Löschen erzeugt Daten? Zur Dämonie von Google Street View
von Kusanowsky
Bei Telepolis findet sich ein Artikel von Jörg Räwel, der die Diskussion um das Treiben von Google aus soziologischer Sicht näher betrachtet. Dabei handelt es sich um einen Artikel, der zwar einer ansonsten theoriearmen Diskussion einen interessanten Punkt hinzufügt, der aber, außer einer Betrachtung von Paradoxien, auf die man sich einläßt, wenn man bei Google um „Verpixelung“ des eigenen Hauses bittet, kaum erklären kann, was nicht nur das spezifisch Neue an Google Street View ist, sondern warum diese Irritationen über das Geschäft von Google zustanden kommen.
Der Artikel bei Telepolis lässt sich mit diesem Zitat zusammenfassen: „Entgegen naiver Überzeugung und dann paradoxer Weise werden mit dem Löschen (Verblenden, Verpixeln) von Daten keine Daten vernichtet, sondern werden vielmehr neue Daten erzeugt. Es werden in diesem Akt der Unterscheidung (zu unverblendeten Immobilien), erst informative Unterschiede erzeugt.“ Das stimmt zweifellos, fügt aber den bislang erkennbaren und bereits verbreiteten Paradoxien keine neue Sichtweise hinzu. Wer bei Xing kein Profil eingerichtet hat, kann sich im Falle einer Bewerbung dadurch bei einem Personalchef verdächtig machen, man könnte etwas zu verbergen haben. Wird von der Kriminalpolizei ein Massen-Gentest durchgeführt, weil ein abscheuliches Verbrechen in der Region passiert ist, macht sich verdächtig, wer sich weigert, an einem solchen freiwilligen Test teilzunehmen. Man entkommt der Beobachtung nicht, da sie durch Beobachtung von Beobachtung entsteht.
Weiterführend würde ich die Aufregung um Google Street View als das Hereinbrechen einer sozialer Dämonie betrachten.
Soziale Dämonien brechen über die Systeme herein, indem sie jenseits einer Differenz von legitim und illegitim Anschlussnotwendigkeiten erzwingen. Diesseits dieser Differenz ergeben sich aus entwickelten Organisationsstrukturen Verfahrensweisen der Regelung von Ansprüchen, Begehrlichkeiten, Vorhaben und dergleichen. Jenseits dieser Differenz herrscht Unerfahrenheit. Wenn es sich dabei auch nicht voraussetzungslose Unerfahrenheit handelt, so doch um einen Kontext von lose gekoppelten Elementen der Erfahrungsbildung, die in einem Selektionsprozess auf ihre Verknüpftbarkeit betrachtet und erforscht werden. Man schaut, wie es weiter geht. Empirisch trifft man dabei immer wieder auf Verhaltensweisen, die Vermeidung, Verhinderung, Repression, aber auch Bagatellisierung und Verleumdung rechtfertigen. Solche regressiven Systemstrategien sind aber nur das komplementäre Gegenstück zu progressiven Strategien. In beiden Fällen geht es darum, Aufstauungsphänomene, die sich dämonisch, unvorhersehbar, aber erklärbar bilden, in Verfahrensweisen und Organisationsbildung zu überführen.
Bei Google Street View handelt es sich nämlich nicht einfach um eine Komplettdokumentation des öffentlichen Raumes, sondern um seine Simulation. Der Beobachtbarkeit des öffentliche Raumes wird unter ein neues Beobachtungsschema gestellt. Betrachtet man den Unterschied, der durch Google Street View entsteht, kann man bemerken, was sich ändert. Als öffentlicher Raum trat bisher als das in Erscheinung, was sich aus der Analyse von Dokumenten verschiedener Art, die chorologisch verstreut, unter der Verwaltungskompetenz verschiedener Funktionsysteme, zugänglich und deren Informationsgehalt performativ nirgendwo vollständig miteinander verknüpfbar waren, als öffentlicher Raum ergab: Straßenbeschilderung, Stadtpläne, geo-soziale Aufteilungen des Raumes und seiner Benutzung, bzw. Markierungsdokumente über Raumaufteilung: private und gewerbliche Nutzung; Verkehrsraum- und Erholungsflächen; aber auch Verweisungszusammenhänge von Dokumenten auf andere Dokumente: der Postkartenständer in der Fußgängerzone mit einer bekannten Sehenswürdigkeit, der direkt vor dieser Sehenswürdigkeit aufgestellt ist; der öffentliche Stadtplan, der den ganz bestimmten Standort dokumentiert, von dem aus gesehen man die nähere Umgebung erschließen kann, die auf diesem Stadtplanausschnitt abgebildet ist; die Übereinstimmung von Hinweisschildern und Zielortbestimmung. Woher weiß man denn, dass man in genau dem Parkhaus angekommen ist, dessen Hinweisbeschilderung man gefolgt ist? In allen Fällen verweisen Dokumente auf andere Dokumente, die den ganzen Raum für alle erschließbar machen. Aber man muss diesen Raum durchqueren, sich selbst in Bewegung setzen um ihn zu verstehen.
