Differentia

„Demokratie ist das Opium des Volkes“ – Bemerkungen zum aktuellen Stand der Diskussion

In der gerade heiß laufenden Diskussion bei weissgarnix findet sich inzwischen eine lange Liste mit Kommentaren zu meinem Artikel, unter welchen einige recht interessante Argumente enthalten, aber – soweit ich das überschauen kann – ist bisher nur dem Leser froZ eine weiterführende Betrachtung gelungen, was nicht heißen soll, dass alle andere Überlegungen gegenstandslos wären; allein, manchmal reicht schon wenig aus, um einen interessanten Schritt weiter zu kommen. froZ zitiert eine längere und recht eindrucksvolle Passage aus Karl Emil Franzos’ Buch mit dem Titel “Aus Halb-Asien”, Leipzig 1876, indem dieser einen Wahlvorgang im habsburgischen Galizien beschreibt, zu einer Zeit, als dem demokratischen Verfahren noch strenge Schranken auferlegt wurden; man also zwar schon damit anfing, demokratische Elemente in der Entscheidungsfindung zu berücksichtigen, diese aber, aufgrund eines mangels an Erfahrung, von der damaligen Obrigkeit noch mit größter Geringschätzung bedacht wurden. Interessant ist diese Passage insbesondere in Hinsicht auf die Praktikabilität von Manipulationsmöglichkeiten eines Wahlausgangs, die deshalb gut funktionieren konnten, weil die Voraussetzungen für die Problemerfahrung hinsichtlich des demokratischen Verfahrens sich unter Verhältnissen entwickeln mussten, für die Demokratie gleichsam als realitätsferne Utopie empirisch in Erscheinung trat. Denn: wie könnte Demokratie funktionieren, wenn es ihr an Demokraten mangelt? Nicht zu Unrecht hat man deshalb bemerkt, dass die Weimarer Republik in Deutschland wegen eines Mangels an Beteiligung abgesagt wurde. Die obrigkeitsstaatlichen Strukturen konnten sich dem modernen Selbsterfahrungsprozess noch widersetzen, ohne, dass dieser Widerstand als unmodern bezeichnet werden könnte. Das Ende dieser Geschichte ist bekannt.

Die Fortsetzung dieser Geschichte findet aber unter gänzlich veränderten Voraussetzungen statt. Dies betrifft insbesondere nicht allein die weitreichende soziale Akzeptanz von Demokratie und ihren Freiheitsrechten, von welchen die ganze Bevölkerung in Europa täglich Gebrauch macht, sondern in erster Linie ist mit der Steigerung der sozialen Akzeptanz eine Erscheinung verbunden, welche frühen Radikaldemokraten des 19. Jahrhunderts gänzlich absurd erschienen wäre, zumal man bemerken kann, dass nicht wenige ehemalige radikaldemokratische Vorstellungen des 19. Jahrhunderts inzwischen zum Standardprogramm jeder Partei gehören. Die Rede ist hier von dem performativen Selbstwiderspruch der Demokratie, der dadurch entsteht, dass die Forderung nach der Freiheit, wählen zu dürfen, keine Wahlalternative entgegen steht. Demokratie ist praktisch  – gemäß eines in den letzten Wochen öfters gehörten Wortes – alternativlos, was heißen soll: Wir haben keine Wahl mehr. Diese Paradoxie ist damit gleichsam ein Indikator für ein Beobachtungsdefizit, das durch den sozialen Selbsterfahrungsprozess eine Problemsituation erzeugt, deren Aussichtslosigkeit nicht voraus zu sehen war, und – wie es scheint – bislang keine anschlussfähige Möglichkeit des Ausweichens erbringt als die, das demokratische Verfahren immer noch als Lösung zu sehen für ein Problem, das sich allerdings durch den Erfolg der Demokatie längst erledigt hat. Denn auch demokratiefeindliche Gesinnungen sind, wenn auch keine sehr schönen, nur Tupfer auf einer ansonsten recht bunten Blumenwiese. Die demokratische Erfahrungsbildungsprozess hat zwar eine Umgangsweise damit gefunden, aber dieser Prozess steht seiner eigenen Zukunft notwendig indifferent gegenüber, solange auf Problemerzeugungsroutinen bestanden wird, deren Ergebnisse rückkoppelnd nichts anderes bewirken als die Verstärkung dieser Routinen. Gemeint sind damit in erster Linie Unterscheidungsprogramme, deren Inkommensurabilität mehr und mehr ins Auge sticht, wie etwa die Unterscheidung von Kapital und Arbeit oder die von Rechten und Pflichten. Man denke hier etwa an die Hartz IV-Gesetzgebung, die hilflos versucht, ein Recht auf Arbeit in eine Arbeitspflicht umzumünzen. Auch kann man bemerken, wie die Unterscheidung von Innen- und Außenpolitik zusehends brüchig wird, ja, sogar rechtsstaatliche Garantieen, die auf einer Unterscheidung von Sicherheit und Freiheit beruhen, können nicht länger durchgehalten werden. Dies nicht etwa deshalb, da es an demokratischer Zuverlässigkeit mangelte, sondern weil in institutionalisierte Zuverlässigkeit demokratischer Entscheidungsfindungsprozesse ihr Problem verloren haben, durch welche sie als Lösung in Erscheinung traten.

