Differentia

Moral und Moraltheorie

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Durch Moral werden die Bedingungen kommuniziert, unter denen die Beteiligten die Bereitschaft zeigen, anderen Respekt entgegen zu bringen. Moral ist entsprechend die besondere Art von Kommunikation, die Zeichen von Hoch- und Geringschätzung mit sich führt und diese Zeichen symbolisch generalisiert. Die Erwartung von Respekt wäre demzufolge ein moralisches Prinzip, das sich im Gesellschaftssystem der Kommunikation aussetzt und sich auf diese Weise selbst respezifiziert. Abweichend von gängigen Vorstellungen könnte Moral auch als gewaltnah verstanden werden und streiterzeugend wirken. Dem steht aber nicht entgegen, dass Moral auch nur tendenziell die Konfliktentwicklung verstärken kann und damit ein Hinausgehen über den ursprünglichen Streitanlaß ermöglicht, weil sie im Fortgang der Kommunikation weiterführende Motive dafür schafft, sich in der Stabilisierung der eigenen Position oder in der Geringschätzung des anderen geachtet zu fühlen.

Zur Affirmation von Moral ist deshalb eine Metamoral erforderlich, die man mit Takt bezeichnet. Über die Moralisierung von Takt kann Moral reflexiv werden – nicht im Sinne einer weiteren Begründung ihrer Begründungen, sondern im Sinne einer Anwendung von Moral auf die Kontrolle der spezifischen Risiken, die durch Moral selbst entstehen, ohne dabei diesen Umstand in der Formulierung von moralischen Prinzipien wiederum zu berücksichtigen.

Zu den Eigenheiten der Moral gehört auch die Beobachtung einer Differenz von Normalität und Devianz. Abweichungen vom Üblichen können dann moralisch bestraft werden. Die Sanktionierung von Devianz kann in allen gesellschaftlichen Teilsystemen Auswirkungen zeigen. So gibt es zum Beispiel im Bereich der Moral Symptome für Rechtsfeindlichkeit. Sicher wird keine Moraltheorie und kein Moralprinzip das Recht generell ablehnen, aber wir alle kennen die Beobachtung, dass das ständige Zitieren von Paragraphen im täglichen Leben, wo es eigentlich auf Zusammenarbeit ankommt, also unter Nachbarn oder in Ausschüssen, im Betrieb, ja selbst im Geschäftsverkehr, sehr wohl Störungen hervor ruft, ja sogar als Feindseligkeit verstanden wird. Man denke dabei besonders an die vielen Abwahnwellen, die  über Internetuser  hereinbrechen.

Unsicherheiten, Angst und das Begehren, Unvorhersehbarkeiten kontrollieren zu müssen, lässt zu externen Referenzen greifen. Hieraus mag auch das Bestehen auf Ethik und Moral resultieren. Das System hält dabei die Formen moralischer Komplexität verfügbar, auch wenn diese nicht zu jeder Gelegenheit benutzt werden. In Anspruch genommen werden diese Formen insbesondere dann, wenn von anderen verantwortete Situationen als pathologisch empfunden werden. Die Wirkung von Moral ist in dieser Hinsicht eher eine Behinderung für die normale Reproduktion der gesellschaftlichen Teilsysteme. Man könnte auch sagen: Sofern eine Beobachtung von Normalität und Devianz moralisch eingefordert wird, wird Moral unter ihren eigenen Bedingungen selbst deviant. Die gesellschaftlichen Teilsysteme sind aber wohl eher als amoralisch zu betrachten, da aufgrund der typischen Merkmale funktionaler Differenzierung die Codes der Teilsysteme nicht mit dem Code der Moral kongruent sind, wodurch ein Kontingenzspielraum entsteht, der es erlaubt, in bestimmten Situationen auf Moral zu bestehen oder davon gänzlich abzusehen. Das bedeutet aber auch, dass keines der Funktionssysteme der Gesellschaft durch Moral in das gesamte Gesellschaftssystem eingebunden werden kann. Für eine funktional differenzierte Gesellschaft hat dies die Konsequenz, auf eine moralische Integration zu verzichten, ohne dabei aber die kommunikative Konditionierungspraxis von Achtung und Mißachtung von Personen zu verlieren. Unterzieht man Moral einer zukunfts- und folgenrelationalen Betrachtung, so wird der Verpflichtungsgehalt der Moral eingeschränkt auf Bereiche und Fälle mit Folgenkontrolle, die übrigen Konditionierungen werden dem Rechtssystem und sonstigen Prämissen für erwartbares Verhalten überlassen.

Eine Belastung der Moral mit diesem Folgenproblem bereitet in der weiteren Betrachtung aber Schwierigkeiten, weil eine Moralität der Moraltheorie sich dann nämlich darauf beziehen müsste, welche Folgen es hat, wenn man in der Moral auf die Beurteilung von Folgen besteht. Das kann man kaum einigermaßen vorher sehen. Man kann zwar argumentieren, es sei noch schlimmer, nicht auf Folgen zu verweisen, aber dieses Argument ist nur eine umgekehrte Wiederkehr der Unbegründbarkeit. Es gibt mit einer bloßen Negation der Negation keine durchhaltbare Maxime für den Aufbau einer Moral. Um so mehr spricht für den Ausweg, angesichts dieser Lage der Moral auf eine Moralisierung der Moraltheorie zu verzichten.