Und wie gut das funktioniert kann man in Sonderfällen ablesen, wenn die Orientierung misslingt: Wenn sich etwa die Einbahnstraßenregelung ändert, wenn Umleitungen für Baustellen nicht eindeutig sind. Wenn mit dem langersehnten Besucher, der selten kommt, nach erfolgreicher Ankunft erst einmal die zurück gelegte Route besprochen wird, um eventuelles Fehldeuten der Fahrstrecke zu erläutern, so wird damit eine Routine abgespult, deren Einübung keineswegs so selbstverständlich und störungsfrei war, wie man das zunächst glauben möchte.
Was mit Google nun entsteht sind die ersten Schritte in eine Beobachtung der Gleichzeitigkeit von Orientierungsoperationen, indem der Standpunkt, von dem aus der Raum erschlossen wird, zu jedem Zeitpunkt performativ mit allen anderen relevanten Informationen über den Raum an der selben Stelle verknüpft werden kann, ohne den Raum durchqueren zu müssen. Auf den ersten Schritt, der nur ein fotografisches Standbild des Raumes zeigt, müsste konsequenterweise ein laufendes Bild folgen: Die Fußgänger, die gerade über den Parkplatz schreiten, erscheinen dann als die selben, die man auf dem Handy über den Parkplatz schreiten sieht, während man das Handy bedient, um Parkgebühren online zu entrichten. Und die interessante Frage ist eigentlich, was geschieht, wenn alle Orientierung, sobald sie für ihr Gelingen auf die Komplettsimulation des Raumes angewiesen ist, auf das Risiko ihres Misslingens reagieren wird. Das heißt: welche Strategien der Irreführung oder Manipulation sind dann noch möglich, um sich selbst im Falle eines Falles der Beobachtbarkeit zu entziehen?
Man könnte daher die Verpixelung des fotgrafischen Abbildes des eigenen Hauses in dieser Hinsicht deuten als erste und wenig erfolgreiche Erforschungsschritte eines sozialen Systems, das lernen muss, durch das Löschen von Daten Daten der Irreführung, bzw. der Maskierung von Standortbestimmungsmerkmalen zu erzeugen.
Schön geschriebener Artikel (sowohl der Räwel’sche, als auch deiner). Die spannende Frage, die aus dem Google-Projekt samt kommunikativem Echo für mich resultiert, lautet wie folgt: Wie ließe sich intelligent, d.h. um die Paradoxie der Pixel wissend, auf die Herausforderung durch „das neue Medium Street View“ reagieren? Wie auf den blinden Fleck der Spezialkameras aufmerksam machen? Wie lässt man Google sehen, was es nicht sieht? Intuitiv laufen diese Überlegungen „rechnerseitig“ ins Leere, eine Frage für cultural hacking im sogenannten „real life“?
Vgl.
http://medialogy.de/2010/02/02/stealth-technologien-und-cultural-hacking-fur-die-nachste-universitat/
http://culturalhacking.wordpress.com/cultural-hacking/
@sebastian – „Wie lässt man Google sehen, was es nicht sieht?“ – Das ist genau die Frage, um die es mir geht. Da ich keine Antwort habe, bleibt nur Forschung. Aber wie und womit anfangen.
Meine Überlegung bis zu dem Punkt, an dem ich erkenne, dass ich mich irre, lautet: Wie funktionieren soziale Maskierungsverfahren? „eine Frage für cultural hacking im sogenannten „real life“? – Ja. Aber wie funktioniert es?
„Das ist genau die Frage, um die es mir geht.“
Schön. Wir betrachten die gleiche Frage als spannend. Eine erste, beruhigende Erkenntis. Wie eine durch „cultural hacking“ inspirierte Entfaltung der Paradoxie genau aussehen könnte? Man ist zunächst versucht, an das spielende Kind in Großbritannien (http://j.mp/svhack1) bzw. den Mann mit Pferdekopf (http://j.mp/svhack2). Nun hilft das nur implizit bei unserer Frage… für die von dir vorgeschlagenen Beobachtungsschemata hieße das: dokumentiert und doch nicht-dokumentiert (also: maskiert, invisibilisiert) bzw. simulierte Nicht-Simulierbarkeit. Ein „stealth-mode“ für ganze Straßenzüge? 😉
@sebastian: „Ein „stealth-mode“ für ganze Straßenzüge?“ – Diese Frage ist wohl von Skepsis geprägt, die durchscheinen lässt, dass kollektiv koordinierte Maskierungsmethoden realistisch wohl nicht durchführbar sind. Wenn das so gemeint ist, würde ich mich dieser Skepsis anschließen. Was ich versuche zu argumentieren ist, dass das dokumentarische Beobachtungsschema in dem Maße zerrüttet wird wie andersherum ein Simulationsschema an Relevanz gewinnt. Wie auch immer Maskierungsverfahren funktionieren können, sie profitieren parasitär von der Zerrüttung des Dokumentschemas; parasitär, weil sie zur Zerrüttung nichts beitragen können.
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