Differentia

Moral und Ethik

Das Schema der Moral wird in sozialen Systemen in unterschiedlichem Ausmaß – in der Wirtschaft selten, in den Massenmedien oft, in Interaktion nach Bedarf – aktualisiert und versucht mit der Zuschreibung von Achtung/Ächtung die Wahrscheinlichkeit der Annahme von Selektionsofferten zu erhöhen. Ist diese funktionale Bestimmung, also Erhöhung der Wahrscheinlichkeit der Annahme von Selektionsofferten, zutreffend und stellt Moral dann eines von zahlreichen funktionalen Äquivalenten dar, welche die funktional differenzierte Gesellschaft nutzt, um Kontingenz zu minimieren und damit Orientierungssicherheit zu gewinnen, ohne dabei an ein bestimmtes Funktionssystem und seinen binären Code gebunden zu sein?

Die Aktualisierung dieses Schemas kann von einem Beobachter 2. Ordnung beobachtet werden, wobei der seine Beobachtung ebenfalls durch das Moralschema strukturieren kann, aber nicht muss.
Das Schema der Moral wird dann auf der Basis differenter Moralen rekursiv eingesetzt. Dabei können eigene Strukturen und Prozesse entstehen wie etwa die links-ökologisch-alternative Szenerie von Eigenheim-Vorstadtsiedlungen, in denen eine eigentümliche Moral herrscht in Absetzung von anderen Moralen.
Hängt es dann von einem Beobachter ab, ab wann man von Ethik spricht oder kann man mit den Mitteln der Systemtheorie eine Differenz zwischen Ethik und Moral formulieren? Manchmal begründet Ethik Moral und manchmal formuliert sie die Bedingungen für die Zuschreibung von Achtung/Ächtung wie die Moral selbst auf. In beiden Fällen tut sie das auf der Basis der gleichen Unterscheidung wie die Moral.
Ist Ethik im zweiten Fall einfach eine generalisierte Moral, und welches sind die Kriterien, mit denen sie von Moral unterschieden werden kann? Kann Generalisierung ein Unterscheidungskriterium darstellen, wenn davon
ausgeht, dass es so etwas wie Moral oder Ethik nicht gibt, sondern erst im Nachtrag durch einen kommunikativen Beobachter als Moral oder Ethik identifiziert wird?
Kann das, was als Reflexionstheorie der Moral konzipiert wird, sinnvoll noch als Ethik bezeichnet werden, wenn diese Ethik weder begründen noch eigene Bedingungen für die Zuschreibung von Achtung/Ächtung formulieren soll, sondern die Leitunterscheidung gut/böse von Moral und Ethik kontingent setzt und auch keine Kriterien dafür formulieren muss, wann die Unterscheidung gut/böse verwendet werden soll und wann nicht?

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Reflektionstheorie: Ethik und Moral

Wie könnte man Moral und Ethik sonst noch unterscheiden?
Moral wäre zum Beispiel eine Form (die Einheit der Unterscheidung von gut und böse), die in der Kommunikation angesteuert werden kann, um die Bedingungen der Möglichkeit für die Achtung oder Ächtung von Personen mitzukommunzieren. Moral wäre in diesem Sinn immer nur Moral-im-Vollzug.
Ethik im klassisch-philosophischen Sinn, wie etwa der Kantsche Imperativ kommuniziert die Bedingungen der Möglichkeit für die Aktualisierung von Moral. Solche Ethik beobachtet immer noch mit der gut/böse-Unterscheidung und vollzieht das re-entry der Unterscheidung in der Regel in der gut-Seite. Luhmann selbst nennt an irgendeiner Stelle als Gegenbeispiel ja die Ethik von de Sade, der das re-entry der Unterscheidung konsequent in die böse-Seite vollzieht. Es scheint so, dass dies für eine Art von Ethik zutrifft, die von einer moralischen Kommunikation zur Akzeptanzsteigerung generiert wurde. Das zu Kants Zeiten revolutionäre an seiner Ethik war das Einziehen einer doppelten Beobachtung in Gestalt eines Prüfungsverfahrens: des kategorischen Imperativs.
1. Bevor Du handelst, beobachte, welche Maxime (Handlungsgrundsatz) dein Handeln leitet.
2. Bevor du nach dieser Maxime handelst, beobachte außerdem, ob Du zugleich, also ohne Selbstwiderspruch wollen kannst, dass diese Maxime allgemeines Gesetz werde.
Hier wird also eine Selbstbeobachtung noch einmal beobachtet. Könnte man von einer Beobachtung zweiter Ordnung und damit von einer Ethik zweiter Ordnung sprechen?
Eine Ethik als Reflexionstheorie der Moral formuliert dann die Bedingungen der Möglichkeit für den Einsatz der gut/böse-Unterscheidung auf dieser Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung. Damit setzt sie die Unterscheidung  – im Gegensatz zur traditionellen Ethik – kontingent, das heisst: sie setzt sie in Differenz zu andern möglichen Unterscheidungen und formuliert keine Präferenz für die eine oder andere Seite der Unterscheidung von gut und böse.

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