Entschwinden und verbleiben
von Kusanowsky
Es ist bis heute kaum abzuschätzen, welche Lernprozesse die Gesellschaft durchlaufen muss, um mit dem Erfahrungswandel, den das Internet nach sich zieht, Schritt halten zu können. Die Industriegesellschaft zeichnete sich vor allem dadurch aus, dass der gesamte Bereich der Warenproduktion und die sich darum herum aufbauenden Systeme ein spezifisches Verhältnis zur menschlichen Körperumwelt einrichten mussten. Dabei ging es in erster Linie um die Verfügung über Körper ohne die Zugriffsmöglichkeit eines Körpers auf einen anderen. So ist es kein Wunder, wenn man eine simultan ablaufenden Steigerung von Körperverdrängung und Körperaufwertung in der modernen Gesellschaft feststellen kann. Um den Körper auf den Bildschirm dieser Gesellschaft zu bekommen, erscheinen Menschen im allgemeinen und Körper und Psyche im besonderen als Umweltfaktoren für funktional-differenzierte Teilsysteme. Die evolutionäre Möglichkeit dieser funktional ausdifferenzierten Teilsysteme besteht nun in ihrer Möglichkeit, über sich selbst zu reflektieren und dies in die Systemgestaltung einfließen zu lassen, indem man etwa danach fragt, wie über den Körper und das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft kommuniziert wird. Geht man von einer begrenzten Resonanzfähigkeit der Gesellschaft gegenüber ihrer Personen- und Körperumwelt aus, so fallen vor allem auf die Paradoxien von Körperaufwertung und Körperverdrängung auf, sobald die Gesellschaft mit Körperthematisierung auf sich selbst und ihre Defizite reagiert.
Der Körper scheint zu einem Symbol für eine noch kontrollierbare Wirklichkeit, zum Vehikel für Selbstbehauptungsstrategien und Kausalitätserfahrungen, zur einer Sinninstanz zu werden, an der sich eine Vielzahl von Spezialisten zu schaffen machen. Zwar treten manche dieser Körperspezialisten mit dem Anspruch auf, eine wie auch immer geartete Ganzheitlichkeit des Körpers zu betrachten, doch möchte man vermuten, dass auch die Spezialisierung auf das scheinbar Unspezialisierte eine Spezialisierung ganz im Sinne der modernen Gesellschaft ist. Gleichzeitig wird deutlich, dass diese Simultanpräsenz von Körperverdrängung und Körperaufwertung nicht als Nullsumenspiel funktioniert. Sie scheint als Daueraufgabe bestehen zu bleiben, insbesondere unter Berücksichtigung virtueller Kommunikationsmöglichkeiten. Die ökonomische Kolonisierung des Körpers hat zur Herstellung sich selbst reflektiertender Identitätsvorstellungen geführt und diese Strukturbildungen bilden die entscheidende Grundlage für die Ausgestaltung von Körperinszenierungssimulationen.
Sehr viel gewinnbringender könnte ich Ihre systemischen Reflexionen lesen, wenn sie mit Beispielen illustrieren würden, auf was Sie sich beziehen.
Ich kann es erahnen, aber wen oder was meinen Sie mit z.B. Körperverdrängung? (Denkarbeiter, Verdrängung des Todes in Krankenhäuser…?) Oder mit Körperaufwertung? (Zeitschriften wie Mens Health, GNTM, Jogger…?) . Wer sind Spezialisten der ganzheitlichen Körperlichkeit? (Homöopathen, TCM…?).
Ich läse Ihre Beiträge mit deutlich mehr Lust und weniger Anstrengung und Unsicherheit, würden Sie hin und wieder konkret beschreiben, auf was sich Ihre Abstraktionen beziehen.
„Ich läse Ihre Beiträge mit deutlich mehr Lust und weniger Anstrengung und Unsicherheit, würden Sie hin und wieder konkret beschreiben, auf was sich Ihre Abstraktionen beziehen.“ – Der Einwand ist sehr berechtigt. Die Art wie ich schreibe hängt sehr eng mit dem zusammen wie ich mir unter Schriftstellerei vorstelle, wenn Schriftsteller keine Dokumente mehr anfertigen. Ich sammle Überleugungen und versuche dann zunächst erst mal, sie so abstrakt zu formulieren, dass ich mich auf Überraschungen einlassen kann, wenn ich feststelle, dass ich manches hinsichtlich verschiedener Beispielthemen entweder schon geschrieben habe oder – was noch besser ist – wenn ich hinsichtlich verschiedener Beispielthemen anschlussfähigen Ergänzungsbedarf feststelle. Außerdem kommt hinzu, dass ich irgendwie immer damit rechne, dass mich andere mit Hinweisen, seien es eigene Argumente, seien es Links irritieren. Irgendwie rechne ich damit, dass meine Leser selbst Schreiber sind und dadurch ständig Irritationen anliefern. Sehr gut geklappt hat das in diesem Fall https://differentia.wordpress.com/2010/07/20/die-abwesenheit-des-korpers-oder-interaktion-als-kommunikation-zwischen-absentierenden-beobachtern-i/ wo der Leser Filterraum als Kommenar einen Link postet und abwartet, ob mir etwas dazu einfällt. Diese Verfahrensweise von Filterraum ist besser als zu fragen: „Hey, sag mal was meinst du damit?“ Stattdessen scheint es besser zu sein zu signalisieren. „Hey, schau mal, das ist mir dazu eingefallen/das habe ich gefunden…“ Ich frag dann nicht, was er sich dabei gedacht hat, sondern ob mir etwas dazu einfällt. Wir sollten uns vertrauensvoll der Spinnerei überlassen und die harte Arbeit zur Aufrechterhaltung der Lebensfunktionen den Maschinen überlassen. Ich vermute jedenfalls, dass Spinnerei gesünder ist als täglichen robotten zu gehen (Campino.)
