Die Berliner Gazette, der Antisemitismus und die Komplexität der Moral
von Kusanowsky
In dem Artikel heißt es: „Die Twitter-Bibel ist bereits ein mutiger Schritt…“ Diese Formulierung hatte ich zum Anlass für einen Kommentar genommen, in dem ich meine Skepsis gegen die „Mutigkeit“ dieses Projekts äußerste und statt dessen behauptete, es sei nicht mutig, sondern überfällig. Mein Kommentar:
Den Text der Bibel in Fragmente aufzuteilen und zitierbar zu machen ist das Ergebnis eines historischen Umformungsprozeses, der bereits mit dem Buchdruck eingesetzt hatte. Schon vor der Reformation wurde die Bibel von einem Monument in ein Dokument umgeformt. Die Monumentform der Bibel besagte, dass alles Textverständnis nur als ‚richtiges‘ Verständnis und damit als Gottes Wille möglich war. Wahrheit war das entsprechende Beobachtungsschema, das die Rezeption der Bibel steuerte. Mit dem Buchdruck und mit der Reformation änderte sich das. Die Bibel als Monument wurde in ein Dokument umgeformt, wodurch ein ganz anderes Beobachtungsschema entstand. Durch dieses veränderte Beobachtungsschema entstand auch das, was mit Andreas Rudolff-Bodenstein von Karlstadt angefangen hatte, nämlich die Textkritik als Methode der Exegese.
Dieser Kommentar wurde wiederrum von einem Leser namens „Salvy Ungemach“ kommentiert, der mich über die Falschheit einer ganz bestimmten Aussage in diesem Kommentar belehrte. (Den ganzen Verlauf der Kommentardiskussion kann man hier nachlesen.)
Durch Kommentar und Gegenkommentar kam eine Diskussion in Gang, die schließlich mit folgender Mitteilung von Salvy Ungemach enden musste:
Tja. Bis auf g.n. fällt mir nichts mehr ein.
Als ich diesen Kommentar gelesen hatte, fiel mir zunächst nur die Abkürzung „g.n.“ auf und ich fragte mich, was sie bedeuten könnte. Nach einer kurzen Internetrecherche schrieb ich:
Diese Abkürzung g.n. steht für ‚gojim naches‘ und ist in der jüdischen Familiensprache üblich gewesen. Mit dieser Abkürzung codierten Juden geringschätzende Meinungen über ihre christlichen Nachbarn, die scheinbar abseitige und zweifelhafte Auffassungen und Meinungen vortrugen. Wurden Juden danach gefragt, was diese Abkürzung bedeutete, antworten sie mit ‚ganz nett‘. So konnten praktisch beleidigende Äußerungen getätigt werden ohne das bemerkbar zu machen. Notwendig waren solche Codierungen aufgrund des virulenten Antisemitismus: Wenn Christen Juden beleidigten galt das als gewöhnliche Sache; aber andersherum wurde es den Juden zum Nachteil ausgelegt. Daher das ‚ganz nett‘ – die Juden entzogen sich auf diesem Weise dem Problem. Interessant ist nun, dass mit dem Internet solche Verheimlichungen nicht mehr funktionieren, weil man mit einfachen Mittel sehr schnell heraus finden kann, was gemeint ist, bzw. gemeint sein könnte. Siehe dazu: Chuzpe, Schmus & Tacheles: jiddische Wortgeschichten. Von Hans Peter Althaus
Am Tag zuvor hatte ich diesen Kommentar schon einmal angebracht, aber er ist von Chefredakteur der „Berliner Gazette“ – Fabian Wolff – einfach gelöscht worden. Mir wurde giftig mitgeteilt, dass mein Kommentar beleidigend sei. Deshalb hatte ich nun, beim zweiten Mal, folgenden Zusatz angefügt:
Ich bitte darum diesen Kommentar nicht zu löschen, weil noch nicht klar ist, ob sich irgendwer beledigt fühlt. Denn: wer beledigen will muss sich andere Formen der Codierung ausdenken. Und wer sich gegen Beleidigung schützen will auch. Einfach Kommentare löschen löst das Problem nicht.
Auch dieser Kommentar wurde wieder gelöscht mit der selben Behauptung. Man fragt sich, was das soll. Denn die Abkürzung „g.n.“ ist ein Ausdruck der beleidigendenden Geringschätzung, der gegen mich gerichtet war; diese Abkürzung tarnt sich aber als ironische Wendung ins Gegenteil, wenn man eben dies heraus findet. Eigentlich sehr lustig.
