Vertrauen durch Wissen oder Wissen durch Vertrauen?

von Kusanowsky

Die tägliche Beobachtung der Diskussion über die Dämonien, die das Internet hervorzaubert, sind eine wahre Schatzkiste für soziologische Betrachtungen über die Bedingung der Möglichkeit von Gesellschaft. Wie kaum etwas anderes zeigt sich, wie wenig selbstverständlich die Welt des Sozialen ist. Das merkt man an den aufbrechenden Fragen, die philosophisch und soziologisch schon immer höchst bemerkenswert waren, wie etwa die Diskussion um den „digitalen Radiergummi“ – es handelt sich dabei um ein gedächtnistheoretisches Problem; Datenschutz – dabei geht es ganz allgemein um ein Verhältnis von Kryptographie und Apokalyptik, um die Frage nach der brüchigen Identität des modernen Subjekts; Manipulationsskandale, die durch die Bedingung der Verführbarkeit und Erpressbarkeit von Menschen möglich sind; Diskussionen um das Urheber- und Leistungsschutzrecht, die immer deutlicher machen, wie sehr alles mit allem zusammenhängt, was insbesondere die gesamtgesellschaftliche Produktion aller Produkte betrifft und nicht, wie eine Privatwirtschaftsideologie immer noch meinen möchte, Ergebnis individueller Produzenten ist.

Und ein weiteres Phänomen bezieht sich auf den Punkt Vertrauen. Dieser Punkt hat nicht nur eine intersubjektive Dimension, die ein Verhältnis zwischen Menschen betrifft. Vielmehr geht es darum, wie sehr Methoden der Wissensproduktion nicht mehr länger durch Verfahren der individuellen Überprüfbarkeit und einem daraus resultierenden Fachexptertum legitimiert werden können, sondern durch nichts weniger als durch: Vertrauen.
So scheint bei Wikipedia sich gerade die Einsicht zu entwickeln, dass alle Wissensproduktion immer funktionierende Vertrauensbeziehungen voraussetzt. Und zwar wird diese Einsicht umso dringlicher, je auffälliger die Einsicht wird, wie wenig es dabei auf Vertrautheit der Menschen untereinander ankommt. Dies jedenfalls ist die erkenntnisleitende Beobachtung, die Methoden der Schwarmintelligenz zur Diskussion stellen kann. Im ganzen geht es dabei um eine Risikokalkulation, welche Ausdruck davon ist, dass Einzelne nicht über genügend Wissen verfügen, um als wichtig eingeschätzte Entwicklungen kompetent beurteilen zu können.

Risikobewusstsein ist dabei keineswegs eine vertrauensnegierende Sichtweise: Nicht nur Misstrauen, sondern auch Vertrauen beruht auf der vorherigen Wahrnehmung eines Risikos. Die Akzeptanz der Risikowahrnehmung als solcher ist damit notwendige Bedingung, um die Gewährleistung durch Vertrauen hervorbringen zu können. Man kann Risikobewusstsein nicht allein auf Misstrauen reduzieren, da sonst übersehen wird, dass erst in der Situation einer Risikobeurteilung ein Vertrauensgewinnung in Gang gesetzt wird. Methoden der Wissensproduktion können gerade dadurch an Akzeptanz verlieren, dass es den Beteiligten dann z. B. nicht möglich ist, Vertrauen zu addressieren, denn Vertrauen in Methoden ist immer Vertrauen auf Akzeptanz, für welche es in der Umwelt eines Wissenssystems Entsprechungen geben muss. Das gegenwärtig hartnäckigste Problem für ein Vertrauen in Methoden der Wissensproduktion dürfte in der immer noch verbreiteten Prominenz der Dokumentform liegen, die strukturell auch die Akzeptanz durch Wissensvermittlung determiniert. Akzeptanz ist aber immer auch eine Folge von Kompetenz, die durch spezifische Formen der Erfahrungsbildung erwartbar wird. Was passiert aber, wenn durch Bedienung vernetzter Computer beobachtbar wird, dass zu wenig Wissen für planendes oder kontrollierendes Verhalten zur Verfügung steht? Das macht ja nicht die Frage wichtig, wem man vertrauen kann, sondern wie Vertrauen zu finden ist. Die zunehmende Bedeutung des Selektionsmechanismus Vertrauen resultiert dann nicht aus dem Problem des Zu-wenig-Wissens, sondern stellt eine äquivalente, gleichwohl aber aus Ressourcengründen beschränkte Strategie des Umgangs mit Komplexität dar. Es ist ja gerade die funktionale Besonderheit von Vertrauen, dass es Komplexität fast ohne eigene Kompetenz reduziert. Diese Überlegungen machen deutlich, dass Verfahrensweisen, die immer noch der Dokumentform folgen, die Vertrauensproblematik vollkommen verkennen. Sofern es nämlich um Vertrauenssituationen geht, ist die Formel „Vertrauen durch Wissen“ gar nicht mehr angebracht. Will man die Diskussion über Methoden der Wissensproduktion verfolgen, so wird die erkenntnisleitende Frage andersherum lauten müssen, nämlich: Wissen durch Vertrauen.
Und darin zeigt sich dann der Blinde Fleck, den die Dokumenform immer nach sich zog: sie musste Vetrauen durch Wissen in Aussicht stellen ohne dabei auf die Bedingung dieser Möglichkeit zu achten. Die Bedienung vernetzter Computer macht notwendig auf die Verkehrung aufmerksam und damit auf den blinden Fleck einer auf Fähigkeiten des Subjekts vertrauenden Gesellschaft.
Siehe dazu auch: Wikipedia: Überlegungen zur Formbildung der „Schreibameise“

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