Differentia

Monat: Februar, 2010

Soziologische Forschung und Alltagsbeobachtung

Die konventionelle empirische Soziologie ist eine Forschung, die ihren objektiven Gegenstand in der Analyse seiner subjektiven Realität findet. Sie hat gelernt, sich in ihrem Verhältnis zu einer objektiven Realität zu subjektivieren und ihre Forschungsergebnisse als Objektivierungen in ihrem Verhältnis zur Subjektivität der Forscher und Erforschten zu betrachten. Was sie nicht gelernt hat, oder ihr als Lernerfahrung aus den Rückkoppelungseffekten der Forschung nur schwer akzeptabel erscheint, ist, dass sie durch ihre empirischen Datenerhebungs- und Auswertungsverfahren die Differenzen erzeugt, die sie meint an ihrem Gegenstand abzufragen. Damit nicht genug: durch Verbreitung ihrer Forschungsergebnisse diffundieren ihre Differenzen in ihren Gegenstand hinein, besser: sie verschieben sich in ihren Gegenstand hinein und machen sich dort für die Soziologie als soziale Realität bemerkbar, ohne dass sie die Wege der Verbreitung und Verschiebung nachzeichnen könnte.

Die Alchemie des Sozialen wird auch durch die Soziolgie befeuert. Dies gilt gewiss im Langzeitverlauf für makrostrukturelle Prozesse, aber aber auch für kurzeitige Beobachtungsverhältnisse im Augenblick der Fragebogenausfüllung. Erfahrene Soziologen wissen davon. Sie wissen, dass sie stets dem Problem ausgesetzt sind, den Befragten durch ihre Frage die Antwort in den Mund zu legen, von welcher sie sich eigentlich überraschen lassen wollen. Die Methoden der Soziologie haben also das Problem, eine Selbstmanipulation ihrer Methoden in der Weise zu strukturieren, dass eine Fremdmanipulation ausgeschlossen werden kann. Aber damit das auch nur annähernd gelingen kann darf die Soziologie nicht darauf verzichten, sich von ihrem Gegenstand beeindrucken zu lassen. Wie anders könnten sie Hypothesen gewinnen, wenn sie sich nur mit sich selbst beschäftigte?

Das alles sind sehr wichtige Überlegungen, die im Soziologie-Seminaren besprochen werden müssten. Wir verkürzen diese Betrachtungen erheblich und fassen zusammen, dass die konventionelle empirische Soziolgie die ihr aus diesen Verhältnis von Selbst- und Fremdreferenz erwachsenden Irritationen nur lösen kann, indem sie die Bereitschaft zur Elastizität ihrer epistemologischen Problemsituation zeigt; das heißt, das alles so genau und so wichtig nicht zu nehmen, damit sie mit ihrer eigentlichen Forschungsarbeit weiter machen kann: Themen wählen, Fragebögen gestalten, verteilen, auswerten, publizieren und die anschließenden methodologischen Implikationen sehr angestrengt, aber mit Bereitschaft zur Elastizität, entlang einer Subjekt-Objekt-Differenz ein ums andere Mal zu wiederholen. Was auch immer man sonst von dieser Art der Forschung halten will, sie kommt auf diese Weise jedenfalls niemals zu sich selbst ohne zu bemerken, dass sie es immer nur mit sich zu tun hat. Das gilt aber nicht nur für Soziologen. Auch jeder Alltagsbeobachter, der, wenn er auch nicht wissenschaftlich forscht, sich die Welt verständlich macht, betreibt ein vergleichbares Geschäft. Wir könnten vielleicht die ganze Welt verstehen lernen, aber niemals uns selbst, weil uns das, was wir von uns verstehen, als das vorkommt, was die Welt als solche zu sein scheint.

Das aber ist so schlimm nicht. Versteht man dies recht, wäre alles Entscheidende gewonnen, man müsste nur rechzeitig bemerken können, wann es angebracht erscheint, Selbstreferenz- und Fremdreferenz zu vertauschen; das heißt, den Mutwillen aufzubringen sich gegen die eigene Einsicht auf anderes als das zu beziehen, was man meint, mit der Bezugnahme verstanden zu haben; gemeint ist damit der Versuch, sich über sich selbst zu täuschen. Aber leider geht das nicht. Aber auch nicht – wem könnte das nicht gefallen – das Gegenteil.

