Normal und Seltsam
Wenn man gelernt hat, das Normale und Alltägliche als seltsam und unwahrscheinlich zu betrachten, dann dauert es nicht lange bis die umgekehrte Betrachtungsweise genauso einleuchtet. Etwas, das sonst nur selten und unklar einleuchtet, das man nur verschwommen und vorbehaltlich berücksichtigen möchte, kommt auf einmal als eine Möglichkeit in Betracht, von der man plötzlich nicht mehr ablassen will; gemeint ist die Beobachtung, dass einen das Absonderliche plötzlich mit einer Aufdringlichkeit affiziert, die einen irritiert fragen lässt, warum man das das nicht schon längst so gesehen hat; sich selbst verwundert fragt, wie man es bisher – in diesem neuen Licht betrachtet – nur außer Acht lassen konnte.
Im Kontext von Tabu und Tabubruch kommen solche Einsichten unscheinbar zustande. Das inzwischen ganz normale, ja inflationäre Aufkommen von Diskussionen um den aktuellsten und sensationellsten Tabubruch lässt einem Beobachter die Frage immer wahrscheinlicher werden, dass tatsächlich von großen Geheimnissen und Unverletzlichkeiten die Rede ist, die durch sogenannte Tabubrüche nicht aufgehoben, sondern erzeugt werden. Der kritische Journalist, die engagierte Literatin, der eifrige Wissenschaftler bricht mal wieder mit irgendeinem Tabu! Und man kann an sich selbst bemerken, wie sehr man sich kaum der Aufmerksamkeitsrelevanz solcher Sinnangebote entziehen kann. Man liegt sicher nicht falsch, wenn man vermutet, dass in hochkomplexen Verhältnissen bestimmte Verstärkungsmechanismen entwickelt werden müssen, um der ständig steigenden Unwahrscheinlichkeit von Anschlussfindungen entgegenzuwirken. Es werden Überbietungsroutinen durchlaufen, die durch die Erwartung der Wahrscheinlichkeit von Aufmerksamkeitsdefiziten programmiert werden. Die sich daraus entwickelnden Strukturen erzeugen auf der anderen Seite dann das, was durch sie eigentlich verhindert werden soll, wenn sie sich erfolgreich entfalten: Verlust von Aufmerksamkeit mit der daraus notwendig resultierenden Konsequenz der verstärkten Wiederholung. Zukünftige „System-Empiriker“ werden anfangen zu erforschen, ob man bestimmte Sequenzen solcher Routinen abstecken, wie man ihre Frequentierung messen und wie man ihre Struktureffekte verfolgen kann. Dazu würden sie sich eben dieser Routinen bedienen, also Tabubruch-Skandale eigenständig inszenieren, was nicht gehen wird, ohne ein methodisch halbwegs gesichertes Wissen um eine vorhersehbare Zuverlässigkeit von Anschlussfindungen. Wichtigste Voraussetzung scheint mir aber zu sein, dass sich Ablöseprozese vollzogen haben müssen, die im Ergebnis von Angst- und Hoffnungsaffekten befreien und es vermögen, Tabubruchskandale wie ein Stück Brot zu betrachten, von dem man in Erfahrung gebracht hat, dass man es auch essen kann.