Als Scheinlösung bleibt entsprechend nur verstärkte Beharrlichkeit zu demonstrieren, also strukturkonservativ die Einhaltung von Versprechungen zu ventilieren, deren Nichteinhaltbarkeit praktisch schon unmöglich geworden ist. Die daraus resultierenden Selbstwidersprüche haben für einen besonnen Beobachter gleichsam schon parodistischen Charakter, denkt man dabei etwa an die vorhersehbare Einrastung der sogenannten „Ypsilanti-Falle“ bei der Wahl in Nordrhein-Westfalen.

Unverdrossen wird Demokratie als die Lösung für ein Problem verkauft, von welchem keine konsensfähige Meinungsbildung darüber möglich ist, worin es eigentlich besteht. Demokratie ist entsprechend nur das Opium des Volkes, nichts anderes als ein Seufzer der bedrängten Kreatur, die ihre Hilflosigkeit durch den unverbrüchlichen Glauben an die himmlische Erscheinung demokratischer Versprechungen kompensiert.

Karl Marx: Religion ist das Opium des Volkes

 

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Zur Diskussion über Politik, Moral und Letztbegründungen

Nachdem mein Artikel „Koch oder Kellner – Paradoxien der modernen Politik“ bei weissgarnix einige Diskussionen verursacht hat, wird es Zeit für eine Diskussion über diese Diskusssion.

Was man zunächst feststellen kann ist, dass sich eigentlich nichts Brisantes ereigent hat: verschiedene Beteiligte tragen verschiedene Meinungen über verschiedene Selektionsleistungen vor, deren Legitimität an keiner Stelle und von keinem der Beteiligten bestritten wird. Wie könnte das Gegenteil auch angehen? Weshalb sich einige Diskutanten, da Legitimitätsfragen im modernen Staat performativ nur schwer problematisierbar sind und Meinungsäußerungsverbote fast nicht durchgesetzt werden können, auf das moralische Diskutieren verlegen, indem sie dem kritisierten Autor die Wertschätzung versagen, wodurch der Fortgang der Diskussion aber keineswegs blockiert wird. Außerdem kann man feststellen, dass der performative Selbstwiderspruch nicht an der selben Stelle beobachtet werden kann, an welcher er entsteht: da die Legitimität der Gesprächspartizipation außer Frage steht, können nur Geringschätzungsurteile über Wortwahl, Stil und Sprachdesign moniert werden und dies auf einem stilistischen Niveau, das an seiner Untergrenze kaum eine weitere Ebene mehr zulassen kann. Das Recht auf Meinung wird hier wie woanders auch in demokratischen Verhältnissen mit dem Recht auf Urteilslosigkeit verwechselt. Und wo diese Beobachtung unzutreffend erscheinen mag kann man wenigstens noch von normalen Affektstörungen sprechen, die im Sprachhabitus beobachtbar werden, wenn den Beteiligten ihre intellektuelle Überforderung selbst suspekt erscheint.