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Archäisierungsprozesse

Man kann jederzeit die Annahme akzeptieren, dass soziale Systeme nicht an Orte gebunden sind; sie haben damit keine Ausdehnung, die man in Raumbegriffen einer Physik fassen könnte. Dennoch strukturieren sie gleichwohl Räume  – wie anders kämen Physiker oder Geographen zu Raumkonzepten – und machen durch Einschreibung sozialer Differenzen in ihre Umwelt Räume als soziales Phänomen erfahrbar. Auf diese Weise geben sie Anlass zu der Vermutung, soziale Realität könnte räumlich, also durch Umweltunterschiede, beschränkt sein.
Solche Vertauschungsverfahren sind ganz gewöhnliche Vorgänge der sozialen Praxis. Wollte man etwa Flurnamen etymologisch herleiten, wird man immer wieder feststellen, dass Ortsbezeichnungen in Personenbezeichnungen umgeschrieben, welche ihrerseits im Laufe semantischer Verschleifungsprozesse in Ortsbezeichnungen zurück geschrieben wurden, so dass insbesondere dort, wo es sich um Gleichzeitigkeitsprozesse solcher Verschiebungen handelt, Kausalitäten nicht mehr zurückverfolgbar sind, weil man nicht sagen kann, ob Personenadressen oder Ortsadressen ihre Stellen verschoben haben.
Auch wurden Orte oft zum Zweck der Memorierung nach Ereignissen oder Landschaftsmerkmalen bezeichnet, die vielleicht gar nicht dem Zweck der räumlichen Orientierung, sondern der Durchstrukturierung des Raumes zu sakralen Zweck dienten. Man wird solche religiös motivierten Durchmusterungen häufig in der Verbreitung des europäischen Christentums finden. Nicht selten wurden bestimmte Stätten nach dem Ereignis eines Martyriums benannt und mit dem Ablauf von Gedächtnisbildungsprozessen der Name späterer lokaler Personen mit diesem Ort identifiziert, womit zugleich Anlaß zu einer Wiederentdeckung einer Märtyrerstätte geliefert wurde, bei der dann diese Vermischungsprozesse nachträglich nicht mehr differenziert werden konnten.

Daraus ergibt sich das Rätselraten von Archäologen, wie etwa die Frage, ob der Petersdom tatsächlich über dem Petrusgrab gebaut wurde, da man Einschreibungen findet, die darauf schließen lassen. Dass solche Einschreibungen aber selbst schon Ergebnis von voran gegangen Renaissancen sind, die durch Vertauschungen re-dokumentiert wurden, ist archäolgisch nicht nachweisbar, weil der Prozess der Archäisierung nirgendwo prä-dokumentiert ist. Soziale Prozesse protokollieren sich nicht, oder besser: alles, was man als Protokolle sozialer Prozesse nehmen kann, entsteht durch kontinuierliche Weiterprotokollierung von Protokollierung, was letztlich heißt, dass soziale Prozesse gar nicht nachweisbar sind.

Doch auch dann, wenn man solche Überlegungen akzeptieren möchte, kommt man nicht daran vorbei, sich Gedanken über eine Chorologie von Systemen zu machen, weil ja solche Vertauschungsprozesse nicht vermieden werden können und deshalb erklärungsbedürftig sind. In diesem Zusammenhang sei auf den wichtigen Umstand hingewiesen, dass man es, wo Systeme eine sozialtheoretische Relevanz erhalten, es niemals eigentlich mit solchen zu tun hat, sondern mit einer Differenz zu ihrer Umwelt, die sie in sich sich selbst wiederholen. Wir haben es deshalb nicht mit einer Theorie sozialer Systeme zu tun, sondern mit einer Differenz von System und Umwelt oder besser: eine Differenz von System und Umweltsystem als Systemumwelt der Umwelt.

In diesem Zusammenhang wollen wir auf unseren Fahrkartenautomaten zurück kommen, könnte man ihn doch als paradigmatisches Emblem für die oben angesprochenen Archäisierungsprozesse nehmen. Wollten wir uns eine Hochgeschwindigkeitsarchäologie denken, die schon kurz nachdem etwas in Vergessenheit geraten ist sich genau daran erinnert, dass etwas dem Gedächtnis übergeben wurde, dann wird sie kaum bemerken können, dass sie im selben Augenblick keineswegs das wieder findet, was sie meint, das verloren gegangen sei.
Ist alle soziale Erkenntnisbildung damit nichts anderes als Spontanarchäisierung ihrer Gegenwart?

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