Zum Hintergrund: Eine Mitarbeiterin der Berliner Gazette – Magdalena Taube – hatte mich zuvor per E-Mail kontaktiert und angefragt, ob ich für die Berliner Gazette einen Artikel beisteuern wolle. Honorar gäb’s keins; es handelt sich um ein Amateurprojekt. Ich hatte zugesagt und einen Artikel zum Thema „Zerrüttung der Dokumentform durch das Internet“ abgeschickt. Noch bevor dieser Artikel erscheinen konnte ist es zu oben geschildertem Verlauf der Kommentardiskussion gekommen. Mit einiger höchst giftigen und rüden Begründung ist die Löschung meines Kommentars beantwortet worden, auch mein Versuch, auf ein Missverständnis aufmerksam zu machen, wurde genauso kaltschnäuzig und herablassend zurück gewiesen. Unter diesen höchst ungastlichen Umgangsformen kann ich natürlich nicht damit einverstanden sein, dass meine Artikel dort erscheinen. Denn wer weiß welche Frechheiten, gegen die zu erwehren man mir untersagt, dort außerdem noch entstehen können. Und nun? Man könnte diese Kleinigkeit als mangelnde Medienkompetenz abtun und das ganze auf die jugendliche Unerfahrenheit der Leute zurechnen, was gewiss die Sache zur Hälfte erklären kann.
Interessant ist dieses Affärchen aber aus einem ganz anderen Grunde, nämlich dann, wenn man es soziologisch ernst nimmt.
Die interessante Frage, die man gerade aus der Geschichte des Antisemitismus ableiten kann, ist immer noch höchst relevant. Wie schüzt man sich gegen Sinnzumutungen, die es auf die Zerstörung der sozialen Integrität von Personen abgesehen haben? Der Versuch der Beleidigung tritt als Ergebnis der doppelten Kontingenz auf. Alter und Ego können sich nur dann gegenseitig beleidigen, wenn sie übereinanander darüber informiert sind, dass Beleidigung als Beleidigung codiert ist. Wird aber ein Sinnangebot doppelt codiert und entlang einer Distinktionsachse, welche die Beobachtungsverläufe durch doppelte Kontingenz asymmetrisch ausfächert, in einen Mehrkontextzusammenhang gestellt, so ist prinzipiell eigentlich nicht eindeutig zu klären, ob eine Beleidigung ausgesprochen wurde oder nicht. Diese Uneindeutigkeit eines Mehrkontextzusammenhangs funktioniert damit wie eine Tarnung, eine Maskierung, die sicher stellt, dass man sich den Folgen der Kommunikation, zu deren Ergebnis man nichts beitragen kann, entziehen kann, ohne die Irreversibilität der Ereignisse als Kommunikationsproblem zu sehen. Im Gegenteil: die Unvorhesehbarkeit aller möglichen Folgen kann auf doppelte Weise reflektiert werden. Aber: was wäre, wenn eine solche Distinktionsachse selbst durch Mehrkontextzusammenhänge ihre Scharnierfunktion verliert? Wenn ein soziales Unterscheidungsprogramm, das etwa Attributionen über Relgions- oder Nationalitätszugehörigkeiten gewährleistet, durch andere Unterscheidungsprogramme in seinem Ablauf in der Weise gestört wird, dass Sinnzumutungen, die als doppelt codiert in Erscheinung treten, selbst wiederrum als doppelt codierbar dekonstruiert werden können?
Bei der Berliner Gazette können solche Vorkommnisse nur mit einer zurückgeblieben Humanmoral behandelt werden, die nichts dagegen einzuwenden hat, die Integrität des einen durch die Zerrüttung der Integrität des anderen zu verteidigen. Die Humanmoral der trivialisierten subjektphilosphischen Tradition steht als Hindernis im Wege. Diese Moral macht urteilslos, macht „menschendumm“.
Unter Anwendung von Occam’s Razor würde ich insgesamt der Ansicht zuneigen, daß Salvy Ungemachs “g.n.” als gängige Abkürzung von “good night” den konsenslos-abendlichen Abschluß der Diskussion repräsentiert.
