Alles hat ein Ende nur die Wurst hat zwei. Wikileaks und die Obszönität einer neuen Form der Empirie
von Kusanowsky
Nein. Hackr.de hat in seinem lesenswerten Beitrag vom 4. Dezember über die Irritationen anlässlich der Enthüllungen von Wikileaks noch nicht den entscheidenden Punkt getroffen. Tatsächlich scheint mir die Funktion der Irritationen über Wikileaks eher in der Überschreitung latenter Grenzen der Systemintegrität zu liegen, womit gesagt sein soll: Durch die Machenschaften von Wikileaks zerfällt der Strukturschutz, der sich durch die Regeln der Massenmedien operativ eingespielt hat und welcher sich durch dieselben vorhersehbar reproduzieren konnte, solange die Form, durch die die Systeme ihre Empirie formatieren, unangestastet blieb. Die Irritationen um Wikileaks sind darum auf der Ebene der Analyse von Manifestationen nur eine in die Übertreibung gehende Entwicklung, die sich durch die apokalyptische Funktion von Massenmedien ohnehin schon eingespielt hatte. Aber diese Übertreibung der Enthüllungsfunktion macht auf die Irreduzibilität von Skandalisierungen und Strategien der Fremdreferenzierung aufmerksam und wirft die Systeme gleichsam gegen ihre eingespielten Funktionsprinzipien auf die Kontrolle der Mechanismen zur Einhaltung ihrer Grenzverläufe zurück. Die Apokalyptik der Massenmedien erzwingt gleichsam eine reflexionsverstärkende Besinnung auf die Bedingungen der Systemerhaltung, was die Möglichkeit des Scheiterns der Systemintegrität wahrscheinlicher werden lässt.
„Das Web ist ein System, das es anderen Systemen ermöglicht, füreinander Umwelt zu sein.“ Das bemerkenswerte dieser Aussage bei Hackr ist nicht, dass sie so nicht stimmt. Vielmehr macht sie auf eine neue Formatierungsmöglichkeit von Erfahrung aufmerksam. Tatsächlich waren es bereits Verbreitungsmedien, angefangen mit dem Buchdruck, die es ermöglichten, dass alle Systeme füreinander als Umwelt fungieren können, weil sie für alle Systeme die selbe Empirieform zur Verfügung stellten: die Dokumentstruktur. Die strukurellen Koppelungen konnte durch eine Koordination der Erwartungsbildung hergestellt werden, indem die Systeme durch gegenseitige Beobachtung mit der Zeit lernten, wie man Texte oder Bilder, allgemein: Dokumente anfertige, interperierte, verteilte und verwaltete, wozu auch Kenntnisse des Entziehens und Geheimhaltens von Dokumenten gehörten. Das Web ermöglicht nicht eigentlich, wie Hackr schreibt, dass Systeme „sich anderen Systemen viel leichter als Umwelt zur Verfügung stellen“, sondern es erzwingt, dass sie sich der Verfügbarkeit ihrer Umwelt auf der Basis ihrer Empirieform nicht mehr entziehen können. „Systemen steht es im Übrigen auch völlig frei, sich nicht an das Web zu koppeln oder sich dem Web nicht zur Verfügung zu stellen“, schreibt Hackr, aber diese Freiheit haben sie tatsächlich nicht; und die Unfähigkeit, darin Einsicht zu nehmen, scheint mir der Grund für die Aufregung um Wikileaks zu sein.
Das meint in diesem Fall: Der Aufwand zur Geheimhaltung von Dokumenten – dazu gehört auch der Aufwand zur Generierung entsprechenden Wissens – wird so groß, dass er wahrscheinlich trotz aller rigiden Maßnahmen keine Erfüllungschancen mehr hat. Die Systeme scheitern an ihrer Erfahrungsform, weil die Möglichkeiten der Erfahrungsbildung über die Bedingungen der Dokumentstruktur hinaus gewachsen sind. Das System der Massenmedien verliert sein Erfolgsmedium. Das heißt nicht, dass die Unterscheidung von „informiert/nicht informiert“ wegfällt. Vielmehr kann sie auf der Basis der Dokumentstruktur nicht mehr zur Reproduktion derjenigen Erwartungen gebraucht werden, die durch die Möglichkeiten und Grenzen der Dokumentform in Erfahrung gebracht wurden. Das Beobachtungsschema der Systeme, die die Dokumentform als Form ihrer Empirie verwenden, unterdrückt die Möglichkeit, dass sie selbst auch gemäß eines ganz anderen Beobachtungsschema beobachtet werden können. In dem Maße, in welchem die Systeme ihre Kontingenz durch Übertreibung entfalten, können sie der folgenotwendigen Disruptivität nichts entgegen setzen: sie können ihre Kontingenz als Notwendigkeit, ihre Freiheit nur als Fessel und niemals als etwas anderes ermitteln. Sie haben keine bekannten Möglichkeiten, auf ihre Paradoxien paradox zu reagieren. Man könnte auch sagen: die Systeme wissen nicht, wie ihnen geschieht, sobald sie bemerken, dass das, was ihren Strukturschutz sicherstellte, anfängt, sich gegen ihre Systemstrukturen zu richten. Auf den Zusammenhang von Diplomatie, Spionage und Journalismus wirkt sich das so aus, dass die Systeme nur bemerken, dass etwas ganz Ungeheures geschieht, etwas, das ihnen dämonisch auf den Leib rückt, für das aber nach herkömmlichen Mustern der Konfliktregulierung keine probaten Mittel zu finden sind. Die Unterscheidung von „informiert/nicht-informiert“ erweist sich als das, was sie ehemdem schon immer war: sie war immer nur latent. Sobald sie aber auf der Ebene der Systemmanifestationen beobachtbar wird, muss ein anderes Beobachtungsschema bereits Verwendung finden, das solche Manifestationen dann als obszön, früher als Ketzerei, als Abweichung in Erscheinung treten lässt. Denn die Frage ist bald nicht mehr, worüber man (nicht-) informiert ist – wer traut sich noch zu, darüber zutreffendes zu sagen? – sondern nur noch, wie Informiertheit simuliert werden kann.
Diese Überlegungen gelten auch für ein System „Wikileaks“, das genauso wenig den Anforderungen entspricht, die durch ein nichtdokumentarisches Beobachtungsschemas anfallen. Die „Obszönität des Blicks“ ist kein erwähltes, gewolltes, nach Durchrechnung aller Entscheidungsmöglichkeiten akzeptiertes Beobachtungsschema, sondern nur der manifeste Ausdruck einer dämonischen Gewalt, die auch über Julian Assange hereinbricht.
(Weiter)
Siehe dazu auch:
Wikileaks – Metapher und Methode
Überlegungen zur Dämonie digitaler Medienpraxis 1, 2, 3
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