Die Alchimie sozialer Prozesse

Einer Kulturgeschichtsschreibung dürfte es sehr schwer fallen, den Akkumulations- und Integrationsprozess von Selektionsleistungen nachzuzeichnen, die erforderlich waren, um das Verhältnis von Medium und Form einer globalen Geographie gegeneinander zu vertauschen, inklusive einer sich dadurch vollziehenden Verschiebung von ontologischen und semantischen Differenzen. Von der Vorstellung eines begrenzten Raumes als Ergebnis eines Schöpferaktes, eine Vorstellung, die noch bei Christoph Kolumbus die Orientierung und damit die Entwicklung einer Navigationskunst leitete, bis zur der Vorstellung einer modernen Kosmologie, die sich zutraut, aus der mathematischen Struktur des Raumes die Bedingungen der Möglichkeit einer universalen Evolutionsgeschichte herauszulesen ist, so könnte man ironisch interpretieren, so viel Zeit gar nicht vergangen; und trotzdem erzeugt uns die Alchimie sozialer Prozesse, die uns in der Autopoiesis als fortschreitende Rückblicksverweisung entgegen tritt, ein Dickicht aus Differenzen, die gerade, weil sie im Zeitverlauf ihrer Beobachtbarkeit entfaltet werden, durch Minimierung einer funktionalen Variabilität von Strukturen der Wissensproduktion eine Komplexität maximieren, die ratlos macht ob der technischen Verlässlichkeit, mit der man ihr im Alltag begegnet.
Sie funktioniert – obgleich nicht immer – so doch mit einer Verlässlichkeit, die man einem simplen Uhrwerkmechanismus in früheren Zeiten niemals hätte abringen können. Und trotzdem erzeugt sie nicht das ihr doch eigentlich nach den Regeln statistischer Ewartbarkeit zukommende Vertrauen.

Man bedenke etwa, mit welch lässiger Routine wir den Erfahrungsbildungsprozess der Entwicklung einer Navigationskunst am Fahrkartenautomat handhaben. Die Kunst der Raumdurchquerung ist uns längst nicht mehr als ein laufendes Verhältnis von aktueller  und zukünftiger Positionsbestimmung bekannt. Das gilt nicht nur fürs Bahnfahren, schon mit der Erfindung der Individualmobilität war das „Fahren“ nicht mehr der Gefahr technikfremder Bedingungen ausgesetzt. Eine Gefahr, wenn sie überhaupt besteht, besteht nur in der Technik selbst, deren Verlässlichkeit, wie schon gesagt, gegen jede Wahrscheinlichkeit einfach nicht als ungefährlich beobachtbar wird. Was, nebenbei bemerkt, niemanden davon abhält, sich trotzdem ins Auto zu setzen, trotzdem ins Zugabteil zu treten.
Fahren heißt längst nicht mehr, das Ziel zu finden und sich damit der Gefahr des Scheiterns auszuliefern; Fahren heißt, die Zeit zwischen zwei Zielprogrammierungsequenzen zu überbrücken.
Fahren ist langweilig geworden und hat nichts mehr von der Gefahr an sich, welche die Fantasien einstmals anreizte. Die Installation des Navigationsgerätes im Auto tut ihr Übriges um diesen Umformungsprozess von Fahren als Erwartung von Gefahr in die Erwartung von Langweile zu beschließen. Bleibe als letzter Schritt die Automaitisierung des Individualverkehrs, dessen hoffentlich bald einsetzende Entwicklung zeigen wird, dass nur noch eines bleibt: nämlich die Gefahr der Programmierung.

Kulturhistorisch aber kann man erkennen, dass diese Art der Gefährlichkeit latent im Gebrauch von Kompaß und Sextant angelegt ist, auch wenn es dabei ursprünglich nicht um Programmierung, sondern um Messung ging. Damit wäre allerdings nur der Rahmen beschrieben, innerhalb dessen die Formenbildung des Wissens selbst zum Medium umgearbeitet wurde.

 
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