@j.martin Abkürzung von “good night” – Das mag natürlich sein, aber macht die Sache aus diesem Grunde nicht weniger interessant, weil ja wenigstens der Versuch, Mehrdeutigkeit zu signalisieren, gut funktioniert hat. Bedenke etwa, dass von Beginn an von einer „talmudischen Tradition“ die Rede gewesen ist, innerhalb derer Methoden der Textkritik als schon erprobt verstanden werden, noch bevor solche Methoden durch den Buchdruck nicht nur für eine Theologie relevant wurden. Ich neige immer noch zu der Annahme, es handelt sich um eine „lustige Frechheit“; und als solche ist sie sehr lehrreich.
In diesem Fall würde ich es als einen interessanten und durchaus legitimen Fall von „overinterpretation” oder “creative misreading” bezeichnen, ausgelöst vom Kontext (Talmud). Aber es liegt nicht wirklich nahe — zum einen habe ich beispielsweise sowohl Slezak wie auch Teile aus Klemperers „Zeugnis” gelesen und wär da im Leben nicht drauf gekommen. Zum anderen war “goyim naches” im 20. Jahrhundert insbesondere beliebt als intrajüdische Stichelei gegen moderne, zumeist säkularisierte Juden, die am gesellschaftlichen/wissenschaftlichen Leben teilnahmen.
“Good night” ist insgesamt einfach plausibler 🙂
@j.martin „Aber es liegt nicht wirklich nahe“ – aber das ist das, worum es geht. Maskierung, Tarnung, Verstellung. Es kommt ja gerade nicht auf Eindeutigkeit an, denn wer good night sagen will, muss nicht auf etwas anderes aufmerksam machen wollen. Wer aber auf etwas anderes aufmerksam machen will, kann auch „good night“ gemeint haben. Statt solche Dinge einfach primitivmoralisch beseite zu schieben, wie man dies bei der Berliner Gazette getan hat, wäre andersherum interessanter, die Funktionsweise der Maskierung zu thematisieren, um den verbreiteten trivial-subjektphilosophischen Menschenstolz gegen die Zerrüttungerscheinungen, wie sie durch das Internet immer deutlicher zutage treten, in Schutz nehmen zu können. Stattdessen wird genau dieser Menschenstolz weiter, ganz naiv und unaufhaltsam geschrubbt.
Um die Debatte etwas zu verkürzen:
http://www.google.com/search?q=Salvy+Ungemach+goyim+naches+naches+berliner+gazette&ie=utf-8&oe=utf-8&aq=t&rls=org.mozilla:de:official&client=firefox-a
Das verkürzt die Debatte nicht, weil es hier nicht um Eindeutigkeiten geht. Es geht um die Vertauschbarkeit, um – soziologisch betrachtet – eine einseitige Inanspruchnahme einer doppelt kontingenten Betrachtungsweise. Dass diese Diskussion bei der Berliner Gazette abgwürgt wurde, verweist sicher auf eine defizitäre Medienkompetenz der Leute dort. Aber es reicht nicht, das Problem zu pädagogisieren.
Ha! Recherchiert ist halb gewonnen, THX, @msaics. Dinge mit hoher Sicherheit zu wissen, macht den Kopf für die Debatte frei. Und die wird entweder zunehmend interessanter und/oder zunehmend g.n., aber da fühle ich mich in guter Gesellschaft.
Ein Debattenfaden wäre: für wessen Augen wurde die Aussage verschlüsselt? Doch kaum für die des Adressaten, denn ein kommunikativer Akt kann nur gelingen, wenn die adressierte Person sowohl versteht, was kommuniziert wurde, als auch versteht, daß etwas kommuniziert wurde. Oder für die aller anderen, die zwar prinzipiell auch in der Lage wären, das was zu entschlüsseln, aber praktisch gar nicht erst auf die Idee kämen, daß etwas kommuniziert wurde, das zu entschlüsseln wäre?
Was zu einem weiteren Debattenfaden führt, nämlich der Löschpolitik der Berliner Gazette. Die sowohl die beiden erwähnten Kommentaren traf wie auch den zunächst veröffentlichen Trackback dieses Blogeintrags. Medienkompetenz? Schmedienkompetenz! Ich nenne das mal ganz unverschlüsselt krypto-totalitäre Zensur.
Und ich kann mir auch nicht vorstellen, daß das Abwürgen dieser Debatte im Sinne von Salvy Ungemach läge, aber ich lag ja heute schon einmal gründlich daneben.