Vergleiche dazu:
Niklas Luhmann: Paradigm lost: Über die ethische Reflexion der Moral. 3. Aufl. Frankfurt am Main 1996.
Niklas Luhmann: Soziologie der Moral. In: Niklas Luhmann und Stephan H. Pfürtner (Hg.): Theorietechnik und Moral, Frankfurt am Main, 1978.

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Koch oder Kellner? Paradoxien der modernen Politik

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Nach dem demokratischen Staatsverständnis gehört es zu einem enormen Fortschritt, dass das Lügen im Staate, der politische Betrug statthaft ist. Es ist gar nicht schwer sich vorzustellen warum. Wollte man den politischen Betrug unter Strafe stellen, bekämen wir es mit einer politischen Justiz zu tun; und wohin das führen würde, kann man sich in wenigen Augenblicken ausmalen. Das moderne Staatsverständnis hat es weit gebracht. Nicht mehr wird Gottes Wille als Legitimationsgrundlage genommen, nicht mehr sind es Wahrheiten, die Entscheidungen dirigieren, nicht mehr ist ein Einzelmensch der Souverän. Der Rahmen, innerhalb dessen Meinungen geäußert und Entscheidungen getroffen werden, ist sehr weit gedehnt, da die Souveränitätslegitimierung Verantwortlichkeit dadurch regelt, dass Verwantwortlichkeiten folgenlos zugerechnet werden. Am Beispiel der Nutzung der Atomenergie kann man das sehr deutlich sehen. Wenn es zu einem GAU kommen sollte, wird man niemanden finden, der für den Gesamtschaden geradesteht. Eben dies ermöglicht es Befürtwortern, von der Verwantwortlichkeit der Atomenergie sprechen zu können und den Gegner,n diese zu leugnen. Auch das konkurrente Bemühen von Politikern und Parteien, Verwantwortung im Staat zu übernehmen zeigt, worum es geht – nämlich: dieselbe leugnen zu können, weil man nur auf diese Weise der Gegenpartei ihre Verantwortungslosigkeit vorwerfen kann. Der große Fortschritt besteht darin, dass es auch dem modernen Staatsverständnis nach nirgendwo mehr eine Letztbegründung für Meinungen und Entscheidungen gefunden werden kann. Gerade dadurch verwirklicht sich das demokratische Verständnis. Niemand ist mehr im Besitz einer absoluten Wahrheit. Und das gilt schließlich auch für Irreversibilitäten, die durch Anwendung staatlicher Gewalt entstehen, da auch noch in diesem Fall der Staat die Möglichkeit einräumen muss, für eventuell entstandene Schäden haftbar gemacht zu werden, wie man dies am Beispiel des Bombardements in Kundus sehen kann.

All das hat zur Folge, dass sich moralische Vorstellungen den Beteiligten als Zumutung aufdrängen. Dazu gehört zum Beispiel eine weltoffene, kosmopolitische Gesinnung genauso wie eine nationalkonservative. Dieses Beispiel zeigt die Schwachstelle, die die Wahlkampfberater von Roland Koch seinerzeit genutzt hatten, um einen Wahlkampf erfolgreich zu managen. Denn die Einführung einer doppelten Staatsbürgerschaft als Versuch, beide Gesinnungen rechtsstaatlich zu kodifizieren, wurden genutzt, um eine schlüpfrige Unterschriftenkampagne durchzuführen, weil damit eine ausländerfeindliche Affektstimulierung sehr genau kalkuliert werden konnte, ohne dies durch die eigenen Aussagen der Wahlkämpfer belegen zu können. Man konnte also verantwortlich Verantwortungslosigkeit zulassen. Darüberhinaus konnte durch die Unterschriftenkampagne der Anschein einer pseudo-plebiszitären Gesinnung gezeigt werden, die rechtlich und demokratsich gar keine Entsprechung fand. Die Unterschriftenlisten sind seinerzeit wahrscheinlich nach erfolgtem Einsammlen einfach in den Papierkorb gewandert.

Für die Ausnutzung solcher und ähnlicher Schwachstellen kann man eine lange Reihe von Beispielen nennen, etwa der Skandal um den Verkauf von Datensätzen, die über Steuerbetrüger informierten. Und zu nennen wäre auch die sogenannte Ypsilanti-Falle, die darin bestand, dass sie ein Wahlversprechen brechen musste, um ein anderes einzuhalten, mit dem bekannten Erfolg, dass beide scheiterten.

Die gegenwärtige Finanzkrise zeigt, wie das moderne Staatsverständnis entwickelt ist: In der Küche stehen die Spekulanten und machen sich die Politiker zu Kellnern. Wer das verwerflich finden möchte, äußert nur eine moralische Gesinnung, die wie alle anderen auch die Frage nach der Unzumutbarkeit solcher Moral verstärkt.

Fortsetzung

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