Ich glaube jedenfalls, dass die Zeit vorbei ist, in der noch angenommen werden könnte, wir hätten es mit einem Text zu tun und dahinter stünde ein unheimicher Denker mit heimlichen Gedanken. Ich meine dagegen, wir haben es nur mit Texten zu tun, die auf andere Texte verweisen. Es käme entsprechend darauf an, Texte mit Texten zu konfrontieren, zu ergänzen, zu zerrütten, zu kombinieren, zu loben, zu vernichten, zu erläutern. Ich gebe zu, dass es schwer fällt sich rücksichtslos gegen die vermeintliche Heimlichkeit eines Geschehens unter der Schädeldecke eines Denkers zu verhalten. Aber lernen werden wir es ja doch. Glaub ich.
„Hey, sag mal was meinst du damit?“ Stattdessen scheint es besser zu sein zu signalisieren. „Hey, schau mal, das ist mir dazu eingefallen/das habe ich gefunden…“
Hey, mir gefällt das. Mir fällt dazu ein, dass in einem Dialog keine Verständnisfragen erlaubt sind.
Gut gegeben. In meinen inspiriertesten Phasen ist es meinen Textchen ebenso ergangen, bis ich dann in einem trotzigen Minilog dem Herrn Prof Lorenzdingens beim Flughafen-Webmontag entgegnete, das man versuchen sollte so zu schreiben, das man sich selbst noch überraschen könnte, sich selbst gerade nicht mehr versteht, was ihm als Journalisten natürlich nur einen blank look entlockte. Alles andere ist ja nur bürokratische Explikation und eigentlich schon passee. Stil ist somit wahrlich nicht äusserlich und insofern proportionaler Ausdruck des eigenen Erkenntniswagnis. Der Rest ist kamouflierte Jobsuche und wenig funny.
Addi aus dem Wiesengrund meinte dunnemal dazu:
„Die Aufforderung, man solle sich der intellektuellen Redlicheit befleissigen, läuft meist auf die Sabotage der Gedanken heraus. Ihr Sinn ist, den Schrifsteller dazu anzuhalten, alle Schritte explizit darzustellen, die ihn zu seiner Aussage geführt haben, und so jeden Leser zu befähigen, den Prozeß nachzuvollziehen und womöglich – im akademischen Betrieb – zu duplizieren. Das arbeitet nicht bloß mit der liberalen Fiktion der beliebigen, allgemeinen Kommunizierbarkeit eines jeden Gedankens und hemmt dessen sachlich angemessenen Ausdruck, sondern ist falsch auch als Prinzip der Darstellung selbst. Denn der Wert eines Gedankens mißt sich an seiner Distanz von der Kontinuität des Bekannten. Er nimmt objektiv mit der Herabsetzung dieser Distanz ab; je mehr er sich dem vorgegebenen Standard annähert, um so mehr schwindet seine antithetische Funktion, und nur in ihr, im offenbaren Verhältnis zu seinem Gegensatz, nicht in seinem isolierten Dasein liegt sein Anspruch begründet.“
„Der Rest ist kamouflierte Jobsuche und wenig funny. “ schön formuliert, und deshalb zurückweisungsbedürftig: sehr verständlich, geht’s nicht auch ein bißchen wirrer?
Klar. Ich darf mich selbst zitieren:
http://www.siggibecker.de/blog/archives/2005/12/zaun-provinz/
Als Gratisgeschenk gibts heute noch zerschossene Umlaute, da momentan Serverumzug läuft.
@siggi2 Das zeigt: sobald man verstanden hat was gemeint ist, ist es unmöglich nicht zu verstehen, was sonst noch gemeint sein könnte.
so circa 😉 Deswegen ist Dichtung auch realer als akademisches, kongeniales Verständnis, das ohnehin (zumindest in den nichtverifizierbaren Höhen der Soz) tertium non datur als Machtspiel missversteht.
„Deswegen ist Dichtung auch realer als akademisches, kongeniales Verständnis, das ohnehin (…) tertium non datur als Machtspiel missversteht.“ Ja, aber: warum geht es in der Wissenschaft nur so und nicht anders? Wissenschaftler sind keine Dichter. Aber sowohl hinsichtlich der Wissenschaft als auch der Dichtung hat die moderne Gesellschaft den faustischen Habitus geprägt: den Weltenversteher, Weltenbezwinger, Weltendurchdringer, den Veränderer, den Förderer, den Beherrscher, aber auch den Diener und den Knecht. Es scheint mir gerade die Ähnlichkeit des Wissenschaftlers und Dichters zu sein, die sie enzweit. Als säkulare Weltversteher gibts für beide nur eine Welt, in welcher beide nur als Entwurf in dieser Welt vorkommen. Der Gedanke daran ist für das faustische Subjekt kränkend. Deshalb können sie nur gegen die Welt rebellieren, die sie verstehen, was letztlich heißt: sie rebellieren gegen einander und gegen sich selbst. Und die Aussichtslosigkeit dieses Kampfes kondensiert in der Trivalität des faustischen Habitus.
[…] Fortführung einer Bewegung des medialen Ausgreifens in immer fernere Bereiche verstehen lassen. Präsenz und Absenz gehen zunehmend ineinander über, geraten ins Gleiten und werden ihrer eindeutigen Zuordnung […]