„einseitige Inanspruchnahme einer doppelt kontingenten Betrachtungsweise.“ Feine Umschreibung von „Macht“. Ansonsten: To Spencer-Brown or not to Spencer-Brown.
@siggi 2 Feine Umschreibung von „Macht“ – wohl eher Gegenmacht oder besser: Widerstand.
@jay „Ich nenne das mal ganz unverschlüsselt krypto-totalitäre Zensur.“ Nun übertreib mal nicht. Es ist ein Selektionsgeschehen, dass sich reflexiv nicht zu sich selbst verhalten kann – Abschneidung von Kontingenz, oder – wie Siggi mitgeteilt – ein Gegenmachtentwurf, eine Widerstandshandlung, die ihren Widerpart nicht kennt, bzw. durch die Zerrüttungsprozesse des Internets sich nicht in Kenntnis über die Unkenntnis verbreiteter Differenzen setzen kann. Wer bist du? Wer bin ich? Wir wissen von einander nicht mehr voneinander, dass wir dies nicht von einander wissen. Das Internet liefert uns die Lösung, solche Identätskonstrukte nicht mehr als Problem behandeln zu müssen, aber sofern man eben das Beobachtungsschema nicht wechseln kann, bleibt nur: Ich weiß wer ich bin. Und wer du bist kann mir egal. Das nenne ich den trivial-subjektphilosophischen Zerfallsprozess, der an seiner Tradition orientiert bleibt, ohne zu bemerken, was die Stunde geschlagen hat. Als ich mit der Berliner Gazette wegen dieser Löschungs-Irritation telefonierte wurde mir signalisiert: Du hast jemanden beleidigt! Darüber reden reden wir nicht mehr. Wir haben keine Zeit. Mein Vorschlag, Zeit zu investieren, um entsprechende Medienkompetenz aufzubauen, wurde abgewiesen. Warum? Vielleicht durch die bereits angelaufene Pädagogisierung des Problems. Bei der Berliner Gazette werden Seminare zum Aufbau von Medienkompetenz durchgeführt. Und ich rate, woher der Zeitmangel kommt: Wir haben keine Zeit uns mit den Problemen zu befassen, die sich aus der Benutzung der Medien ergeben, weil wir unsere Zeit anderweitig einsetzen müssen, um mit den Medien zurecht zu kommen. Ich tippe auf selbstreferenzeill ausgewiesene Fremdreferenz; eine Allergie des faustischen Subjekts: bei allem Egoismus einfach nichts von sich selbst wissen zu wollen, weil andernfalls der Egoismus zerfällt.
Right. Insofern als diese Inanspruchnahme im Jahre 2010 nicht gelingt, wie dieses Posting demonstriert, da das Gespräch im Jahre 12 nach Cluetrain dann eben woanders weitergeht… Im übrigen scheint mir eine klassische (prä-Luhmann/Spencer-Brown) Kommunikationsdiskussion um die Bedeutung des Gemeinten eher uninteressant. Es handelt sich um austauschbare Symptome, die nur interessant werden wenn man versucht aus dem Kasterl rauszuspringen…
@siggi2 „Im übrigen scheint mir eine klassische (prä-Luhmann/Spencer-Brown) Kommunikationsdiskussion um die Bedeutung des Gemeinten eher uninteressant.“ – Ja, so sehe ich das auch. Nicht die Bedeutung des Gemeinten, sondern das Funktionieren der Maske, die Täuschung, der irritierend zufällig und dennoch so passend erscheinende Versuch, sich einem Problem zu entziehen, zu dessen Herstellung man nichts beitragen kann. In diesem Sinne wäre es mal interessant, statt sich mit einer Ideologiegeschichte des Antisemitismus zu befassen, eine Kulturgeschichte des Antisemitismus zu bedenken.
„Insofern als diese Inanspruchnahme im Jahre 2010 nicht gelingt, wie dieses Posting demonstriert, da das Gespräch im Jahre 12 nach Cluetrain dann eben woanders weitergeht“ – Genau. Aber: Maskierung durch doppelte Codierung dürfte gerade für das Internet wieder relevant werden, nur stellt sich mir die Frage, wie das gehen könnte.
Insofern sind das alles nur Präliminarien zu einer zukünftigen XXXX, die um Schrotteswillen am Detail nicht erblinden darf. Wer das erleidet, perpetuiert nur das Spiel innerhalb der Systemgrenzen, so gebildet wie auch immer… Seebären sind keine Philologen.