Es wird einem ja auch sehr einfach gemacht, da der Verlust von Letztbegründungsvorbehalten keineswegs dazu führen muss, Letztbegründungen vorzutragen. Im Gegenteil. Ein Beobachter, der sich auf Normativität in Strukturbildungszusammenhängen bezieht kann jederzeit und berechtigtweise den Verzicht auf Normativität selbst als solche bezeichnen und seinem alter ego eben jenen Vorwurf machen, gegen welchen er sich selbst immunisiert. Das gewöhnliche daran ist ein beobachtbarer Mangel an Lernbereitschaft, wobei es sich allerdings nicht um ein unzulässiges Defizit handelt, dessen Behebung eine vordringliche Aufgabe sei. Ein Mangel an Lernbereitschaft ist auch funktional von Bedeutung, sorgt er doch dafür, dass die diesem Mangel unterliegenden Gewissheiten gleichsam selbst-parasitär ihren Kontext auf eine Weise strukturieren, der Abweichung durch Wiederholung derselben Gewissheiten immer wahrscheinlicher macht. Das scheint mit der wichtigste Grund dafür zu sein, weshalb das sogenannte „freie Wort“ unverzichtbar bleibt. Nicht mehr ist damit aber noch ein Recht auf Irrtum gemeint, wie dies im 18. Jahrhundert von Demokratieoptimisten postuliert wurde: „Ich verachte Ihre Meinung“, schrieb Voltaire, „aber ich gäbe mein Leben dafür, dass Sie sie sagen dürfen.“ Ein moderner Kämpfer für Meinungsfreiheit versteht einen solchen Optimismus nicht mehr.

Die zivilisatorischen Effekte der sozial konditionierten Veränderungen in der anthropogenen Umwelt lassen eine solche Affekthemmung nicht mehr zu. Stattdessen scheint gerade die Enthemmung der Affekte von einer typischen und systembedingten Trivialisierung der Umwelt zu zeugen, die, entgegen landläufiger Ansicht, nicht dazu führt, dass die Menschen immer dümmer werden. Vielmehr scheint mir die Überlegung bedenkenswert, dass wir es mit der Trivialisierung einer systeminternen Umwelt zu tun haben, die in der Konsequenz zu einer Verstärkung der Reflexivität führt, da Abweichung aufgrund dieser Trivialität mehr und mehr die Beobachtung zu faszinieren vermag. Die Verdummung der sozialen Systeme geht nicht notwendig einher mit der Verdummung von Menschen. Allerdings handelt es sich hier wie auch in anderen Fällen um die Inkaufnahme eine Risikos, da kein System seine Zukunft vorhersagen kann; und darum keineswegs gewiss ist, ob solche Systemstrategien tasächlich in der Überwindung eines überlieferten Paradigmas münden.

Keiner mehr kann seine Moral auf andere durchsetzen. Und was geschieht, wenn nicht einmal Geringschätzung und Beleidigung den Fortgang der Kommunikation zu blockieren vermögen? Daraus würde dann andersherum, durchaus in normativer Hinsicht, der Gedanke resultieren, dass man das, was ohnehin nicht unterbunden werden kann, auch nicht mehr als Defizit begreift, was heißen könnte: Alles als Argument zu betrachten, dazu zählte dann die einfache Beleidigung genauso wie der verleumderische Rufmord. Auch die Beschimpfung als Substitutionsmaßnahme der Verständigungsbereitschaft wäre dann legitim. Die Behauptung, dass die Entartung aller Moral nur degressiv wirken kann, hat bislang jedenfalls keine empirische Relevanz.

Vgl. dazu Koch oder Kellner – Paradoxien der modernen Politik

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