeiten zur biologischen Epistemologie (= Wissenschaftstheorie. Wissenschaft und Philosophie 19), Braunschweig/Wiesbaden 1982, S. 29-30.
(2) ebd. S. 30.
(3) Wallich, Matthias: Autopoiesis und Pistis. Zur theologischen Relevanz der Dialogtheorien des Radikalen Konstruktivismus (= Saarbrücker Hochschulschriften Theologie 32), St. Ingbert 1999, S. 556
Vertrauen kann nicht nur durch Liebe, sondern auch durch Macht oder andere symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien erleichtert werden, z.B. durch Wahrheit. Vertrauen und Macht bilden keine sich ausschließenden Gegensätze. Vertrauen ist
nach Luhmann eine Reduktion der Komplexität der zukünftigen Welt (Luhmann 1989, S. 20). Vertrauen setzt eine spezifische Erwartung auf das zukünftige Handeln von alter in Gang. Beim Vertrauen werden externe Informationen durch systeminterne bzw. durch strukturierende Prämissen der eigenen Erlebnisverarbeitung ersetzt. Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien, insbesondere Macht, reduzieren Komplexität und machen unwahrscheinliche Selektionsprozesse anschlussfähig, indem sie Selektion und Motivation verbinden. Luhmanns Theoriekonzeption berücksichtigt keine strategiefähigen Subjekte als erfolggenerierende Instanzen. In der Alter-ego-Analyse unterstellen sich die Beteiligten gegenseitig, dass ihre Handlungen im Rahmen der durch die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien aufgebauten Systeme ausgerichtet sind. Es reich diese Unterstellung völlig aus. Deshalb spielt auch Konsens, anders als bei Maturana, keine entscheidende Rolle als Voraussetzung.
Luhmann, Niklas: Vertrauen. 3.Auflage Stuttgart 1989.
https://de.wikipedia.org/wiki/Hans_Joas
ZEIT Wissen: Was ist das überhaupt, Glauben?
Joas: Ein sehr starkes Gefühl von Gewissheit und Vertrauen. Wir müssen unterscheiden zwischen der umgangssprachlichen Verwendung von »Glauben« im Sinne eines Nicht-ganz-sicher-Wissens und religiösem »Glauben« im Sinne einer solchen Haltung des Vertrauens und der Gewissheit vor aller Reflexion.
http://www.zeit.de/zeit-wissen/2013/01/Soziologe-Hans-Joas-Religion-Atheismus-Selbsttranszendenz